
Sehnsucht nach Sangerhausen. Selten hat mich ein Trailer so verrätselt hinterlassen, in Hinsicht darauf, worum es in dem entsprechenden Film denn eigentlich geht: „Was ist das für ein Leben, wo wir tagein, tagaus der Herren Nachttöpfe leeren?“, sagt eine Frau im Trailer, die offenbar zu längst vergangenen Zeiten als Bedienstete an irgendeinem Hof lebt. „Drum wartet ja das Himmelreich auf uns“, meint eine andere Frau, die erhält als Antwort: „Im Himmelreich wird sicher nicht derart geschissen.“ Dann wiederum springen wir in die Gegenwart, sehen eine Frau, die einen Möbelladen putzt, eine Kneipenbedienung, die herumgeschickt wird. Abraumhalde, Verfolgungsjagd mit der Polizei, was bitte? Dann die Titelmusik: „In Sangerhausen, diese kleine Rosenstadt, die schöne Rosen und auch schöne Mädchen hat.“ Okay!? Aber selten hat mich ein Trailer auch derart neugierig hinterlassen, neugierig darauf, was uns der Film denn nun erzählen will.
Aber zunächst einmal: Wo liegt denn eigentlich nun dieses Sangerhausen, gehört hab ich das schonmal, aber einordnen kann ich das nicht. Sangerhausen, so der Wikipediaeintrag, ist die Kreisstadt des Landkreises Mansfeld-Sürdharz in Sachsen-Anhalt, nahe der Grenze zu Thüringen. 25.000 Einwohner hat das Städtchen, die Bevölkerung nimmt, wie in vielen Kleinstädten des ehemaligen Ostens, ab, der Gipfel lag in den Achtzigerjahren, da waren es um die 34.000 Einwohner. „Als Zentrum des Sangerhäuser Reviers“, behauptet Wikipedia, „war sie über mehrere Jahrhunderte bis 1990 ein Standort einer bedeutenden Montanindustrie für Nichteise-Metalle wie Kupfer und Silber.“ Es gibt wohl einen sehenswerten mittelalterlichen Stadtkern, Reste des Alten Schlosses und ein mittelalterliches Rathaus, einiges davon werden wir in dem Film wohl noch sehen. Und, siehe das lustige Liedlein von oben, im „Rosarium“ in Sangerhausen existiert die angeblich größte Rosensammlung der Welt. Im Spengler-Museum steht ein Mammutskelett, im September feiert der Ort jeweils das Kobermännchenfest. Die Liste der berühmten Söhne und Töchter von Sangerhausen ist lang, aber mir fallen erstmal nur die Namen Einar Schleef (Regisseur und Schriftsteller) und Norbert Nachtweih (Fußballspieler) auf. Die Webseite der Stadt weist immerhin halbwegs stolz auf den angehenden Kinostart des Films hin, inklusive folgendem Hinweis: Der Regisseur des Films, „Radlmaier sah ein Bild von Sangerhausen, besuchte interessiert unsere Stadt und war so begeistert, dass er nicht nur Sangerhausen als Titel gewählt, sondern unserer schönen Berg- und Rosenstadt einen ganzen Film gewidmet hat!“ Und weiter: „Wir sind stolz, dass Sangerhausen nicht nur im Titel steht, sondern mit unseren Menschen, unserem Charakter, unserer Landschaft und unserer Geschichte auf der Leinwand lebendig wird.“ Wobei ich mich dann schon frage: Wird Raldmaier sich vielleicht über die Provinzialität des kleinen Städtchen lustig machen, oder Ähnliches? Ich hoffe sangerhausen.de hat den Film schon gesehen und weiß, was genau zu erwarten ist. Und wenn nicht: Am 15. November 2025 um 18 und 20 Uhr kommt Julian Radlmaier auf seiner Kinotour in Sangerhausen im Kino Movie Star vorbei und führt den Film vor. Und übrigens: Ich glaube die Sangerhausener können auch stolz darauf sein, dass ihre Kleinstadt noch ein Kino hat, das ist bei Städten mit um die 20K Einwohner leider nicht mehr selbstverständlich. „No Hit Wonder“ oder „Predator Badlands“ läuft gerade, aber auch „Mission: Mäusejagd“ oder „Die Schule der magischen Tiere 4“. Notiz an mich selbst: Ich muss mal nachsehen, ob das Sangerhäuser Kino in einem meiner Kino-Lieblingsbücher dieses Jahres vorgestellt wird: „Cinema Provinziale“ von Katrin Schneider, aus dem Schüren-Verlag, mehr darüber siehe hier: https://avisualzine.com/2024/10/17/cinema-provinziale-lichtspieltheater-in-der-provinz-von-katrin-schneider-im-schueren-verlag/ .

Aber bevor ich nun endlich dazu komme, mich zum Film zu äußern, wollte ich noch kurz nachschlagen, wer noch einmal Julian Radlmaier ist, der Name kommt mir bekannt vor, ich kann aber nicht so recht einordnen woher. Jedenfalls stammt er, so das Presseheft, aus Nürnberg, ist 1984 geboren, lebt in Berlin und hat neben deutschen wohl auch französische Wurzeln. Studiert hat er in Berlin und Paris und er war Assistent von Werner Schroeter. Neben ein paar mittellangen Filmen an der Filmuni hat er den abendfüllenden Abschlussfilm „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“ gedreht, in dem er selbst die Hauptrolle spielt, und den er auf diversen Festivals untergebracht hat. Sein zweiter Film war „Blutsauger“ aus dem Jahr 2021. Hab ich aber leider beide nicht gesehen. „Blutsauger“ gibt es aber auf den einschlägigen Streamingplattformen sowie auf Mubi zu sehen. Die „Selbstkritik“ immerhin auf Prime Video. Okay, schaue ich bei Gelegenheit.

Nun endlich zum Film. Das benannte Sangerhäuser Rosenlied ertönt zu Beginn des Films – und endet abrupt, wir landen im ausgehenden 18. Jahrhundert, in Sangerhausen am Hof, Lotte ist da angestellt, sie trägt Wasser, putzt, reinigt Stiefel, serviert Tee, klopft Teppiche – und pflückt Kirschen für die Herrschaften. Eines Morgens trödelt sie und da findet sie einen wunderschönen grünen Stein, den sie mitnimmt. Zu Gast auf dem Hof ist Herr von Hardenberg, der sich selbst Novalis nennt. Kurzer Einschub: Novalis, geboren 1772 in Wiederstedt, gestorben dann bereits 1801 in Weißenfels, Schriftsteller, Frühromantik und Philosoph. Habe ich mal was von Novalis gelesen? Kann mich nicht erinnern…
Aber weiter: Jedenfalls liest Lotte ein paar Sachen, die Novalis geschrieben hat und die er rumliegen lassen hat. Das erzählt sie ihrer Kollegin, die sich noch wundert, warum Lotte überhaupt lesen könne. Eigentlich können Frauen in ihrer Position damals nicht lesen. Von einer blauen Blume habe sie gelesen, nach der der Autor Sehnsucht empfinde, erzählt Lotte. Eine Zauberblume? Ein Rätsel, vermutet Lotte. Lotte hat nämlich Träume, vielleicht würde sie gerne etwas von der Welt sehen, aber das steht ihr nicht zu. Derweil tritt im Dorf der Schwertschlucker Norbert auf, mit einer Art Show, er sei einst Bergarbeiter gewesen, wurde verschüttet, konnte nur überleben, weil er Steine gegessen hat. Und dass er das kann, will er vorführen und so „isst“ er Lottes wunderschönen grünen Stein auf. Prompt kommen sich die beiden näher, sie erhält ihren Stein zurück, er erzählt von Erlebnissen aus der Ferne, dass in Frankreich der Adel entmachtet worden sei. Vielleicht wollen sie da hin? Aber die Geschichte von Lotte und Norbert wird kein gutes Ende nehmen… Schnitt.

Dann folgt Episode zwei, in der geht es um eine junge Frau aus Sangerhausen, Ursula. Sie hat zwei Jobs, nachts putzt sie in einem Möbelhaus, danach macht sie zu Hause eine Pause, dann muss sie los zu dem Café, in dem sie als Bedienung arbeitet. Wir begegnen nun etlichen Motiven aus der ersten Episode wieder: Auch Ursula findet einen Stein, genau den gleichen grünen, den Lotte in der ersten Episode gefunden hatte. Im Supermarkt will sie Kirschen kaufen, die sind aber zu teuer – sie kann sie sich nicht leisten. Auch ein Riesenpudel kehrt in dieser Episode wieder – und Novalis, als Andenkentasse. Auf ihrem Job im Café stößt sie auf drei Musiker*innen, die in Sangerhausen zum Kultursommer anwesend sind für ein Konzert. Da in Sangerhausen nichts los ist und man nicht mal mehr ein Bier bekommt, schließen sich die drei Ursula an, die ihnen die Sehenswürdigkeiten und die Altstadt des Städtchens zeigt.
Schließlich zieht Ursula mit einer der Musikerinnen, Zulima (Zulima war eine Figur in Novalis‘ ‚Heinrich von Ofertdingen‘ und Zulimas Vater war Germanist), weiter durch Sangerhausen. Zulima bekommt allerlei Anekdoten aus Sangerhausen erzählt. Sie haben einige gemeinsame Erlebnisse, beinahe werden sie von einem herunterfallenden Blumentopf getroffen, dann begegnen sie einer sonderbaren Kamelwanderungskarawane, schließlich besteigen sie die Abraumhalde, obwohl das eigentlich verboten und nur einmal im Jahr auf einer geführten Wanderung erlaubt ist. Die beiden kommen sich näher, Ursula schenkt Zulima den grünen Stein – passiert noch mehr? Am nächsten Tag lässt sich Ulrike in einen Autodiebstahl verwickeln, die Musiker*innen verschwinden auf sonderbare Weise und es kommt zu einer Begegnung mit Nacktwanderern.
Und dann, Episode 3, folgt die Geschichte von Neda, einer iranischen Youtuberin mit gebrochenem Arm. Es ist die Geschichte eines unglaublichen Zufalls – und für mich die schönste Episode dieses Films.
Puh, ein Stück sprödes und störrisches Kino. Ich weiß gar nicht so recht, wie ich das beschreiben soll. Mal gibt es Groteskes, wie vielleicht bei Achternbusch, mal improvisiert-Schrilles, wie vielleicht bei Ulrich Seidl, dann wieder erzählerisch-Einfühlsames, wie bei, keine Ahnung, Eric Rohmer. Mal scheint magischer Realismus auf, dann Harzer Provinz-Mythologie, Kleinstadtporträt und ostdeutsche Lokalkulturgeschichte. Und als Subtext immer wieder mal das Thema Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit.
Julian Radlmaier (jetzt fällt’s mir ein, ich glaub ich kenne den Namen gar nicht, ich musste nur an Julian Nagelsmann denken) sagt über Sangerhausen: „Diese kleine ostdeutsche Stadt, halb aus rechteckigen Häuserblocks, halb aus mittelalterlichen Gassenlabyrinthen bestehend, liegt zwischen einem riesigen Rosengarten und einer bergähnlichen Halde, die wie eine ägyptische Pyramide über der Landschaft thront. Man könnte fast meinen, dieses Relikt der sozialistischen Bergbauindustrie sei der romantischen Fantasie des Dichters Novalis entsprungen, der in einem nahgelegenen Dorf geboren wurde und selbst im Bergbau arbeitete. (…) Die Protagonist*innen meines Films sind jedoch keine romantischen Dichter, sondern prekär Beschäftigte und Migrant*innen. Für sie wird die Frage der Sehnsucht zu einer zutiefst politischen, da denen, die mit dem Überleben beschäftigt sind, sogar das Recht verwehrt wird, nach dem Sinn des Lebens zu fragen: Zuerst muss die Miete bezahlt, die Aufenthaltsgenehmigung verlängert werden.“
Ich möchte insbesondere die Besucher der Sangerhauser Preview im örtlichen Kino davor warnen, dass das kein besonders leicht zugänglicher Film ist, sondern eben ein störrischer, unbequemer, manchmal schräger Film, der sich gewöhnlicher Filmdramaturgie weitgehend entzieht. Und das ist manchmal anstrengend, und dann wiederum ist dieser Film trotz allem fürchterlich unterhaltsam und kurzweilig und im wahrsten Sinne so weit weg – zum Beispiel vom Berlinerischen Großstadtfilm. Ich bringe dem Film nämlich auch eine Menge Sympathie entgegen, weil es nämlich nicht die Art von Provinzfilm ist, wie wir sie sonst gerne erleben, will sagen: Wenn ich so an einige Provinzfilme der letzten Zeit denke, zum Beispiel Christian Petzolds „Miroirs No. 3“, oder Ina Weisses „Zikaden“ (die ich beide sehr mochte), dann sind diese beiden Filme eigentlich verkappte Großstadtfilme, die aber in der Provinz spielen, weil es Großstadtprotagonist*innen gibt, die es in die Provinz verschlagen hat. Julian Radlmaier ist da aber eigentlich viel konsequenter. Zwar gibt es auch bei ihm die der Großstadt entsprungenen Figuren, aber er lässt sich viel beharrlicher und von Grund auf darauf ein, vom Leben in dieser Kleinstadt zu erzählen. Das ist, finde ich, eine gute Idee, und ich finde, dass Radlmaier es durchaus gelingt, eine heterogene, flickenteppichartige Kleinstadtgeschichte zu erzählen, die in jedem Fall sehr unterhaltsam ist. Dass er dabei das ein oder andere Klischee nicht auslässt, stört mich gar nicht so sehr.
Und schön ist dann auch, dass im Film genau jenes Kino auftaucht, in dem auch in wenigen Tagen die Preview zu eben diesem Film gezeigt werden wird. Und eins frage ich mich nämlich siedend heiß: Es ist mir fast egal, was etwa die Berliner Großstadtkritik zu diesem Film zu sagen hat. Und es ist auch egal, ob ich jetzt hier irgendein Filmgeschichts-Namedropping, Achternbusch etc. veranstalte. Was mich wirklich interessieren würde ist: Was werden die Sangerhausener zu diesem Film sagen? Werden sie sich auf die Sprödigkeit des Werkes einlassen? Werden sie sich in den Figuren des Films wiedererkennen? Oder ist ihnen das zu abseits des Mainstreams?
Noch einmal möchte ich den Filmemacher selbst zu Wort kommen lassen: „Es ist ein Film über die Alchemie der Begegnung. (…) Dies spiegelt meine Überzeugung wider, dass die tiefere Kluft zwischen den Menschen nicht horizontal zwischen Nationen und Kulturen verläuft, sondern vertikal zwischen sozialen Klassen. Am Ende verbinden sich die Figuren sogar mit den Geistern der Vergangenheit, als sie herausfinden, dass ihre gemeinsamen Träume eigentlich sehr alt sind… Sowohl inhaltlich als auch
formal vertraue ich auf den freudigen Widerstand des Kinos. (…) Ich bin besessen von der Frage nach der Form im Kino, davon, wie sie unsere Sinne schärfen kann, die durch so viele stereotype Bilder abgestumpft sind. Zusammen mit Kameramann Faraz Fesharaki haben wir versucht, überraschende Lösungen für das Drehbuch zu finden, uns aber auch von dem überraschen zu lassen, was wir während der Dreharbeiten entdeckten. Daher ist der Film eine Mischung aus sorgfältig geplanten visuellen Choreografien und zufälligen Bildern, die wir gedreht haben, ohne zu wissen, wo sie im Schnitt landen würden.“
Kinotour-Termine mit Cast und Crew
Magdeburg: Freitag, 14. November um 19.00 Uhr im Studiokino
mit Regisseur Julian Radlmaier
Sangerhausen: Samstag, 15. November um18.00 Uhr und 20.00 Uhr im Kino Movie Star
mit Begrüßung von Regisseur Julian Radlmaier
Halle: Samstag, 15. November um 20.15 Uhr im Puschkino
mit Regisseur Julian Radlmaier
Berlin: Samstag, 22. November um 18.30 Uhr in der Deutschen Kinemathek
mit Regisseur Julian Radlmaier
Dresden: Mittwoch, 26. November um 20.00 Uhr im Schauburg Kino
mit Regisseur Julian Radlmaier
Berlin: Donnerstag, 27. November um 20.00 Uhr im Passage Kino
mit Regisseur Julian Radlmaier
Leipzig: Freitag, 28. November um 18.30 Uhr im Passage Kino
mit Regisseur Julian Radlmaier
Frankfurt: Samstag, 29. November um 19.45 Uhr im Mal seh’n Kino
mit Regisseur Julian Radlmaier
Jena: Sonntag, 30. November um 17.00 Uhr im Kino im Schillerhof
mit Regisseur Julian Radlmaier
Essen: Sonntag, 30. November um 20.00 Uhr im Filmstudio
mit Hauptdarstellerin Clara Schwinning
Cottbus: Montag, 1. Dezember um 19.00 Uhr im Obenkino
mit Regisseur Julian Radlmaier
Düsseldorf: Montag, 1. Dezember um 19.00 Uhr im Metropol Kino
mit Hauptdarstellerin Clara Schwinning
Potsdam: Samstag, 29. November um 18.45 Uhr im Thalia Kino
mit Hauptdarstellerin Maral Keshavarz