
Was ein beeindruckendes Filmstill ist diesem Film beigefügt, LE TEMPS aka WAITING FOR THE STORMS, des kanadischen Regisseurs François Delisle, das Bild ist oben zu sehen. Eine junge blonde Frau mit Kopftuch, den sie auch als Mundschutz verwendet, die Stirn gerunzelt, die Haare schauen unter dem Tuch hervor, leuchtende Punkte, Glut? Schwarze Hände – ist es Schmutz oder sind es Verbrennungen? „Über verschiedene Zeitachsen und Orte hinweg verflechten sich die Schicksale von vier Charakteren, die darum kämpfen, Beziehungen und Sinn in einer durch den Klimawandel veränderten Welt zu finden“, sagt der knappe Festivaltext der Hofer Filmtage. Es wird um die Klimakatastrophe gehen. Es wird um die menschliche Widerstandsfähigkeit angesichts der Katastrophe gehen. Die vier Protagonisten sind Marie, eine junge Mutter, die ihr Kind mit einer hoffnungslosen Zukunft konfrontieren wird. Terence ist ein Flüchtling, ein Klimaflüchtling. McKenzie ist ein revoltierender Vertreter der Staatssicherheit. Kira ist eine desertierte Soldatin, die sich einem Nomadenstamm anschließen will; das sind die vier Charaktere, um die sich LE TEMPS dreht.
1979. Maurice Guernier, Mitglied des Club of Rome erläutert in einem Fernsehinterview, was seit der Veröffentlichung des Berichts des Club of Rome im Jahr 1972, „Die Grenzen des Wachstums“, geschehen ist. Wachstum, Konsum, Umweltverschmutzung. Die Probleme der Nahrungskette, des Bevölkerungswachstums, der Energieversorgung.
2021. „Ich erzählte ihm meine Lebensgeschichte. Meine Bio“, sagt eine weibliche Stimme aus dem Off. Sie beginnt zu erzählen, dass sie während der Coronapandemie schwanger wurde, dass sie begann, Ängste zu entwickeln. Untermalt wird die Erzählung von einer Diashow von Stadtfotos, von street photography, aufgenommen während der Pandemie, man erkannt das an den Masken, die die Menschen tragen. Die Bildererzählung wechseln ins Persönliche: die Frau mit ihrem Baby.
Dann der Sprung ins Jahr 2042. Immer noch wird der visuelle Teil der Geschichte ausschließlich mit Stills erzählt, keine bewegten Bilder. Ein mit Menschen beladener Pickuptruck mitten in der Steppe. Migranten? Flüchtlinge? Eine zerfledderte USA-Flagge. Der Wagen hält an, die Menschen steigen ab, einer ist ohnmächtig? Tot?
2088. Ein verletzter Mann auf einem Floß. Ein Starenschwarm. Dann Fotos von zerstörten Großstädten. Ruinen, Brände, Überschwemmungen. Der Icherzähler war einst ein Kriegsberichterstatter. Durch seinen Beruf durfte er sich frei bewegen, auch in abgesperrten Zonen. Er konnte das Elend sehen. Verbotene Fotos machen. „The world collapsed in silence“, sagt er schließlich. Die Klimakatastrophe ist eingetreten.
Und so erzählt LE TEMPS auf eine stilistisch höchst ungewöhnliche Weise, eben als Bildererzählung, eine postapokalyptische Geschichte. Das ist einerseits durchaus anstrengend, weil man ständig Bewegung erwartet, aber immer nur Stills bekommt und viele Zusammenhänge nur mit der Tonspur erschließt. Aber es ist dennoch beeindruckend, fesselnd, erschreckend und poetisch.
Zwei handliche Kameras zeigt der Regisseur im Intro vor, das den Filmen des Festivals immer vorangestellt wird, eine Leica und eine Spiegelreflexkamera. „Jetzt können Sie sich also vorstellen, dass der Film vielleicht etwas ungewöhnlich ist. Aber trotz seiner Form hoffe ich, dass er Sie berührt und eine Weile bei Ihnen bleibt.“ Es gibt zu den meisten Filmen der Hofer Filmtage auch ein kurzes Q+A mit Fragen an die Filmemacher. Was sein erster Film gewesen sei, wird Delisle gefragt: Disney’s Schneewittchen sagt er, es hätte ihn möglicherweise traumatisiert. Zu seinen Einflüssen gehören Chris Markers La jetee, sagt er. Wie persönlich sein Film sei, wird Delisle als nächstes gefragt. Alle seine Filme seien persönlich, naja die Frage ist vielleicht nicht so riesig sinnreich.
Françoise Delisle ist 1967 in Montreal, Kanada geboren. Sein erster Spielfilm heißt RUTH, stammt aus dem Jahr 1994, im Jahr 2003 gründete Delisle seine Produktionsfirma Films 53/12, auch seine weiteren Spielfilme liefen erfolgreich auf diversen Festivals, zuletzt CASH NEXUS aus dem Jahr 2019. LE TEMPS wird mir in guter Erinnerung bleiben, Zeit mich mit Delisles früheren Filmen zu beschäftigen.
1989 WHO CARES ABOUT THE SEA! Kurzfilm
1990 KNIFE AND GUN, Kurzfilm
1991 BEEBE-PLAIN, Kurzfilm
1994 RUTH, Spielfilm
2004 HAPPINESS IS A SAD SONG, Spielfilm
2007 YOU, Spielfilm
2010 TWICE A WOMAN, Spielfilm
2013 THE METEOR, Spielfilm
2015 CHORUS, Spielfilm
2019 CASH NEXUS, Spielfilm
2020 CHSLD, Kurzdokumentarfilm
2025 WAITING FOR THE STORMs, Spielfilm HOF 2025
https://stream.hofer-filmtage.com/movies/le-temps
Regisseur: François Delisle
Schauspieler: Emmanuelle Lussier-Martinez, Mylène Mackay, Victoria Diamond, Dominick Rustam, Robert Naylor, Laurent Lucas, Julian Casey, Rose-Marie Perreault, Masha Bashmakova
2025 Länge 94 Minuten, Spielfilm
Produktion: François Delisle