„Ich habe auch BDSM-Workshops besucht“: Alexe Poukines Film „Madame Kika“ startet am 15. Januar 2026 in den Kinos

MADAME KIKI, Regie: Alexe Poukine, Littledream Pictures

„Ich habe auch BDSM-Workshops besucht und die Geschichten, die ich dort gehört habe, in das Drehbuch einfließen lassen“, erzählt die Filmemacherin Alexe Poukine in einem Interview. „Madame Kika“ ist ihr, man korrigiere mich, erster Film, der es in die deutschen Kinos schafft, mit Ausnahme von Festivalauftritten. Alexe Poukine lebt in Brüssel, ist nach einer Schauspiel-, Fotografie- und Anthropologinnenkarriere über den Dokumentarfilm quasi als Quereinsteigerin zum Spielfilm geraten. Ich mag mich durchaus an eine Handvoll Regiekarrieren erinnern, die über die Anthropologie zum Film gekommen sind, scheinbar sind die Herangehensweisen an den Menschen in der Anthropologie und beim Film irgendwie miteinander verwandt. Bei Gelegenheit werde ich recherchieren, ob es dazu schon Aufsätze gibt, und Listen mit Ex-Anthropologen, die beim Kino gelandet sind. Alexe Poukines Filmographie weist unerfreulich lange filmlose Zeiträume auf; sie hat an der Dokumentarfilmschule Lussas (Ardèche Images) und später am Atelier Scénario der Pariser Filmschule La Fémis Regie und Drehbuch studiert, der Kurzfilm „Petites Morts“ aus dem Jahr 2008 war ihr Abschlussfilm, 2013 folgte „Dormir, dormir dans les pierres“, ihr erster Langfilm, eine Doku über die Obdachlosigkeit und den Tod ihres Onkels. „Sans frapper (Which does not kill)“ folgte erst im Jahr 2019, eine Dokumentation, die ihre Premiere beim Visions du Réel International Film Festival Nyon erlebte. „Sauve qui peut“ war eine Dokumentation über Auszubildende in medizinischen Berufen, die sich ihrer Arbeit mit Rollenspielen nähern. Aber zurück zu ihrem aktuellen Film.

Kika, Mutter eines Mädchens, Louison, seit vielen Jahren halbwegs zufrieden mit Paul verheiratet, naja, die Liebe ist auch schon etwas erkaltet, arbeitet auf dem Sozialamt. Mit einer Menge hilfebedürftiger Menschen hat sie tagtäglich zu tun. Man bittet, man bettelt, man fordert, „Madame, das kann nicht warten!“ Fast allen ist eines gemein: Sie bekommen zu wenig zum Leben, manch einer oder manch eine arbeitet schwarz oder greift zu kreativen Methoden, um sich etwas dazuzuverdienen. Eines Abends, eigentlich ist es schon nach Feierabend, kann Kika den Fahrradhändler David gerade noch dazu überreden, dass er noch schnell das Fahrrad ihrer Tochter zur Reparatur entgegen nimmt. Doch Kika passiert ein Missgeschick, der Schlüssel zur Ladentür bricht ab, David und Kika sind kurzerhand abends im Geschäft eingesperrt. Halb genervt, halb amüsiert, tun sie alles, um aus dem Geschäft auch wieder herauszukommen, und sie kommen einander näher und finden Gefallen aneinander. Was tun? Nach solch einer langen Ehe sollte man doch vielleicht nicht alles riskieren? Zumal das Kind ja noch am Heranwachsen ist. Wäre da nicht ihre beste Freundin und Arbeitskollegin, die einen folgenschweren Rat erteilt. Um festzustellen, ob es über das bloße Verliebtsein hinausgeht, möge sie doch mit David schlafen, dann wisse sie schnell, ob das was Ernsthaftes sei, wahrscheinlich aber nicht – und dann gilt die Regel: einmal ist keinmal.

Na gut, sagt sie sich, aber wo soll das vonstatten gehen? Bei ihr geht’s nicht, da ist Mann und Kind, bei ihm geht’s nicht, er ist auch liiert. Also mietet man sich für eine Stunde in ein Tageshotel, ein Stundenhotel ein, und man ahnt es, der Sex ist toll, die Beziehung zärtlich, erfüllend. In Bälde gesteht sie ihr Verliebtsein, die Ehe geht in die Brüche, David nimmt eine immer größere Rolle in ihrem Leben ein, bisweilen kümmert er sich auch mal ums Kind. Sie zieht bei ihm ein und es dauert nicht lange und sie ist schwanger. Doch da geschieht Dramatisches: Die Polizei steht bei ihr vor der Tür, Schlimmes sei passiert, ihr David sei bei einem Schlaganfall im Supermarkt gestorben.

MADAME KIKI, Regie: Alexe Poukine, Littledream Pictures

Als wäre das nicht Tragödie genug, verliert sie auch noch die Wohnung, schließlich war die auf David angemeldet. Der Wohnungsmarkt ist, wie er ist, man bekommt keine bezahlbare Wohnung von jetzt auf gleich. Vorübergehend kommt Kika gemeinsam mit Louison bei ihrer Mutter und deren Lebensgefährten unter, doch auch die Beziehung zu den beiden ist eigentlich schwierig. Louison wird zur Bettnässerin, die Situation in der Wohnung beginnt unerträglich zu werden. Bei Arbeit ist sie rausgeflogen, im Fischladen, in dem sie stattdessen arbeitet, verdient sie nicht genug, ihr Embryo lässt sie wohl abtreiben.

In dieser hilflosen Situation erinnert sie sich der fantasiereichen Kunden, die sei im Sozialamt hatte: Man könnte kreativ werden, was das Geld verdienen angeht. Bald hat sie ihren ersten Kunden, der ihr getragene Unterwäsche abkauft und der sich von Kika demütigen lassen möchte. Sie beschimpft ihn, nennt ihn einen Widerling, ein dreckiges Schwein, das eigentliche Geschäft, den Verkauf der getragenen Unterhose gerät dabei beinahe in den Hintergrund. Immerhin kriegt sie einen Hunni dafür. Doch die Ansprüche des Kunden werden höher: Geht auch Stiefellecken, Spucken und Treten? Schräg ist die Situation, vor allem für Kika, denn der Kunde ist kein sehr attraktiver Mensch, dafür aber umso freundlicher – und wenn er nicht mehr in seinem Rollenspiel gefangen ist, ist er ein sympathischer, freundlicher Tierarzt, der Fotos von seinen „Patienten“ dabei hat – und der ihr nebenher auch noch Tipps dafür gibt, neue Kundschaft aufzutun. Trockener Humor tritt in diesen Szenen zutage: Ob sie ihr großes Geschäft auf ihm erledigen könne, meint ein junger Kunde. Sie könne aber gerade nicht groß. Auf diese Antwort ist der Kunde vorbereitet: Er hat ein Abführzäpfchen dabei.

Und so lernt sie dazu, zunächst naiv und unfreiwillig komisch, erfährt sie stets Neues über die entsprechend gewünschten Sexualpraktiken, lernt einschlägige Fachbegriffe kennen, sie wird mutiger in der Preisgestaltung und fordert auch von ihren Berufskolleginnen wertvolle Tipps ein: „Entschuldigt, wenn ich eine dumme Frage stelle…“ Da kommen dann Ratschläge und Meinungsäußerungen wie: „Die Leute essen kiloweise genmanpulierten Scheiß, aber ein sauberer Schwanz in einer Vagina schockiert alle!“ Und so taucht Kika in diese skurrile, düstere Welt ein, die aber auch lichte und menschliche Phasen kennt, etwa wenn es um den Zusammenhalt der Sexarbeiterinnen geht. Es gibt berührende und bedrückende Szenen, etwa als ein älterer Mann als Baby in Windeln anfängt zu weinen, in den Arm genommen werden möchte und sichtlich ein kindliches Trauma aufarbeitet. Einen ihrer Kunden fragt sie, warum er den Schmerz suche. Er antwortet, dass er ihn nicht suche. Den Schmerz habe er immer, wegen einer chronischen Krankheit. Aber bei ihr, bei Kika, habe er selbst die Kontrolle, wann dieser Schmerz aufhört.

Die Handlung von „Madame Kika“ klingt so sehr nach Melodram, nach Klischee, nach Überhöhung, nach erzählerischer Übertreibung, dass man gleich die Lust verlieren könnte, diesen Film sehen zu wollen. Das ist allerdings ein schwerer Fehler – und das hat mit Alexe Poukines Erzählweise zu tun: In „Madame Kika“ ist nämlich die „Lücke“, die „Auslassung“, die „erzählerische Ellipse“ zutiefst verinnerlichtes filmisches Prinzip. Will sagen: Jene Erzählmomente, die zum Klischee, zur erzählerischen Pein werden könnten, werden ausgelassen, der Schnitt wird rechtzeitig gesetzt. Wir erleben weder den Moment der Trennung von ihrem Mann, noch den konkreten Hintergrund des Verlustes ihres Jobs beim Sozialamt. Wir sind nicht dabei, als David stirbt und so weiter. Viele dieser Ereignisse müssen wir uns selbst erschließen, und das ist eine sehr intelligente Erzählweise, an die man sich gewöhnen muss, die ich aber als zutiefst überzeugend empfinde. Am stärksten sind dann jene Szenen, in denen Kika dieser für sie so fremden Welt begegnet, voller Neugierde und Interesse; sie macht Fehler, lernt und beginnt sich zurechtzufinden. Dass ist bisweilen sanft und trocken komisch, oft berührend.

Was mich interessieren würde ist, was Sexarbeiterinnen über „Madame Kika“ denken: Spiegelt das reale Erfahrungen wieder? Gibt es verharmlosende, schönfärberische Szenen? Alexe Poukine erzählt, wie sie an das Thema der Sexarbeit geriet: „Da mir die Idee der Sexarbeit durch den Kopf ging, habe ich die Geschichte eines Freundes eingebaut, der – wie Kika – Dom und Sozialarbeiter ist. Er hat mehrfach ein Burnout erlitten: erst durch den Druck des ersten Jobs, dann durch den des zweiten. Ich fand es faszinierend, dass er sich um Menschen kümmert – entweder indem er ihnen wehtut oder indem er sie versorgt.“ Und weiter: „Ich habe Kontakt zu Organisationen wie UTSOPI und Espace P aufgenommen und lange Interviews mit Sexarbeiter*innen geführt, die sehr unterschiedliche Praktiken und Arbeitsbedingungen haben. Die Dominas, die ich getroffen habe, sagten mir oft, dass sie diese Arbeit auch aus Zärtlichkeit und Respekt gegenüber Männern machen. Denn um ‚die Rolle der Dominanten‘ zu übernehmen, muss man sehr aufmerksam und sorgfältig sein – und Menschen tief lieben. Diese Arbeit erfordert, sich in komplexe Bereiche der menschlichen Seele zu begeben.“

Dass der Film mit diesen erzählerischen Brüchen so gut funktioniert, ist nicht nur dem Drehbuch sondern in hohem Maße auch der Hauptdarstellerin zu verdanken. Manon Clavel spielt die Rolle der Kika, ihre erste Hauptrolle. Sie ist Franko-Amerikanerin, studierte in Paris am Konservatorium, spielte währenddessen schon am Theater, etwa in „Danse Delhi“ (Regie: Gaëlle Hermant) und „La Campagne“ (Regie: Sylvain Maurice) am Théâtre du Rond-Point. Im Kino war sie zuerst in Hirokazu Koreedas Drama „La Vérité – Leben und lügen lassen“ zu sehen, gemeinsam mit Catherine Deneuve, Juliette Binoche und Ethan Hawke. Im Jahr 2022 spielte sie in Léonor Serrailles „Un petit frère“ und 2024 in „Le Répondeur“. Auf Netflix kann man sie noch in der Serie „Winter Palace“ (2024) sehen. Für ihre Rolle als „Kika“ erhielt sie beim Brussels International Film Festival (BRIFF) den Best Actress Award. Über Clavels Besetzung sagt die Regisseurin: „Manche Leute haben vielleicht Angst vor BDSM, das oft mit Stereotypen von extremem oder gefährlichem Verhalten verbunden ist. Es wird auch manchmal als gewalttätig oder pathologisch wahrgenommen. Angesichts von Kikas unkonventionellem Weg dachte ich: Die Leute werden sich von ihr distanzieren. Deshalb war es wichtig, dass sie liebenswert ist, einen ähnlichen Humor wie ich hat, damit sie versteht, wohin ich sie führe. Kika begegnet dem Leben von der Seite, indem sie Witze macht, das ist ihre Art, der Realität zu entkommen. Sie lacht über alles schnell, aus Angst, darüber weinen zu müssen. Und Manon hatte keine Angst, mir zu folgen, denn es gab einige sehr komplizierte Sequenzen. Sie hat das mit Vertrauen, Professionalität und Disziplin gemacht. Für mich trägt sie den Film.“

MADAME KIKI, Regie: Alexe Poukine, Littledream Pictures

Besondere Erwähnung verdient noch der Kameramann Colin Leveque, der schon bei früheren Filmen von Alexe Poukine für die Bilder zuständig war, etwa „Palma“ oder „Sauve qui peut“. Demnächst wird noch ein weiterer Film im Kino zu sehen sein, für den er hinter der Kamera stand: „The Neon People“ von Jean-Baptiste Thoret. Derzeit kann man noch auf „Filmfriend“ die Doku „The Time of Forests“ sehen, bei der er schon für die Bilder verantwortlich war.

„Madame Kiki“ gerät zu einem erzählerisch mutigen und überzeugenden Film, der berührt und in Erinnerung bleiben wird. Und es ist in der Tat ein Film voller Humor. Die Entdeckung des Films ist für mich die Hauptdarstellerin Manon Clavel, von der ich gerne bald noch viel mehr sehen möchte. Zuletzt noch einmal die Regisseurin: „Ich mag Filme nicht so sehr, die sich zwischen Lachen und Weinen entscheiden müssen. Das Leben ist im Allgemeinen eher eine dramatische Komödie oder eine komische Tragödie. Ich wollte, dass mein Film das widerspiegelt. Ich wollte nicht, dass Kika auf ihren Beruf, ihre Rolle als Mutter oder auf die Liebesgeschichte, die sie überwältigt, reduziert wird. Bilder von Frauen aus prekären sozialen Verhältnissen, die einfach nur mutige Mütter sind… Es ist sicherlich gut, dass es sie gibt, aber ich möchte das nicht machen.“ Ab dem 15. Januar 2026 ist „Madame Kika“ in den deutschen Kinos zu sehen.

MADAME KIKI, Regie: Alexe Poukine, Littledream Pictures

BESETZUNG
Kika – Manon Clavel
David – Makita Samba
Rasha – Anaël Snoek
Mary – Ethelle Gonzalez Lardued
Louison – Suzanne Elbaz
Paul – Thomas Coumans
Sylvie – Kadija Leclere
Jean-Pierre – Bernard Blancan


STAB
Regie – Alexe Poukine
Drehbuchautoren – Alexe Poukine & Thomas Van Zuylen
Produktion WRONG MEN
Produzenten – Benoît Roland, Alexandre Perrier, François-Pierre Clavel
Bildgestaltung – Colin Leveque
Editorin – Agnès Bruckert
Weltvertrieb Totem Films

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