
Das erste Mal von „Hysteria“ gehört habe ich, als er dieses Jahr im Panorama der Berlinale lief, aber auch dieses Mal schaffte ich es nicht, meinen Plan umsetzen, weniger jener Wettbewerbsfilme anzuschauen, die eh im Kino starten werden, als jene, die nicht ganz so sehr im Licht der Öffentlichkeit stehen. Aber nun kommt Mehmet Akif Büyükatalays Film „Hysteria“ ja in die Kinos, und zwar am 6. November 2025, im Verleih von Rapid Eye Movies.
Der Beginn des Spielfilms ist dramatisch, unscharfe Schwarzweißbilder aus einer Wohnung, etwa wie Überwachungskameras oder Babyphonekameras. Schlafende Kinder, die sich im Bett räkeln. Dann plötzlich Feuer, ganz viel Feuer, Rauch, die Wohnung steht lichterloh in Flammen. Es geht um den Brandanschlag von Solingen am frühen Morgen des 29. Mai des Jahres 1993, als fünf Menschen starben. Es war ein Jahr nach dem Brandanschlag von Mölln, der ja gerade aktuell im Dokumentarfilm „Die Möllner Briefe“ wiederthematisiert wurde.
Sprung in die Gegenwart. Ein Spielfilm über die Anschläge von Solingen wird gedreht, ein Anschlag, der damals die Angst unter Migranten schürte. Konnten sich Menschen, die vor Krieg, Hunger etc. ins sichere Deutschland geflohen sind hier noch sicher fühlen, hier wo das Zuhause jederzeit zur Gefahr werden konnte? Elif (Devrim Lingnau) ist Praktikantin am Set des Films, sie ist sehr engagiert, will ihre Chance als Praktikantin nutzen, um ihren Traum von der Arbeit in der Filmbranche umsetzen zu können. Der Regisseur des Films, Yigit (Serkan Kaya) und seine Produzentin und Lebensgefährtin Lilith (Nicolette Krebitz) haben Bewohner eines Heims für Geflüchtete als Komparsen engagiert, sie sollen als „Reinigungstrupp“ das abgebrannte Wohnhaus aufräumen und auf die Dinge reagieren, die sie finden. Nicht schauspielen sollen sie, sondern einfach reagieren. Für einen der Flüchtlinge ist das zuviel, er durchlebt ein Trauma, scheint es zuerst, hat einen Nervenzusammenbruch. Dann stellt sich aber heraus, dass es um einen verbrannten Koran ging, den er in dem Haus gefunden hat. Der für den Film verbrannt wurde, weil: Vieles in dem Haus ist verbrannt, auch ein Koran könnte verbrannt sein. Aber darf man nur für einen Film einen Koran verbrennen, das ist die Frage, die hochkommt. Doch am Ende des Drehtages scheint sich alles beruhigt zu haben, der Regisseur ist dankbar für die gute Arbeit, die die Komparsen geleistet haben.
Elif soll nun, irgendwie ist der Fahrer verschwunden, die Komparsen zurück in deren Wohnheim fahren sowie das Filmmaterial in die Wohnung von Yigit und Lilith bringen. Viel Verantwortung für die junge Praktikantin. Sie kommt mit einem der Komparsen ins Gespräch, der selbst Regisseur war, in seinem Heimatland. Er hat einiges zu kritisieren: Solche Filme würden nur für das gute Gewissen gedreht. In deutschen Filmen könnten die Migranten nur Opfer oder Terroristen spielen. Aber warum einen Koran verbrennen bei solch einem Film? Als Provokation? Um den Film zum Gespräch zu machen? Aber Elif nimmt den Regisseur und den Film in Schutz gegen die Vorwürfe. Schließlich macht sie sich auf zu der Wohnung, um das Filmmaterial zu deponieren, doch als sie dort ist, stellt sie fest, dass sie die Wohnungsschlüssel verloren haben muss. Schön will die Lilith anrufen um das Malheur zu gestehen, aber solch ein Fehler würde ihre Chancen vielleicht zunichte machen. Was tun? Sie ruft einen Schlüsseldienst und macht sich auf die Suche nach dem verlorenen Schlüssel. Sie hängt Zettel auf, man möge sich melden, wenn man den Schlüssel gefunden hat. Und in der Tat: Irgendein Fremder ruft an, sagt, er habe den Schlüssel gefunden, er brauche nur noch die Adresse, dann würde er ihn schnell vorbeibringen. Doch als niemand kommt und niemand ihren Rückruf annimmt, wird ihr klar, dass das vielleicht ein Fehler war. Nun hat ein Fremder die Adresse und den Schlüssel. Elif ruft den Komparsen Said (Mehdi Meskar) an und bittet ihn, auf die Wohnung und das Filmmaterial aufzupassen, solange sie weg ist. Doch auch das war ein Fehler: Am nächsten Tag ist das Filmmaterial verschwunden. Wer war es? War hätte Interesse haben können, das Material wegzuschaffen? Die Situation spitzt sich zu, jeder verdächtigt jeden, es gibt viele Gründe, warum das Material entwendet hätte werden können. Nun kochen die Emotionen hoch und die überforderte Elif befindet sich im Zentrum dieses Dramas.

Mehmet Akif Büyükatalay, Jahrgang 1987, hat an der Kunsthochschule für Medien Köln studiert. Sein Regiedebüt war der Spielfilm „Oray“, der 2019 auf der Berlinale lief und prompt mit dem GWFF Preis als Bester Erstlingsfilm ausgezeichnet wurde. „Hysteria“ ist sein zweiter Langfilm als Regisseur.

„Elif hat die persönliche Geschichte einer ‚Strebermigrantin‘, die versucht durch Fleiß und Gehorsam von der Welt ihrer Herkunft in die Welt des Erfolgs zu gelangen und die sich, obwohl sie sich in beiden Welten zurechtfindet, in keiner zu Hause fühlt“, erläutert der Regisseur „Sie verleugnet ihre Herkunft und strebt nach oben; ein Ziel, das sie aufgrund ihres weißen Aussehens leicht erreicht. In ihrem Kampf mit ihren Widersprüchen hat sie sich für eine Seite entschieden und die andere unterdrückt. Das spiegelt sich auch in ihren negativen, rassistischen Erfahrungen aus ihrer Schulzeit und ihre Assoziation des „Verlierens“ mit ihrem Vater und seiner Kultur. Auch als sie trotzig die Seiten wechselt, gelingt es ihr nicht, ein Gleichgewicht, einen Frieden zu finden. Wie könnte sie das auch in einer Welt, die so tief gespalten ist?“
Mehmet Akif Büyükatalay gelingt ein raffiniertes Drama mit politischen, religiösem aber vor allem auch persönlichem Hintergrund. Wir leiden und fiebern mit Elif mit, die sich in eine aussichtslose Situation hineinmanövriert hat. Doch immer wieder schwankt der Handlungsfaden und es geraten andere Protagonisten in unseren Verdacht, hinter dem verschwundenen Bildmaterial zu stecken. Über die Ursprungsidee, die dem Film zugrunde liegt sagt Büykatalay: „Stellen Sie sich vor, Sie verlieren Ihren Schlüssel und erhalten einen Anruf von jemandem, der behauptet, er habe Ihre Schlüssel gefunden. Überglücklich teilen Sie Ihre Adresse mit, und warten sehnsüchtig darauf, dass der Fremde die Schlüssel zurückbringt… aber er taucht nicht auf. Jetzt ist jemand da draußen im Besitz Ihres Schlüssels, weiß, wo Sie wohnen, und könnte jeden Moment in Ihr Haus eindringen. Genau dieses Gefühl, diese Verwundbarkeit war die Initialzündung für HYSTERIA.“ Diese Grundidee ist der Schlüssel zur Thrillererzählung des Films und sie sorgt für die Spannung, die Bedrohung, das Drama, das wir mitfühlen.
„Das Publikum soll beim Betrachten des Films von der emotionalen, die Urängste aktivierenden, Intensität der zwischenmenschlichen Verstrickungen und einer spannenden Film- und Bildsprache mitgerissen werden“, sagt der Regisseur. Und genau das gelingt ihm auf durchaus raffinierte, überzeugende Weise. Und weiter: „Ähnlich wie bei Kriminal- oder Horrorfilmen ist die zentrale Frage: Wer ist der Täter? Das Publikum muss durch das Wirrwarr von Menschen, Sprachen und Beziehungen navigieren und sich fragen, ob überhaupt ein Urteil über die Schuldfrage gefällt werden kann. Der Film fügt sich für mich in die Landschaft des deutschen Kinos als einer der vielen aktuellen Filme, die nicht sagen: ‚Ich erkläre euch mal meine Kultur‘, sondern sich selbstbewusst und kritisch mit diesen komplexen Themen auseinandersetzt.“ „Hysteria“ ist ein Drama, das im Lauf seiner Handlung überraschende Wendungen parat hat und dessen Erzählhintergrund für eine Aktualität sorgt, die einen hineinzieht und lange beschäftigt.