
„Der Mantel der Geschichte weht zugunsten derjenigen, die genug Puste haben, die Windrichtung zu bestimmen“, lautet das Christa Wolf-Zitat, das Gerd Kroskes Dokumentarfilm „Stolz & Eigensinn“ voransteht. Um die ehemaligen Industriearbeiterinnen der DDR-Großbetriebe aus dem Bereich Chemie, Leder und Bergbau geht es Gerd Kroske. Es sind Frauen, die damals gebraucht wurden in der DDR, um die Industrie am Laufen zu halten. Hausfrau zu sein war verpönt. Nach einer kurzen Pause nach der Geburt der Kinder ging man wieder arbeiten, die kleinen Kinder kamen in die Krippe. Die Frauen hatten sich dadurch aber auch eine Unabhängigkeit erarbeitet, während im Westen etwa in der Fernsehwerbung das Bilder der Hausfrau hochgehalten wurde, die ihrem von der Arbeit nach Hause kehrenden Ehemann das Abendessen bereitet, den besten Kaffee zur Verfügung stellt, die Wäsche gewaschen hat uns selbstverständlich die Kinder erzogen.
Doch schnell nach der Wende kam es zu einer großen Entlassungswelle der Großbetriebe – und die traf zuallererst die Frauen. Plötzlich standen die Frauen in einer beruflichen Konkurrenzsituation zu den Männern, plötzlich sollten nur noch die Männer die Arbeit machen. Die Selbständigkeit war schlagartig zunichte gemacht. Kroske zeigt alte U-matic-Bänder des einstigen Leipziger Piratensenders Kanal X aus der Zeit nach dem Mauerfall und vor der Wiedervereinigung, auf denen die Interviews mit den Arbeitern und Arbeiterinnen der damaligen Zeit erhalten geblieben sind, ein beeindruckender Archivschatz. Der Sender kam damals weitgehend ungeschoren davon, die DDR-Gesetzgebung hatte für das illegale Betreiben eines TV-Senders gar nicht die passenden Paragrafen.

Und so sucht Kroske die Arbeiterinnen jener Zeit heute wieder auf, filmt sie, interviewt sie, stellt die Aufnahmen von heute denen von damals gegenüber. Und so erzählt eine Frau, die mit 16 ihre Ausbildung zur Bergarbeiterin im Braunkohletagebau begonnen hatte. Ein rauer Ton habe da geherrscht für die Frauen in diesem Männerberuf. Bis sie sich durchsetzen konnte, hatte Jahre gedauert.
In der Schuhfabrik hingegen waren vor allem Frauen tätig. Es gab Dämpfe und Kleber, den man einatmete. Die Winterschuhe wurden im Sommer hergestellt. Bis 1992 war die Arbeiterin dort beschäftigt. Kinderschuhe aus der damaligen Zeit hatte sie sich aufgehoben, die sind bis heute nicht kaputt. Die Frauen klebten die Schuhe, getackert wurde aber an Maschinen, die von Männern bedient wurden: „Die Männer wollten doch auch etwas zu tun haben“, sagt sie, aber das Verhältnis zu den Männern, sagt sie, sei gut gewesen.
Eine andere Arbeiterin war Maschinistin für Anlagen und Geräte. Auch in ihrer VEB waren die Frauen in der Minderheit. Die Arbeit mit den Männern sei aber wunderbar gewesen. Ihr eigener Mann war ihr Vorgesetzter. Sie war ohne ihre Eltern aufgewachsen, der Vater starb im Krieg, die Mutter an Blinddarm ein Jahr nach ihrer Geburt. „Es war ein Scheiß Leben“, sagt sie. Die Ehe war dann schöner, die Schwiegermutter gut: „Da ging das Leben erst richtig los“. Aber sie sagt auch: „Ich hab mich immer untergeordnet.“

Die alten Aufnahmen waren in der Tat ein Zufallsfund. „Ich saß im Herbst 2023 im Archiv der Bürgerbewegung e.V. Leipzig an Recherchen für einen anderen Stoff, als mich ein Archivar ansprach und mir erzählte, dass er gerade ein RiesenKonvolut an Sendebändern des in Wendezeiten aktiven Piratensender KANAL X digitalisiert“, erzählt der Regisseur Gerd Kroske. „Es stellte sich dann heraus, dass auch mein Film ‚Kehraus‘ aus dem Frühjahr 1990 dort über den Sender ging. Nun wusste der Archivar nicht, wie mit der Rechtesituation umzugehen sei, und er wollte meinen Film von den Unikaten löschen. Ich war aber derart begeistert von dieser Piratenaktion, dass ich ihm die Rechtelage erklärte und vorschlug, er solle das einfach so vermerken. Er war wohl sehr erleichtert über meine Reaktion. Kurz danach stellte er mir Material aus dem Jahr 1994 vor: Rohmaterial von Interviews mit Industriearbeiterinnen. Diese waren für einen Film mit dem Titel ‚Früher waren wir gut genug‘ von Norbert Meissner und Bärbel Minx im Jahr 1994 geführt worden. Die Souveränität, mit der sich die Frauen aus der Industrie in Erwartung der zweiten großen Entlassungswellen, die damals im Osten durchs Land fegten, artikulierten, beeindruckte mich sehr. So entstand die Idee, diese Frauen wiederzufinden, um mit ihnen über die unerzählte Lücke zu sprechen.“
Und der Vergleich der alten Aufnahmen mit den heutigen Interviews übt in der Tat eine tiefe Faszination auf ich aus. Überhaupt sind Bilder und Erzählungen von Arbeit oft zutiefst faszinierend, es gibt ja auch im Spielfilm ein regelrechtes Genre, das von Arbeit erzählt. „Mich hat überrascht, wie präzise die Erinnerungen waren“, erzählt Kroske. „Es bedurfte oft nur ein Anstupsen, und alles war wieder da. Geholfen hat dabei natürlich die Verwendung des alten Materials. Zuweilen kommentieren sich die Frauen beim Schauen der Aufnahmen von früher selbst. Über diese Momente habe ich mich sehr gefreut. Ich konnte mir ja nicht sicher sein, dass meine filmische Idee tatsächlich aufgehen würde. Ist sie aber zum Glück.“
In der Tat. „Stolz & Eigensinn“ ist für mich einer der schönsten und beeindruckendsten Dokumentarfilme dieses Jahres, gerade durch seine unspektakuläre Erzählweise. Und er ist ein wertvolles, bleibendes historisches Dokument.

GERD KROSKE (Regie & Buch) wurde geboren in Dessau/DDR. Lehre als Betonwerker. Telegramm-bote. Jugendkulturarbeit. Studium der Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und Regie an der HFF „Konrad Wolf“, Potsdam-Babelsberg. Arbeit als Autor und Dramaturg im DEFA-Dokumentarfilmstudio (1987-1991). Zusammenarbeit mit den Regisseuren Jürgen Böttcher, Helke Misselwitz und Volker Koepp. Eigene Regiearbeiten ab Herbst 1989. Freischaffender Autor und Regisseur seit 1991. Verschiedene Jury- & Lehrtätigkeiten für Film. Produzent bei realistfilm seit 1996. (Pressetext)
Filmografie:
- 2025 „Stolz & Eigensinn“
- 2018 „SPK Komplex“
- 2015 „Grenzpunkt Beton“
- 2014 „Striche ziehen“
- 2010/12 „Heino Jaeger – look before you kuck“
- 2009 „Schranken“
- 2005/7 „Wollis Paradies“
- 2006 „Die Stundeneiche“
- 2006 „Kehraus: wieder“
- 2003/4 „Autobahn Ost“
- 1999/00 „Der Boxprinz“
- 1996/97 „Kehrein, Kehraus“
- 1996/97 „Galera“
- 1993/94 „Vokzal – Bahnhof Brest“
- 1993 „Kurzschluss“
- 1991 „Kurt oder Du sollst nicht lachen“
- 1991 „Kluge Frauen, helle Mädchen“
- 1990 „Kehraus“
- 1990 „La Villette“
- 1989 „Leipzig im Herbst“