Der lesende Widerstand: LOLITA LESEN IN TEHERAN von Eran Riklis ab 20.11.2025 im Kino

LOLITA LESEN IN TEHERAN: Sanaz (Zar Amir), Azar Nafisi (Golshifteh Farhani), Nassrin (Mina Kavani), Mahshid (Bahar Beihaghi), Manna (Raha Rahbari), Azin (Lara Wolf), Yassi (Isabella Nefar) (v. l. u. n. r. o.) (© Eitan Riklis)

Meine frühesten Kindheitserinnerungen an die Existenz eines Landes namens Iran stammen, ich weiß nicht mehr genau, ich muss so sechs oder sieben gewesen sein, vielleicht 1977 oder 1978. Verwandte von uns reisten damals mit einem grünen VW-Bus durch das Land. Wir bekamen die Fotos zu sehen, ich glaube es gab, wie damals üblich, einen Diaabend. Ich weiß keine Details mehr, aber ich glaube für das reisende Paar war das ein großes Abenteuer, und auch mir kam es so vor. Ich glaube meine ersten Karl May-Bücher habe ich damals schon gelesen gehabt, ich fing bereits im Kindergarten damit an, Bücher zu lesen. Jedenfalls waren es wohl manche der Karl May-Bücher, an die ich mich bei dieser Diashow am ehesten erinnert gefühlt habe. Dass Karl May gar nicht so arg herumgekommen war, wie es seine Bücher den Anschein erweckten, erfuhr ich erst später. Die damals aktuelle Weltgeschichte erlebte ich hingegen aus der allabendlichen Tagesschau, die ich mit meinen Eltern ansah, vieles verstand ich noch nicht, zu den Bildern, die sich mir aber am meisten eingeprägt hatten, gehörten einerseits die Fahndungsplakate mit den RAF-Terroristen und andererseits dieser langbärtige Mann, der, so hieß es, Revolutionsführer war und Ajatollah Chomeini genannt wurde. Einordnen konnte ich das noch nicht so recht, auch nicht genau, wer denn eigentlich dieser Schah von Persien war. Am meisten blieben mir dessen Bilder gemeinsam mit seiner Frau in Erinnerung, die sah ich glaube ich am ehesten in der Zeitschrift „Bunte“, die meine Mutter wöchentlich las.

LOLITA LESEN IN TEHERAN: Azar Nafisi (Golshifteh Farhani) (© Marie Gioanni)

Vladimir Nabokovs Roman „Lolita“, auf den Eran Riklis‘ Film im Titel Bezug nimmt (es handelt sich übrigens um die Verfilmung des gleichnamigen Buchs von Azar Nafisi), las ich naturgemäß erst viele Jahre später, ich weiß gar nicht mehr, wann das genau war. Und ich glaube das Buch hinterließ ich auch irgendwie verwirrt und verstört, genau kann ich das gar nicht formulieren. Später hatte ich es noch einmal gelesen, der Eindruck hat sich dadurch glaube ich nicht verändert. Aber noch einmal zurück zu Azar Nafisi, deren Buch im englischen Original „Reading Lolita in Tehran“ heißt. Nafisi ist in Teheran geboren – und zwar – what? – Wikipedia sagt „1947 oder 1955″… „Lolita lesen“ ist bereits 2003 erschienen, die Autorin verarbeitet im Roman Autobiographisches. Seit 1997 lebt sie mit ihrer Familie in den USA und hat eine Professur in Washington, D.C. inne.

 LOLITA LESEN IN TEHERAN: Die Studierenden protestieren gegen die zunehmenden Repressionen. (© Marie Gioanni)

Nicht uninteressant ist es, dass dieser Stoff von Eran Riklis verfilmt wurde, der in Jerusalem geboren und wurde und schon in Kindheit und Jugend einiges herumkam: Er wuchs in Montreal, New York, New Haven, Rio de Janeiro und Beer Shebaauf, sagt er. Später studierte er Film, in Tel Aviv und in England. Zu seinen filmischen Vorbildern schreibt er: „Randle McMurphy (EINER FLOG ÜBER DAS KUCKUCKSNEST) war immer mein moralischer Kompass, ergänzt durch Jean Renoir, Kurosawa, Antonioni, Tarkovsky und viele andere großartige Menschen. Mein erster Film – ON A CLEAR DAY YOU CAN SEE DAMASCUS – war ein Auftakt, gefolgt von IN DER SCHUSSLINIE (Venedig 1991 und Berlin 1992), mit dem ich meinen Versuch, etwas Sinnvolles zu sagen, einen Schritt weiterführte.“

Über seine Arbeit für „Lolita lesen in Teheran“ sowie über seinen privaten Hintergrund und seinen Arbeitsethos schreibt er: „Die Covid-Jahre verbrachte ich mit der Entwicklung der Serie ‚The Abduction of Yossele Schumacher‘ und der Vorbereitung von LOLITA LESEN IN TEHERAN – eine Aufgabe, die Engagement, Leidenschaft und eine starke und inspirierende Vision erforderte. Ich bin mit Dina (ebenfalls Filmregisseurin) verheiratet und stolzer Vater von Tammy (engagierte Journalistin) und Yonatan (Jazzpianist und Filmkomponist). Ich glaube an Ehrlichkeit, Wahrheit, Respekt, ich glaube an die Liebe. Ich hoffe, dass meine Filme dies den Menschen auf der ganzen Welt vermitteln und dies so lange wie möglich tun werden.“

LOLITA LESEN IN TEHERAN: Mahshid (Bahar Beihaghi) (links), Nassrin (Mina Kavani) (zweite von rechts) und Mahtab (Catayune Ahmadi) (rechts) (© Maria Gioanni)

Aber nun zum Film: Kurz nach der Islamischen Revolution, 1979. Azar Nafisi ist Literaturprofessorin, auf dem Weg aus dem Exil zurück in den Iran. Hoffnungsvoll begibt sie sich zurück in ihr Geburtsland, doch bereits bei der Einreise gibt es Schwierigkeiten: Lippenstift, Bücher, Nabokovs Lolita. Der Zollkontrolle fällt sie damit bereits negativ auf. Aber zunächst hat sie Glück, wahrscheinlich ist der Zollbeamte kein Literaturkenner. Der Film ist in Kapitel aufgeteilt, die nach Büchern benannt sind, nun springen wir ins Jahr 1980: „The Great Gatsby“. Azar arbeitet am Institut für Literaturwissenschaften als Professorin, aber es gibt bereits Kollegen und Studenten, die mit ihrer westlichen Literaturauswahl Probleme haben. Könnte man nicht moralisch passendere Autoren auf die Listen aufnehmen, wird gefragt. Aber immerhin: Azar hat die Chance, diese Themen mit ihren Studentinnen und Studenten offen zu diskutieren. Zumindest zunächst. Sie nimmt das sogar in ihren Literaturunterricht auf: Man spielt eine Gerichtsverhandlung durch, Angeklagter ist der moralisch zweifelhafte Gatsby, Azar übernimmt seine Rolle. Ihm fehle die Tugendhaftigkeit, vermelden seine Gegner, „was du möchtest oder nicht möchtest ist vollkommen irrelevant“, bekommt eine der Studentinnen von einem der Befürworter des islamischen Regimes bereits zu hören. „Dieses Buch muss verboten werden“, lautet sein Resümee. Der Phase der relativen Freiheit nach der islamischen Revolution droht nun ein baldiges Ende. Den Demonstrationen der Studentinnen droht ein baldiges gewaltvolles Ende, es kommt zu Verhaftungen. Azar entkommt noch einmal den Repressionen, aber bald wird für alle Mädchen und Frauen ab 9 Jahren die Hijabpflicht eingeführt. Sie versucht noch zu rebellieren, betritt mit offenen Haaren das Unigebäude, aber ihr rebellisches Verhalten wird zu nichts führen. „Die Hure Nafisi muss hinausgeworfen werden“, steht auf einem Zettel, den sie findet.

Ihr Mann beschwichtigt sie: „Wir gehen jetzt schlafen und morgen sehen wir weiter“, meint er. Aber wir ahnen schon: Morgen wird sich nichts ändern. Wir springen ins zweite Kapitel, „Lolita“ betitelt, wir sind im Jahr 1995. Inzwischen veranstaltet Azar mutige, heimliche Treffen von Frauen, die über Literatur sprechen. Die Treffen finden in ihrer Wohnung statt, die Kinder und der Ehemann werden inzwischen ausquartiert. Und so beschäftigen sich Frauen mit dem, was ihnen eigentlich verboten ist: Dem Lesen und dem Sprechen über Bücher wie „Lolita“. Die Repressionen und die Unterdrückungen nehmen derweil zu, Azars Literaturzirkel ist der einzige Ort, an dem die Frauen ein kleines bisschen Freiheit genießen und sich über Literatur – aber auch über ihre eigenen Probleme – und über die Repressionen der Sittenpolizei – austauschen können. Es ist für sie ein Akt der Selbstermächtigung. Die jungen Frauen haben die Freiheit selbst nie erlebt, aber Azar träumt vom glücklichen Leben in der Vergangenheit.

Doch bald stellt sich auch für Azar die Frage: Wird sie möglicherweise aufgeben? Wird sie es riskieren, sich mit ihrem Literaturzirkel weiter in Gefahr zu begeben? Oder wird auch sie, wie schon andere, ins Ausland fliehen?

Eran Riklis sagt über seinen Film: „In all meinen Filmen versuche ich, die Herzen und Gedanken von Menschen in Momenten extremen Drucks, in Momenten der Entscheidungsfindung, in Krisenmomenten, in Momenten der Inspiration zu erforschen – allesamt im Rahmen sozialer und politischer Wendepunkte. Persönliche Momente, die wir alle erkennen und schätzen können und mit denen wir uns hoffentlich identifizieren können, vermischen sich mit lokalen, regionalen und globalen Ereignissen, an die sich die Menschen erinnern. Und so folgte ich einer jungen Braut, die in DIE SYRISCHE BRAUT zwischen Grenzen hin- und hergerissen ist; einer Witwe, die in LEMON TREE ihre Bäume schützt; einem jungen Palästinenser, der in MEIN HERZ TANZT seine Identität hinterfragt; einem Mann, der in DIE REISE DES PERSONALMANAGERS nach seiner verlorenen Seele sucht; zwei geschädigten Frauen, die in AUS NÄCHSTER DISTANZ in einem sicheren Haus gefangen sind; zwei Männern, die in SPIDER IN THE WEB nach Erlösung, Wiedergutmachung und Anerkennung suchen. Azar Nafisis Buch ‚Lolita lesen in Teheran‘ mit seiner Darstellung sowohl menschlicher Beziehungen als auch politischer und globaler Themen hat mich emotional tief bewegt. Ich war mir der Komplexität bewusst, eine so intime Geschichte über Frauen im Iran zu erzählen, und doch wusste ich, dass es eine wunderbare, emotionale Herausforderung ist, die auf einer universellen Sichtweise des menschlichen Kampfes basiert. Immer und überall. Der Film ist eine Achterbahnfahrt durch einen Mikrokosmos aus Angst und Furcht, aber vor allem aus Hoffnung und Liebe, und beleuchtet die Suche nach Sicherheit inmitten der Unsicherheit. Die Frauen in unserer Geschichte kämpfen gegen die Einsamkeit, während sie sich Prioritäten, Entscheidungen und Konsequenzen stellen müssen, die auf jeder Ebene entscheidend sind. Es ist eine Geschichte über Intimität, Freundschaft und emotionale Bindungen, die die Weltpolitik und Fragen der Loyalität und des Verrats widerspiegelt. Als Geschichtenerzähler bewegen sich Filmemacher immer auf einem schmalen Grat zwischen Wahrheit und Täuschung, zwischen Leben und Tod. Als Israeli oder Iraner ist man nie weit entfernt von Geschichten, die einst den Mut und das Heldentum ihrer Protagonisten verherrlichten, heute jedoch täglich mit Zweifeln und Skepsis hinterfragt werden. Man sieht die Risse in der Mauer. Man sieht die Tristesse in den müden, hohlen Augen von Männern und Frauen, die ihr Leben für ihr Volk und ihre Nation gegeben haben – nur um später im Regen stehen gelassen zu werden oder Schlimmeres, es sei denn, sie fanden irgendwie die Kraft, sich zu wehren und weigerten sich, ihre Integrität und ihre Hoffnung auf Veränderung aufzugeben.“

„Lolita lesen in Teheran“ ist ein über weite Strecken starker, berührender Film. Insbesondere das Frauenensemble ist hervirzuheben. Die Hauptrolle in spielt die Schauspielerin Golshifteh Farahani. Sie wurde 1983 in Teheran geboren, schon früh begann sie mit dem Schauspiel: Mit 14 übernahm sie die erste Hauptrolle, und zwar in Dariush Mehrjuis Film THE PEAR TREE übernahm. Zu ihren weiteren Filmen gehörten HALF MOON (2006) von Bahman Ghobadi und MIM MESLE MADAR von Rasool Mollagholi Poor. Danach begann ihre internationale Karriere, 2008 dreht sie mit Ridley Scott für DER MANN, DER NIEMALS LIEBTE. Noch einen Film drehte sie im Iran, ALLES ÜBER ELLY von Asghar Farhadi, der bei der Berlinale den Silbernen Bären gewann, dann musste sie ins Exil. Sie drehte daraufhin mehrere französische Filme, zum Beispiel WENN DU STIRBST, BRING ICH DICH UM und HUHN MIT PFLAUMEN. Im Jahr 2017 spielte sie sogar in einer PIRATES OF THE CARIBBEAN-Episode. Auch mit Eran Riklis hat sie bereits gedreht, in dessen AUS NÄCHSTER DISTANZ aus dem Jahr 2017. Es ist insbesondere die Leistung von Golshifteh Farahani, dass die Hauptfigur immer glaubwürdig ist.

Eine besondere Erwähnung verdient aber auch die Bildgestaltung, Kamerafrau war die erfahrene französische Kamerafrau Hélène Louvart, die schon bei unzähligen bekannten Filmen Regie geführt hat, etwa bei Wim Wenders‘ „Pina“, gemeinsam mit Jörg Widmer, aber auch bei gleich mehreren Filmen von Alice Rohrwacher, zuletzt 2018 bei „Glücklich wie Lazzaro“, bei Maggie Gyllenhaals „Frau im Dunkeln“, bei Karim Aïnouz‘ „Motel Destino“, bei Marianne Elliotts „Der Salzpfad“ und zuletzt in Carla Simons „Romeria“. Auch in „Lolita lesen in Teheran“ schafft Louvart einprägsame Bilder.

Eran Riklis gelingt es, die Emotionen der Hauptfiguren mit beeindruckenden Bildern zu erzeugen, wir erleben die Alpträume, die Frustration, die Verzweiflung, das Gefühl des Eingesperrtseins, aber auch die Angst und die Sehnsucht nach Ruhe bei den Frauen. Die Geschichte der Selbstermächtigung ist der wirklich starke Part dieses Films. Dennoch krankt in meinen Augen die Geschichte bisweilen an dem Problem, das viele Biopics haben, insbesondere wenn es sich um Verfilmungen von Biografien oder Autobiografien handelt: Mir ist das zu viel Lebenszeit in 120 Minuten gepackt, lange Zeitsprünge sind notwendig, mir geht da einiges an zeitlicher Geschlossenheit verloren. Die Kunst des Romans oder der Biografie besteht oft darin, lange Zeiträume spannend zu erzählen, aber ich finde, dass große Zeiträume in Filmen oft ein un-filmisches Mittel sind. Ich will das aber gar nicht zu hoch hängen, trotz allem ist „Lolita lesen in Teheran“ eine starke Geschichte, die einem insbesondere wegen der weiblichen Hauptfiguren in Erinnerung bleibt.

Zum Schluss möchte ich noch einmal den Regisseur zu Wort kommen lassen: „Dies ist mein 14. Spielfilm, und ich bin immer noch genauso aufgeregt und emotional wie bei meinem ersten Film. Ich denke, das ist ein gutes Zeichen. Und ich glaube, dass dieser Film das Potenzial hat, einerseits ein großes weibliches Publikum anzusprechen und andererseits auch das männliche Publikum zu begeistern. Dieser Film ist, wie das Buch, für ein globales Publikum gedacht und trifft in der heutigen unruhigen Welt überall viele Themen. (…) Für mich handelt dieser Film nicht nur vom Iran. Er behandelt leider den Zustand der Dinge – und das, was in vielen Ländern und Regionen der Welt noch bevorsteht. Er handelt von meinem eigenen Land, Israel. Er handelt vom Nahen Osten. Er handelt von so vielen Orten in Europa. Und er handelt von den Vereinigten Staaten. Tatsächlich handelt er also von der Welt, in der wir heute leben. Ich blicke auf unser Publikum mit vielen Erwartungen und Zuversicht, gemischt mit der üblichen Nervosität, die wir Filmemacher empfinden, wenn wir unser Baby auf eigenen Beinen in die Welt hinauslassen.“

Originaltitel: Reading Lolita in Tehran
Italien, Israel 2025, 108 min
Genre: Drama, Literaturverfilmung
Regie: Eran Riklis
Drehbuch: Marjorie David, basierend auf dem Roman von Azar Nafisi
Kamera: Hélène Louvart
Schnitt: Arik Lahav-Leibovich
Musik: Jonathan Riklis
Produktion: Marica Stocchi, Gianluca Curti, Moshe Edery, Santo Versace, Michael Sharfstein und Eran Riklis
Mit: Golshifteh Farahani, Zar Amir Ebrahimi, Mina Kavani, Reza Diako, Arash Marandi, Catayoune Ahmadi, Lara Wolf, Sina Parvaneh uvw.
FSK: 12
Kinostart: 20.11.2025

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