
„INTERSECTION ist ein Dokumentarfilm, begleitet von einem interaktiven Mobile Game, das Diskriminierungsstrukturen erfahrbar macht – besonders für Menschen, die selbst keine Diskriminierung erfahren,“ sagt der Pressetext zu diesem Film, der auf dem DOK Leipzig Festival zu sehen ist. „Das Spiel funktioniert so: Du läufst durch eine Stadt mit einer zufällig ausgewählten Figur. Je nach Form, Farbe oder Muster begegnet dir die Welt unterschiedlich: Du hast Privilegien oder wirst benachteiligt. Du
merkst schnell: Dieses Spiel ist nicht fair.“ Jetzt auch noch Dokus über Apps, war mein erster Gedanke? Aber gut, klingt als Experiment erstmal spannend, und da Diskriminierung bei einigen Menschen in meinem Umfeld möglicherweise eine Rolle spielt, sollte ich, sagte ich mir, mich vielleicht zumindest auf diesen Dokumentarfilm einlassen.
Punkte muss man sammeln, mit zufällig ausgewählten Figuren, sprich mit zufällig ausgewählten Benachteiligungen bzw. Diskriminierungen. Durch mehrere Levels muss man durch. Und dann gibt’s noch den Highscoremodus, in dem man sich mit anderen Mitspielern misst. Hyper Casual Serious Mobile Game, heißt das Spiel, erklärt die Regisseurin Karoline Rößler in einem Interview. Das Spiel zeigt, was es heißt, privilegiert zu sein und was es bedeutet, wenn man es nicht ist. Das Spiel ist in den entsprechenden Appshops frei herunterladbar. „Wenn man das Spiel eine Zeitlang spielt, wird man wahrscheinlich frustriert sein,“ erklärt Karoline Rößler. „Es geht erst einmal darum, dieses Frustrationsgefühl auszulösen.“ Um mehr Empathie gehe es. Sie sagt, dass der Film dabei helfen kann, Betroffene zu bestärken – durchaus im Bewusstsein, dass die Zielgruppe eine Bubble sei. Und wer außerhalb dieser Bubble sei, würde möglicherweise auch mit diesem Film kaum erreicht werden.
Sechs Protagonisten und Protagonistinnen spielen das im Film exemplarisch durch und führen ihre Erlebnisse vor und berichten davon:
Hatice Akyün, die Schriftstellerin und Journalistin; Matilda Jelitto, Content Createrin mit Zigtausend Followern; Ole Liebl, Autor, Content Creater; Dominik Djialeu, Podcaster und Verantstalter; Phenix Kühnert, Schauspielerin und Sängerin; Maria Popov, Moderatorin und Journalistin. Okay, mein allererster Gedanke dazu war: Soll die Auswahl irgendwie repräsentativ wirken – oder was genau ist der Hintergrund der Auswahl? Zumal dem Pressetext von Bedeutung zu sein scheint, wieviele xtausend Follower die Teilnehmer auf den diversen Social Media-Plattformen haben. Naja, davon werden wir ja vielleicht noch einiges erfahren.
Es geht um Sexismus, Rassismus, Queer-, Transfeindlichkeit und Ableismus, erzählt der Pressetext. Wobei mir immer, wenn ich dem Wort Ableismus begegne, folgender Gedanke kommt: Dem Wort Ableismus wohnt implizit Diskriminierung und Ausgrenzung inne. Weil Texte, Filme und Gespräche, die das Wort ‚Ableismus‘ verwenden, alle ausgrenzen, die nicht wissen, was es ist. Darunter wahrscheinlich die große Mehrheit derer, die unter Ableismus leiden. Wer nicht breit verständliche Fremdwörter verwendet diskriminiert und grenzt möglicherweise aus. Mache ich sicher auch, man müsste sich darüber aber mehr bewusst sein. Ich weiß, was Ableismus bedeutet, du nicht, und es ist mir egal. Testfrage: Wieviel Prozent der Menschen, die unter Ableismus leiden, wissen, was das Wort Ableismus bedeutet?
Aber der Film beginnt mit einem anderen Begriff“: ‚woke‘. „Ich bin eine woke linke Feministinnen-Bitch“, sagt eine der Teilnehmerinnen. Zu Beginn berichten die Protagonist:innen von ihren eigenen Diskriminierungserlebnissen und -erfahrungen, zum Teil recht allgemein, oft sehr konkret anhand von Beispielen. Und dann geht das Spiel los: Da werden die Dreiecke von Quadraten geblockt und gebremst. Die blauen Farben werden benachteiligt, manche Formen oder Farben dürfen die Abkürzungen nicht verwenden oder bestimmte Verkehrsmittel nicht benutzen. Schnell fällt man zurück, wie beim Leiter-Brettspiel, das mein Sohn regelmäßig mit mir spielen möchte. Nur dass man da die gleichen Chancen hat. Neulich waren wir im Computerspielemuseum in Berlin, da gab’s Pacman zu spielen, mein Sohn liebte es. Daran erinnert mich das auch ein bisschen.
Nun komme ich zu einem Punkt, an dem mir erste Zweifel kommen. Ich will es als These formulieren: Kann es sein, dass die Einteilung der Benachteiligungsformen, zB Quadrat, Kreis, Dreieck, im Spiel viel zu simpel und oberflächlich sind, als dass wir dadurch den Bezug zum echten Leben herstellen können? Rassismus zum Beispiel kommt in viel zu vielen Varianten und Unterarten vor. So wie alle anderen Arten von Diskriminierungen. Und es gibt Arten von Diskriminierungen über die mehr gesprochen wird als über andere. Das ist ungerecht. Ich bekomme in meinem Bekanntenkreis Diskriminierungen mit, über die nicht Regalmeter von Literatur und Hunderte von Stunden von Podcasts veröffentlicht werden: Diskriminierung aufgrund von Körpergröße zum Beispiel. Aufgrund von LRS. Aufgrund der sozialen Herkunft. Aufgrund des Schulabschlusses. Aufgrund von Neurodivergenzen. Alles nicht sehr im Fokus der Öffentlichkeit. Da helfen auch keine Pacmanspiele weiter. Einer der Teilnehmer sagt irgendwann, dass das Spiel Teilnehmende immerhin Frustrationserlebnisse durchleben lässt. Naja, das kann „Mensch ärgere dich nicht“ auch. Kurzum: In meinen Augen sind die Kategorien in dem Spiel zu simpel gestrickt, als dass sie echte Diskriminierungserlebnisse nacherlebbar machen würden. Ich hab’s aber auch nicht selber durchgespielt.
Aber es ist noch etwas anderes, was mich stört, ich deutete es bereits an. Warum ist die Teilnehmerwahl auf mehrheitlich junge Medienschaffende beschränkt? Das verstehe ich nicht. Ich finde Vieles, was die Teilnehmer:innen sagen wichtig und richtig. Aber ich glaube, einige der Teilnehmer merken irgendwann auch, das das, was hier besprochen wird, eigentlich nur von einem beschränkten Kreis verstanden wird. Ziemlich oft fällt das Wort ‚Bubble‘. Ich hätte gerne einen polternden 70-jährigen Rollstuhlfahrer aus dem Wedding erlebt in der Runde. Oder die Schlaganfallpatientn aus einem bayerischen Dorf. Oder der lebenslang durch seine LRS Benachteiligte mit Hauptschulabschluss, der es vom IQ her auch zum Professor geschafft hätte haben können. Oder oder oder. Oder Menschen, die Wörter wie intersektional oder ableistisch noch nie gehört haben. Jedenfalls Menschen außerhalb der Medienbubble. „Was fehlt, ist Empathie,“ fasst Hatice Akyün irgendwann zusammen. „Ich muss doch den Leuten nicht erklären, dass ich gerade diskriminiert werde, das weiß doch jeder.“ Damit hat sie wahrscheinlich recht, aber: Ich glaube, es gibt immer noch genügend Benachteiligungen und Diskriminierungen, die nicht erkannt werden. Und da ist es dann nicht nur die Empathie, die fehlt.