„DER DEUTSCHE FILM. Aus den Archiven der Deutschen Kinemathek“ im Hatje Cantz Verlag

„DER DEUTSCHE FILM. Aus den Archiven der Deutschen Kinemathek“ im Hatje Cantz Verlag

Ende November 2024 schließt die Deutsche Kinemathek an ihrem bisherigen Standort im Sony Center am Potsdamer Platz. Anfang 2025 zieht sie in ihr Zwischenquartier in das E-Werk in Berlin-Mitte, bevor es dann irgendwann in ihr neues Domizil, dem Filmhaus, das neben dem Gropiusbau entstehen soll, einzieht. Das Buch „Der deutsche Film. Aus den Archiven der Deutschen Kinemathek“ gibt einen Überblick zumindest über einen Teil der Bestände der Sammlung zur deutschen Filmgeschichte – aus nun bald 130 Jahren. Und es hilft und über die Zeit des Provisoriums hinweg, in dem viele Exponate aus der Sammlung nicht zu sehen sein werden. Erwartungsgemäß geht das Buch chronologisch vor – und es zieht uns tief hinein, mit seiner Detailfülle, mit seinen Anekdoten, seinen Bildern, seinem Reichtum an Wissen über die Technik, über die Protagonist*innen, über die Strömungen, über die Entwicklungen in diesen 130 Jahren. Es gibt so vieles an dem ich hängen bleibe, so viele Dinge, bei denen ich weiterforschen möchte. Und vor allem: Die Liste der Filme, die ich unbedingt jetzt sehen – oder wiedersehen – muss, wächst im Lauf der Lektüre ins Unermessliche.

Das erste Kapitel umfasst den Zeitraum zwischen 1895 und 1909. Wir entdecken einen Vorläufer der Filmprojektion, das Mutoskop, das Mittels am Betrachter vorbeiratternder Papierfotos den Eindruck der Bewegung erzeugt. Wir erleben die ersten fest eingerichteten Kinos, etwa das Apollo-Theater in der Friedrichstraße. Wir lesen von „anstößigen Streifen“, deren Vorführungen von der Polizei kontrolliert werden. Wir erleben die geradezu beeindruckende Schönheit früher Filmprojektoren, etwa den „Englischen Schläger“ oder den „Ernemann Imperator“. Wir begegnen den Brüdern Lumière, die ihre Filme international vermarkten und auch in Deutschland Filme drehen, Köln, Berlin, Dresden, wir sehen Bilder aus diesen Werken. Schließlich lernen wir die Brüder Skladanowsky mit ihrer innovativen, aber nicht sehr lange andauernden Filmkarriere kennen. Das Skladanowsky-Daumenkino, das im Buch abgebildet ist, ist so schön. Ich träume von einem solchen Flohmarktfund. Dann entdecken wir ein wunderschönes Glasdiapositiv vor Erfindung des Kinos aus der Sammlung von Gerhard Lamprecht – der ersten Berliner „Kinemathek“.

Neuerungen in der Filmtechnik (erste Farbfilmversuche), in der Filmherstellung (die Studios), in der Filmpräsentation, in der Filmwerbung (siehe insbesondere die wunderschönen Filmplakate aus den 1910er Jahren), zu viel um hier en detail darauf einzugehen. Wir machen einen kleinen Sprung:

Im Jahr 1911 wurde die Kino-Kopier-Gesellschaft gegründet, die späteren Geyer-Werke. Vorher hatten Filmfirmen alles selbst gemacht, die komplette Produktion bis zum fertigen Film, Karl A. Geyer, Ingenieur von Hause aus, beschloss nun, sich auf den technischen und industriellen Teil der Filmherstellung zu konzentrieren, das Kreative war nicht seins – eine durchaus sinnvolle Aufteilung. Im Jahr 1911 stellte die Firma 375 Kopien des dänischen Films „Die vier Teufel“ her, in kürzester Zeit, ein erster großer Erfolg. 1914 zog die Firma in die Harzer Straße 39 und wurde damit zu einem Neuköllner Erfolgsmodell. Selbst ein Großfeuer im Jahr 1917 überlebte die Firma und führte zu neuen Sicherheitsvorschriften bei der Herstellung und Lagerung des Filmmaterials.

Auch die Stars des frühen deutschen Kinos lernen wir kennen, Asta Nielsen, Henny Porten, das Buch holt für uns aber auch längst vergessene Namen aus der Dunkelheit, etwa Luise del Zopp, zuerst Operettensängerin, später Drehbuchautorin. Oder Fern Andra, ein Stummfilmstar, Regisseurin, Autorin, Schauspielerin, ihre eigenen Stuntfrau, hatte ein eigenes Studio, erfand quasi das Filmmerchandising – das erinnert mich von der Vielfalt her ein bisschen an Buster Keaton. Und keiner kennt sie mehr? What? Kurze Nachrecherche auf eigene Faust: In der Tat, die Zeitungen der 10er Jahre sind voll von ihr („welch zündende Begeisterung erweckt nicht dieser Name“). Noch ein großer Sprung, über Caligari, die Fortschritte in der Filmarchitektur, die Geschichte der Filmzensur, den Stummfilmwestern hinweg springen wir zum Setbesuch des Reichspräsidenten Ebert zu den Dreharbeiten des Films „Anna Boleyn“, 1920, Regie: Ernst Lubitsch, Henny Porten und Emil Jannings in den Hauptrollen. Einer der Ufa-Chefs führte den Reichspräsidenten über das Freigelände und in die Studios in Tempelhof. Es ging um eine Annäherung zwischen Politik und Film – in beiderseitigem Interesse. Angeblich riefen die anwesenden Statisten einer Massenszene „Nieder mit Ebert!“ Wenige Jahre später werden die Nazis die Verquickung von Politik und Film noch viel weiter führen…

Es geht weiter mit Erzählungen, Anekdoten, Bildern, an denen ich hängen bleibe: Asta Nielsen spielte 1921 Hamlet. Robert Wiene drehte noch vor Nosferatu einen Vampirfilm, „Genuine“ mit der oben erwähnten Fern Andra als Vampirin. Lotte Reinigers Scherenschnittfilm „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ (1923-1926) war der erste Animations-Langfilm der Filmgeschichte, noch lange vor Disney. Die KIPHO, die Kino- und Photoausstellung 1925 in Berlin am Kaiserdamm – man träumte davon, daraus ein festes Kinomuseum und Filmarchiv entstehen zu lassen – ein Traum, der sich lange Zeit nicht erfüllte. Und schließlich ein paar ausführliche Abschnitte über „Metropolis“. Und so bietet ein Kapitel nach dem anderen neue, großartige Entdeckungen und frische Blicke auf Themen, mit denen man sich schon auszukennen glaubte.

Schließlich sind wir im Dritten Reich angelangt, auch für die bereits beschriebenen Geyer-Werke haben sich die Zeiten geändert. Dezember 1934, Leni Riefenstahl schneidet ihren Film „Triumph des Willens“, Hitler besucht sie, schaut ihr bei der Arbeit zu. Für ihren nächsten Film, „Olympia“, bekommt sie sogar ein eigenes Gebäude, mit Vorführ- und Schneideräumen, in denen sie zwei Jahre lang arbeitet, bis der Film in die Kinos kommt. Seit 1933 stand die gesamte Filmbranche unter der Kontrolle der Reichsfilmkammer, Geyer und seine beiden Söhne arbeiteten dort mit. Die Zahl der Aufträge schießt in die Höhe, vor allem aufgrund der Wochenschauen, allerdings müssen die Geyerwerke Preissenkungen hinnehmen.  Im Februar 1945 gibt es Schäden bei Luftangriffen, als die Russen einmarschieren, demontieren sie die Technik, noch bevor die Amerikaner kommen werden. 1948 wird Karl A. Geyer entnazifiziert, er gründet die Werke zunächst in Hamburg neu, die Werke in Berlin wurden ab 1954 wieder neu aufgebaut.

Wir machen einen großen Sprung in die 1950er Jahre in Westdeutschland. Ich bin den Autor*innen des Buchs sehr dankbar, dass dem ansonsten in der Filmliteratur so unterrepräsentierten Unterhaltungsfilm so viel Platz eingeräumt wird – wie hier etwa dem westdeutschen Musikfilm, „Wenn die Conny mit dem Peter…“ oder „Hier bin ich, hier bleib ich“ mit Caterina Valente: „Die professionellen und souveränen Darbietungen besonders von Caterina Valente und Peter Alexander veredeln einige der Filme, mehr noch: Sie transzendieren die Banalität der Handlung. Valente gelingt es, aus einer simplen Handlung organisch anspruchsvolle Performances entstehen zu lassen.“ Dann der Abschnitt über Rassismus im Film: Ich habe schon viel gesehen, aber die Existenz von Filmen wie „Zwei Bayern im Urwald“ ist in der Tat bisher an mir vorbeigegangen: „Den zum größten Teil namenlosen einheimischen Figuren wird nicht einmal eine eigene Sprache zugestanden, sie werden entweder albern synchronisiert oder haben keine Dialoge.“

Sehr dankbar muss man dem Buch auch sein, dass es immer wieder Berufssparten berücksichtigt, die sonst wenig wahrgenommen werden, Kostümbildner, Pressefotografen, Filmplakatdesigner, Setdesigner, Filmkritiker (großartig der Beitrag über Joe Hembus, Zitat Hembus: „Was ist los mit dem deutschen Film? Ließe sich das Dilemma aufgliedern, so müsste die Antwort lauten: Er ist schlecht. Es geht ihm schlecht. Er macht uns schlecht. Er wird schlecht behandelt. Er will auch weiterhin schlecht bleiben.“). Übrigens muss, glaube ich, so etwas wie die Geschichte des deutschen Filmjournalismus noch geschrieben werden, ich glaube, das könnte sehr spannend sein.

Und dann geht es weiter, wir sind in den 1960ern angekommen, hier zwei drei Kapitelüberschriften mit Themenbereichen, über die ich praktisch nichts wusste: „Film als ‚optische Literatur‘: Die Filme des Literarischen Colloquiums Berlin“, „Kiezchronist: Jürgen Roland auf St. Pauli“, „Der Aufbruch der Filmemacherinnen 1966“, „Der Dokumentarist und Chronist Peter Nestler“, „Filme der Polizeihistorischen Sammlung Berlin“. Oh, und wie großartig, das Thema meiner Magisterarbeit hat auch zwei Seiten bekommen: „Kafka auf der Kinoleinwand“, mit einer treffenden Beschreibung der großartigen Prozeß-Verfilmung von Orson Welles.

Spannend ist auch die Doppelseite über „Christiane F.“: Sie erzählt von der Zusammenarbeit von Uli Edel, dem Regisseur, Herman Weigel, dem Drehbuchautor und dem Filmproduzenten Bernd Eichinger, die gemeinsam in München studiert hatten. Eichinger war eigentlich Bewunderer der Filme von Roland Klick („Supermarkt“, 1974), und wollte ihn als Regisseur engagieren, aber es gab Unstimmigkeiten zum Thema „Authentizität“. Es gibt einen zwölfseitigen Brief von Klick an Eichinger, eine Seite davon ist im Buch abgedruckt: „Möglichst jung, – so Deine Forderung, sollten die Darsteller sein: Kinder! Ich gebe Dir recht. Kinder also, darüber sind wir uns einig, die andererseits imstande sind, Zustände zu spielen, die sie nicht, und auch keiner von uns jemals gekannt hat: Tiefe und schwerste, – authentische Drogenzustände. Es sollte auf der Hand liegen, daß soetwas mit, von Schauspielkunst völlig unbeleckten Wesen zu erarbeiten, vielleicht schwieriger ist, als John Travolta das Tanzen beizubringen“.

Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll mit den Filmen, die ich sofort sehen, bzw. wiedersehen möchte. Vielleicht beginne ich mit den im Kapitel „Berliner Subkultur in den 1980er-Jahren“ genannten Filmen: Frontstadt, Asphaltnacht, Kalt wie Eis, So war das SO 36, Nekromantik, oder aus Ost-Berlin: Unsere Kinder, Einmal in der Woche schrein. Oder lieber Filme aus der Frühphase des deutsch-türkischen Kinos? 40 qm Deutschland, Yasemin, Abschied vom falschen Paradies, En Garde? Oder die Filme von Pia Frankenberg, die ich bisher leider verpasst habe: Nie wieder schlafen, nie mehr zurück, Nichts ohne Dich, Brennende Betten? Oder einige der „Berliner Milieustudien“ der 2000er Jahre, die ich dann doch verpasst hatte (S. 802f)?

Das Buch ist so voll an mir bisher nicht bekannten Namen und Filmen, dass es eine wahre Freude ist – und selbst bei den bekannten Namen gibt es unzählige Bilder oder Dokumente, die mir neu waren. Ich finde es auch durchaus treffend, dass das Buch keine kohärente Filmgeschichte konstruiert, sondern eben diese unzähligen Ereignisse, Erfindungen, Biografien, Filme etc. am Zeitstrahl auffädelt und das ganze zu einem brillanten, zutiefst unterhaltsamen, liebevoll zusammengestrickten, beinahe 1000 Seiten dicken Band mache, den man nicht mehr zur Seite legen möchte. Das ist für mich die neue Bibel zum deutschen Film, ein grandioses Werk, jeden einzelnen Euro wert. Jeder, der das Buch in die Hand nimmt, kommt nicht umhin, viele Stunden damit zu verbringen – und dann noch viel, viel mehr Stunden damit, wenigstens einen Teil der Filme, auf die man Lust bekommen hat, endlich anzuschauen.

Ich glaube, das letzte Mal, dass ein Filmbuch so sehr auf meinen Filmkonsum Einfluss nahm, wie dies bei diesem Buch der Fall sein wird, war, als ich1991 das erste Mal „Reclams Filmführer“ in den Händen hielt – und mir vornahm, alle Filme anzuschauen, die darin enthalten sind, was ich glaube ich auch weitgehend geschafft habe. „Der deutsche Film“ wird mein filmisches Leben auf lange Zeit begleiten.

Der deutsche Film
Aus den Archiven der Deutschen Kinemathek

Herausgegeben von: Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen
Texte von: Rainer Rother, Karin Herbst-Meßlinger, Rolf Aurich, Kristina Jaspers, Peter Mänz
Einleitung von: Rainer Rother

Oktober 2024 | 960 Seiten | 2.700 Abb.| Hardcover | 24 x 29 cm | ISBN 978-3-7757-5786-7 (D) | ISBN 978-3-7757-5785-0 (E) | € 98.00

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert