CINEMA PROVINZIALE. Lichtspieltheater in der Provinz, von Katrin Schneider, im Schüren Verlag.

Seit ich Kinos besuche, genau gesagt, seit ich 11 Jahre alt war, und im Lörracher Union-Kino meinen ersten Kinofilm gesehen habe, E.T. – Der Außerirdische, habe ich immer „genügend“ Kinos um mich herum gehabt: In Lörrach das Union-Kino (das letztes Jahr leider geschlossen hat) und das Hirschen (das es schon länger nicht mehr gibt), später das Free Cinema – und als mein Interesse an Filmen sich noch mehr ausdehnte, hatte ich immer genug Möglichkeiten in Basel den Film zu finden, den ich unbedingt sehen wollte. Auch in Freiburg, der Studentenstadt, gab es immer genug Kinos, etwa der Friedrichsbau, der Kandelhof oder das Kommunale Kino. Hier in Berlin habe ich in ich sage mal 10 Minuten Fahrradstreckenumgebung, ich muss nachzählen, 32 Kinosäle in Reichweite, plus ein Freiluftkino mit zwei Leinwänden.

Dass es diese Kinovielfalt zwar nur in Großstädten gibt, es aber an vielen Orten rührige Filmbetreiber gibt, die Bewohnern von Kleinstädten oder gar von Dörfern die Gelegenheit geben, ins Kino zu gehen, zeigt der wunderbare neue Bildband aus dem Schüren Verlag: „Cinema Provinziale – Lichtspieltheater in der Provinz“ von Katrin Schneider. Die Autorin machte sich die Mühe und bereiste alle Bundesländer – bis auf die Stadtstaaten Berlin, Hamburg, Bremen. Die Vielfalt an Provinzkinos, die sie dabei entdeckt ist sagenhaft: Kinos in Wohnhäusern, ehemaligen Ställen, Zweckbauten, denkmalgeschützten Gebäuden, Klöstern, historischen Gebäuden, die schon als Kinos gebaut wurden. Von jedem Kino gibt es zwei, drei Fotografien, von drinnen und draußen – und großartig ist auch hier die Vielfalt an Inneneinrichtungen: strahlende Kinopaläste, liebevolle Dorfprovisorien, schön gepflegte und gewartete Holzstuhlreihen, moderne Multiplexdesigns, Retro-Achtzigerjahreausstattungen.

In liebevollen Kurztexten schildert Katrin Schneider jeweils den Charakter und die Geschichte dieser lokalen Kinos – und obwohl ich bisher nicht eines dieser abgebildeten Kinos aufgesucht habe, wächst in mir dank des Buchs der Wunsch, mehr die deutsche Provinz und deren Kinos kennenzulernen. Zum Beispiel: der Traumpalast in Backnang, Baden-Württemberg, von außen ein schönes, aber nicht sehr auffälliges altes Giebelhaus, von innen macht das Kino des Kinobetreibers Heinz Lochmann seinem Namen aber alle Ehre: ein Traum in tiefblau, mit Sternen an den Wänden. Oder das Krone-Theater in Titsee, das hätte ich neulich sogar fast besucht, als ich mit meinem Sohn auf Wanderurlaub im Schwarzwald war, ergab sich dann aber doch nicht. Von außen etwas in die Stadt gequetscht, von innen ein schöner Saal in rot-blau. Das Subiaco in Alpirsbach ist fantastisch: Ein Kino im Kloster, von einem Pfarrer gegründet, das große Kreuz hängt noch an der Wand, es ist der ehemalige Speisesaal des Abtes. Kurzer Blick auf die Internetseite des Kinos: Derzeit läuft da „Twisters“. Dann ist da Marias Kino in Bad Endorf, über das 1976/77 ein Dokumentarfilm gedreht wurde, von Doris Dörrie und Wolfgang Berndt. Es existiert immer noch, derzeit läuft „Petra Kelly – Act now!“ Man sieht schon nach wenigen Blicken auf die Internetseiten der Kinos. So vielfältig das Äußerliche ist, so vielfältig sind auch die Kinoprogramme – offenbar können sich eine ganze Menge dieser Kinos zumindest hin und wieder erlauben, auch Arthouse und Nischenfilme zu zeigen. Das großartige Kino Dampfsäg in Sontheim, Bayern – in einem ehemaligen Sägewerk – zeigt zum Beispiel „White Bird“ von Marc Forster – und zwar „in Zusammenarbeit mit den Landvolkgemeinschaften im Unterallgäu und mit dem KLB-Bildungswerk Augsburg“. Die Kinobetreiber müssen sich dann eben lokale Unterstützung suchen, um ihre Filmprogramme verwirklichen zu können.

Die Kammerspiele in Treuenbrietzen sind ein innen wie außen imposantes Gebäude, man möchte dieses Baudenkmal nicht in einem 8000-Einwohner-Ort in Brandenburg vermuten. Und solche Kinos sind dann auch auf alternatives Programm angewiesen – sie müssen mehr bieten als nur Kino. Die Kammerspiele etwa zeigen zwar Seniorenkino, bieten aber auch Metalnächte oder andere Konzertveranstaltungen. Wir begleiten Katrin Schneider nach Grünberg, Hessen ins Kino Grünberg, nach Neustrelitz, Mecklenburg-Vorpommern ins Fabrik Kino (im Programm: „Letztes aus der DaDaer“), nach Gronau, Niedersachsen in die Lichtspiele.

Andreas Dresen hat ein schönes Vorwort geschrieben. Bilder und Texte sind einfach toll und das Buch schließt wirklich eine Lücke, von der mir vorher gar nicht klar war, dass sie in der Kinoliteratur besteht. Aber das tat sie – und viele dieser Beiträge zeigen auch, wie knapp manche Kinos daran vorbeischlittern, dicht machen zu müssen. Aber diese Kinos sind unglaublich wichtige Beiträge im Alltagsleben der Menschen in Orten und kleineren Städten. Es sind Begegnungsstätten, es sind Orte, die die Jugend zu sinnvollen Freizeitbeschäftigungen bringt, es sind wichtige Kulturorte, gerade in Gegenden, wo es sonst nicht viel gibt. Diese Kinos müssen weiter bestehen und Katrin Schneider kann vielleicht nicht verhindern, dass weitere schließen müssen in den kommenden Jahren, aber sie sorgt für Aufmerksamkeit und Interesse. Ich merke ja selbst an mir, wie großstadtfixiert meine Kulturwahrnehmung ist. Und wenn ich so durch die Kinoprogramme dieser kleinen Kinos surfe, da stelle ich mir vor, wie mein Kinokonsum wäre, wenn ich in Quernheim, Nettetal, Großhennersdorf oder Geesthacht wohnen würde: Ich glaube ich würde auch die Blockbuster schauen, ja Kinderfilme, nur damit ich ins Kino kann. Und wenn dann hin und wieder eine kleine Perle des Arthousekinos liefe, dann wäre ich glücklich. Danke für diesen wundervollen Blick auf die deutschen Provinzkinos!

Katrin Schneider
CINEMA PROVINZIALE. Lichtspieltheater in der Provinz.
Mit einem Vorwort von Andreas Dresen 312 Seiten, 245 x 200 mm, über 300 farb. Abb
1. Aufl., Oktober 2024 34,– € sofort lieferbar
ISBN 978-3-7410-0477-3

https://www.schueren-verlag.de/programm/titel/cinema-provinziale.html

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