„Das Leben besteht aus traurigen und fröhlichen Dingen. Je glaubwürdiger ein Film, desto besser.“

Nach 25 Jahren läuft ab dem 18. Dezember 2025 ein Meisterwerk des taiwanesischen Films wieder im Kino: YI YI von Edward Yang.

Yi Yi – A one and a two von Edward Yang. Rapid Eye Movies

Der Regisseur Edward Yang ist 1947 in Shanghai geboren, bevor seine Familie in den 1950ern nach Taiwan auswanderte. In Taiwan begann er mit einem Elektrotechnikstudium, das er schließlich in den USA weiterführte und abschloss. Mit Mitte dreißig wandte er sich schließlich dem Filmemachen zu, sein Debüt war „That Day, on the Beach“ aus dem Jahr 1983. Es folgte „Taipei Story“ im Jahr 1985 und „Ein Sommer zum Verlieben“ (A Brighter Summer Day, 1991), Filme, die sich mit der sozialen Wirklichkeit in Taiwan auseinandersetzten. Yang wurde Teil der „New Wave“-Filmszene von Taiwan. Für „Yi Yi“ erhielt er schließlich in Cannes im Jahr 2000 den Regiepreis. Es sollte jedoch sein letzter Film bleiben. Im Jahr 2007 starb er an Krebs. „Ich möchte meine Sichtweise niemandem aufzwingen. Ich möchte die Dinge so natürlich und neutral wie möglich darstellen und es den Zuschauern überlassen, sich ihre eigene Meinung zu bilden“, sagte Yang einmal über seine Filmsprache.

„Yi Yi“ erhielt ein geradezu sensationelles Echo, spätestens mit seiner Wiederaufführung 2025 in Cannes. „Einer der größten Filme aller Zeiten“, schrieb Sight & Sound. „Einer der besten Filme des 21. Jahrhunderts“ meinte die New York Times. In einem Interview erklärte Yang damals über seine filmische Erzählweise: “Nahaufnahmen sind das am wenigsten effektive Ausdrucksmittel, weil sie einem nur den Gesichtsausdruck vermitteln, während jede subtile Bewegung – in der Hand, im Körper, in der Haltung oder in der Art und Weise, wie eine Person geht – dem Betrachter mehr Informationen liefert als nur das Gesicht.“

Eine Hochzeit in Rosarot voller Luftballons, ein möglicherweise von den Sternen begünstigter Tag, den der abergläubische Bräutigam A-Di (Hsi-Sheng Chen) ausgesucht hat. Aber man ist peinlich berührt, denn: Die Braut ist bereits hochschwanger, naja, das passiert immer mal wieder. A-Di trinkt viel zu viel Alkohol, schließlich will er seinen Kumpels beweisen, wie schnell er ein riesiges Glas Bier leeren kann. Wir begleiten die Familie Jian aus Taipeh: Vater N.J. (Nianzhen Wu) ist Computeringenieur. Wir begleiten die Mutter Min-Min (Elaine Jin); deren Bruder A-Di, der Bräutigam, ständig finanziellen Schwierigkeiten hat – er würde seine Schulden schon bald zurückzahlen, versprochen; die Teenagertochter Ting-Ting (Kelly Lee), deren Träume mit der Realität konfrontiert werden, und den kleinen, so phantasievollen wie selbstständigen Sohn Yang-Yang (Jonathan Chang) – der es in der Schule aber sowohl mit seinen Mitschülern als auch mit den Lehrern nicht immer leicht hat. Noch am Abend der Hochzeit ereignen sich zwei bedeutende Vorfälle: N.J.s alte Jugendliebe A-Sui taucht nach 20-jähriger Abwesenheit plötzlich auf. Da steht sie ihm einfach gegenüber. Damals, so wirft sie ihm vor, habe er sie einfach stehen gelassen. Nie wieder hatten sie voneinander gehört. Und nun stehen sie am Aufzug und er ist komplett ratlos, Yang-Yang steht staunend daneben. Und dann auch noch das: N.J.s Schwiegermutter (Ru-Yun Tang), „ein Notfall!“, erleidet einen Unfall, ist sie umgekippt, oder wurde sie angefahren, oder erlitt sie einen Schlaganfall? Sie lag jedenfalls neben den Mülltonnen auf dem Boden, man spekuliert nun. Die Aufruhr unter den angeschickerten Hochzeitsgästen setzt sich auf den Spitalfluren fort. Aber sicher würde sie schon bald wieder zu sich kommen, meint die Familie, schließlich sei ja heute ein astrologisch verbriefter Glückstag. Auf Anraten der Ärzte sollen die Familienmitglieder mit der im Koma liegenden Großmutter – die schließlich wieder nach Hause entlassen wird – sprechen, Hoffnung mache man sich aber nicht allzu große, man möge mit dem Schlimmsten rechnen, schließlich sei sie alt. Aber das Schweigen der Mutter überfordert nicht nur ihre Tochter Min-Min, die ihr nichts zu erzählen hat, immer nur dasselbe, nach einer Minute weiß sie bereits nichts Neues mehr zu sagen: „Wie kann es nur so wenig sein?“ fragt sie sich. „Mein Leben ist eine einzige Leere!“ Man gerät in Streit darüber, wie man mit der Komapatientin umgeht, und wer wann wieviel mit ihr reden soll. Und Ting-Ting, die Teenagerin, macht sich gar insgeheim Sorgen darum, dass sie am Zustand der Großmutter Schuld sein könnte.

Schließlich trifft sich N.J. mit eben jener einstmaligen Liebe A-Sui. Vielleicht könnten sie ja Freunde bleiben, oder werden, nach der langen Zeit. N.J.s Firma derweil, kurz vor der Pleite („alles nur eine Übergangsphase“), denkt über eine Kooperation mit dem innovativen japanischen Geschäftsmann Ota (Issey Ogata) nach („der mit den Computerspielen“), die N.J. in die Wege leiten soll – vielleicht kann Ota dafür sorgen, dass neue Investoren angelockt werden. Aber was tun, wenn die Firma pleite geht? N.J. hat sein komplettes Geld in den Laden gesteckt. Während seiner Geschäftsreise lernt er gemeinsame Interessen mit Ota kennen – nämlich die Musik.

Eine schwere Zeit macht inzwischen der kleine Yang-Yang durch. Er fotografiert mit seiner Kamera die Leere, das Unsichtbare und die Menschen von hinten, um sichtbar zu machen, was hinter ihrem Rücken ist, was ihnen verborgen bleibt. Das alles überfordert seine Umgebung. Sein Vater versteht ihn nicht, sein Lehrer verhöhnt ihn wegen seiner Fotos. „Der Genius unserer Schule!“ höhnt er. Yang-Yangs Ausgangsfrage seines Fotografieprojekts ist: Woher willst du wissen, was ich sehe? Also, meint er, könne jeder nur die Hälfte der Wahrheit wissen.

Und so nimmt das Familiendrama seinen Lauf, mal schrill und exaltiert, mal emotional und berührend, mal traurig und düster, mal schräg und humorvoll. Das ist wie ein kleines taiwanesisches Familienepos, dessen Handlungsstränge clever, überraschend und überzeugend miteinander verwoben sind. Immer wieder spielt das Glück und die Vorhersage der Sterne eine Rolle. Aber heimlich hegt man die größte Sympathie für den kleinen Philosophen und Künstler Yang-Yang. Keine der anderen Figuren hat so einen tiefen Blick in die Welt, wie er. Heimlich verbünden wir uns mit ihm. Man freut sich immer wieder wenn, er auftaucht.

Edward Yang komponiert mit „Yi Yi“ ein beeindruckendes Meisterwerk, er erzeugt eine faszinierende Klaviatur an Stimmungen und Tempiwechseln. Von hysterisch bis nachdenklich, von abgrundtief lustig bis tiefernst, von pessimistisch bis optimistisch, mal leise, mal laut, mal melancholisch, dann wieder voller Lebensfreude. Manchmal wechseln wir ins Träumerische, dann wieder ins Tragikomische. Einmal gibt es einen Dialog über einen Kinofilm und dieser Dialog verwandelt sich in ein Gespräch über das Leben. Und genau dieser Dialog sagt so unglaublich viel über diesen Film aus: „Hat dir der Film gefallen?“ fragt er. „Ein bisschen zu ernst,“ erwidert sie. – „Magst du Komödien lieber?“ – „Nein, aber was sollen solche dramatischen Filme?“ – „Das Leben besteht aus traurigen und fröhlichen Dingen. Je glaubwürdiger ein Film, desto besser.“ – „Wozu überhaupt ins Kino gehen?“ erwidert sie. – Die Antwort geben wir uns selbst: um Filme wie diesen zu sehen.

FILMOGRAPHIE (Auswahl)
2000 YI YI
1996 MAHJONG / COUPLES
1994 A CONFUCIAN CONFUSION
1991 EIN SOMMER ZUM VERLIEBEN (A BRIGHTER SUMMER DAY)
1986 DIE SPUR DES SCHRECKENS (TERRORIZERS)
1985 TAIPEI STORY
1983 THAT DAY, ON THE BEACH

Yi Yi – A one and a two von Edward Yang. Rapid Eye Movies

Yi Yi – A one and a two von Edward Yang. Rapid Eye Movies

TECHNISCHE DATEN
Taiwan / Japan 2000
Restaurierte 4K-Version
Farbe, Format: 1.85:1
Kinofassung: Deutsche Synchronfassung, Original mit deutschen Untertiteln
Länge: 173 Minuten
FSK: ab 6 Jahren

WELTPREMIERE
Internationale Filmfestspiele von Cannes 2000
Restaurierte Fassung 4K: Internationale Filmfestspiele von Cannes 2025,
Eröffnungsfilm Cannes Classics

DEUTSCHLANDPREMIERE / FESTIVALS
Filmfest München 2000
Restaurierte Fassung 4K: Film Festival Cologne 2025

AUSZEICHNUNGEN (Auswahl)
Internationale Filmfestspiele von Cannes 2000, Best Director
Karlovy Vary International Film Festival 2000, Netpac Award
Sarajevo Film Festival 2000, Panorama Jury Prize
Vancouver International Film Festival 2000, Chief Dan George Humanitarian Award
Los Angeles Film Critics Association Award 2000, Best Foreign Film
National Society of Film Critics Awards, USA 2001, Best Film
Internationales Filmfestival Freiburg 2001, Grand Prix

Yi Yi – A one and a two von Edward Yang. Rapid Eye Movies

CAST
KELLY LEE Ting-Ting
JONATHAN CHANG Yang-Yang
NIANZHEN WU N.J.
ELAINE JIN Min-Min
ISSEY OGATA Mr. Ota
HSI-SHENG CHEN A-Di
SU-YUN KO Sherry
RU-YUN TANG Großmutter

CREW
EDWARD YANG Regie & Drehbuch
YANG WEIHAN / Kamera
LI LONGYU
CHEN BOWEN Schnitt
PENG KAILI Musik & Production Design
DU DUZHI Sound
KAWAI SHINYA / Produzenten
TSUKEDA NAOKO

Yi Yi – A one and a two von Edward Yang. Rapid Eye Movies

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