Jörg Rubberts „ITALY – Street Photographs 1978 – 1986 on Kodachrome Film” im PalmArtPress Verlag

Ich sag’s lieber gleich: Ich bin, was die nachstehende Buchrezension angeht, voreingenommen. Ich bin mit dem Autor und Fotografen des Buches befreundet, ich habe schon ein Buch gemeinsam mit ihm gemacht, „LIVIN‘ IN THE HOOD – New York Street Life 1990 & 2013/2014“, ein Buch, auf das ich sehr stolz bin und das gerade gleich mehrfach mit Buchpreisen ausgezeichnet wurde. Noch mehr: Ich habe sogar das Vorwort zu dem Buch geschrieben, um das es gleich geht. Das hätte ich aber nicht getan, wenn mich das Projekt nicht komplett, von der ersten Minute an, als Jörg mir davon erzählt hatte, überzeugt hätte.

Jörg Rubberts „ITALY – Street Photographs 1978 – 1986 on Kodachrome Film” ist ein Rückblick in die Vergangenheit, gleich in mehrfacher Hinsicht: Das Buch zeigt frühe Arbeiten von Rubbert, die aber schon erstaunlich ausgereift sind, einen präzise beobachtenden Blick zeigen. Das Buch zeigt aber auch einen Blick auf ein Italien, wie wir es so heute nicht mehr sehen können. Rubbert dokumentiert das Italien der Achtziger, in denen der Tourismus noch nicht alles erforscht und durchdrungen hat. Und Rubbert blickt zurück auf eine Zeit, in der alle Fotografen mit Film fotografiert haben – weil es die Digitalfotografie noch lange nicht gab. Rubbert gibt sogar dem Buch dafür die äußere Form, nämlich das Kodachromegelb einer alten Kodachrome-Schachtel. Und wer Jörgs Bücher kennt, ahnt, dass er auch dieses Mal wieder über das Thema des Buches schreiben wird – einen Blick in jene Zeit gewährt und auch einen Blick auf das Reisen durch Italien in der damaligen Zeit geben wird.

Wie in allen seinen Büchern zuvor ordnet Jörg auch hier sein fotografisches Thema in den politischen, sozialen oder kulturellen Kontext ein: „Die Hochphase des extremistischen Terrors“ benennt er einen seiner Abschnitte in der „Zustandsbeschreibung“ der italienischen 70er und 80erjahre. Es geht um die Anschläge der Roten Brigaden, die Ermordung Aldo Moros 1978, die Regierung Andreotti, den Anschlag auf den Hauptbahnhof von Bologna. Ich kann mich an die Namen und die Ereignisse von damals erinnern, wenn auch nur grob, verstanden habe ich sie damals nicht wirklich – aber ich habe schon früh einfach mitgeschaut, wenn meine Eltern die Tagesschau ansahen. Und da fielen eben diese Namen, Aldo Moro, Andreotti, Bologna, die Roten Brigaden.

Im nächsten Abschnitt wechselt Jörg dann die Blickrichtung: Er begibt sich auf eine Italienreise durch die Augen von Pier Paolo Pasolini. 1959 fuhr Pasolini mit einem Fiat 1100 die gesamte italienische Küste ab, was er in seinem Tagebuch, das er kurz darauf veröffentlichen wird, festhält. Jörg folgt ihm virtuell auf dieser Reise – und durch sein Leben, bis zu seiner Ermordung im Jahr 1975.

Im persönlichsten Teil des Textabschnitts des Buchs erzählt Jörg, wie er 2020 während der Pandemie, Italien für sich wiederentdeckte, als er mit seiner Tochter nach Florenz und Siena reiste – für ihn auch der Anlass, seine alten Bilder von damals wieder hervorzuholen und die Eindrücke von damals mit den heutigen zu vergleichen. „Als ich die Bilder allerdings genauer unter die Lupe nahm“, schreibt Jörg, „fiel mit ein entscheidender Unterschied auf: Da ich bis heute vorwiegend Menschen in ihrem sozialen Umfeld fotografiere, konnte ich geänderte Verhaltensweisen, sozusagen eine neue ‚condition humaine‘ ausmachen – die Menschen gehen im wörtlichen Sinn mit der Zeit und haben sich angepasst: Sie gehen mit einer anderen Geschwindigkeit durch den Alltag, kommunizieren mit den neuen Medien nahezu überall und sind Effizienz-orientierter und betriebsamer als früher.“ Er entdeckt in seinen Bildern die analoge, entschleunigte Welt wieder, den veränderten Umgang mit dem Faktor Zeit, den Menschen in seiner gewachsenen Abhängigkeit von modernen Medien.

Aber nun endlich zu Jörgs Fotografien. Der Bildteil beginnt mit einer Aufnahme von Florenz im Morgenlicht, 1978, Jörg zitiert dazu Heinrich Heine: „Ich bin den ganzen Tag in Florenz herumgeschlendert, mit offenen Augen und träumendem Herzen. Sie wissen, das ist meine größte Wonne in dieser Stadt, die mit Recht den Namen ‚la bella‘ verdient.“ Im Morgendunst sieht man dem Bild seine analoge Entstehung an, wunderbar, eine alte Straßenlaterne, ein Straßenschild, abblätternde Fassaden. Im dritten Bild, „Luftballons vor dem Palazzo Vecchio“ nimmt Jörg in der Bilderzählung zwei Leitmotive auf, die durch das Buch führen: Spuren von Toruismus, wobei selten die Touristen selbst ins Bild kommen, aber hier ist eben ein Luftballonverkäufer, der den Kindern der Stadtbesucher Ballons verkauft. Und diese, und daran besteht das zweite Leitmotiv, sind rot. Die Farbe Rot taucht in den Bildern immer wieder in besonderer Weise auf, hier in den Ballons, später in Kleidern („Il Carabiniere e la Signorina“) und in einem ebenfalls immer wieder auftauchenden Motiv: Autos (die rote Ente aus dem Bild „Ente & Rolls-Royce“ aus dem Jahr 1983. Quasi rhythmisch setzt Jörg zwischen seine Aufnahmen der klassischen Street Photography, die eben Menschen zeigt, auch Stillleben, Fassadenfotos, Fotos leere Straßen. Aber auch diese Bilder zeigen Spuren des Lebens, könnten vielleicht von den leeren Straßen der Mittagsruhe erzählen. Wir sehen ein Handtuch und einen Vogelkäfig, abgedeckte Verkaufswägen, die rotbraunen Dachlandschaften von Florenz, die Tore einer Florentiner Villa, alles Bilder die in ihrer Ruhe die gemächliche Lebhaftigkeit des Resttages mit andeuten.

In Pisa wiederum, lässt sich der Tourismus nicht so sehr verstecken, wie in Florenz. Pisa ist viel kleiner und mit seinem Wahrzeichen, dem schiefen Turm, dennoch eine Berühmtheit. Wir finden hier mehr Spuren dieses angedeuteten Tourismus‘ von dem ich eben sprach. Der Eisverkäufer mit seinem Wagen. Er hat sichtlich nichts zu tun gerade. Die Bildrhythmen eines Reiseführerladens und von Souvenirshops. Der muskulöse Verkäufer mit seiner (?) geparkten Honda wartet geduldig auf Kundschaft. Der Touristenmaler hat seine Stühle und seine Staffelei samt Beispielbild gerade verlassen.

In Venedig kommt Jörg natürlich nicht umhin, etwa ein Touristenrestaurant an der Rialtobrücke aufzusuchen oder über den Markusplatz zu schreiten, doch bald begibt er sich in weiter entfernte Nebenstraßen der Lagunenstadt. Einheimische Damen auf dem Weg zur Kirche, ein Taxibootfahrer, der in der Pause eine Tageszeitung liest (in der es ausgerechnet um Erfolge des deutschen Fußballs geht), aufgehäufte Müllsäcke, die bald von der Bootsmüllabfuhr abgeholt werden, Fassadenbilder, Straßenfundstücke, etc.

Im Abschnitt über den ländlichen Teil Italiens, Elba, Sizilien, Apulien, Kalabrien, Kampanien, Ligurien wechselt der Blick dann wiederum mehr zum Arbeits- und Lebensalltag der Bewohner, wartende Fischer, ruhende Senioren, Frauen bei der Osterprozession, Nonnen am Meer etc. Auch die geliebten Fahrzeuge der Italiener spielen eine bilderzählerische Rolle, der Alfa-Romeo, die Vespas (gerne auch wieder im leitmotivischen Signalrot) etc. – und es gibt eine Spur des Politischen, ein Hakenkreuz bei einer Holztür auf Elba. Das Buch schließt mit einem dunklen Mailänder Bild: „Der Priester und der Schieber“ vom Mailänder Hauptbahnhof aus dem Jahr 1986.

Jörg Rubberts Italienbuch übt eine Faszination auf den Betrachter aus, wenigstens auf jeden, der schon mal voller Liebe und Zuneigung dieses Land besucht hat. Und was in jedem Fall für das Buch gilt, ist, dass Bilder im Lauf von Jahrzehnten reifen können. Oder um mich selbst aus dem Vorwort des Buches zu zitieren: „Jörgs Fotografien haben die Funktion eines Zeitfensters, das uns einen intimen Blick auf die Menschen gewährt, die damals die Straßen füllten. (…) Jörgs Buch ist ein persönliches und authentisches Dokument, das uns alle an unsere eigene Italien-Biografie erinnert. (…) ‚ITALY 1978 – 1986‘ ist eine Einladung, die Essenz Italiens zu erfassen, die zeitlos ist.“

https://www.palmartpress.com/p/italy-1978-1986

Jörg Rubbert ITALY Street Photographs 1978–1986
ca. 192 Seiten Hardcover
110 analoge Farbfotos
29 x 26 cm Deutsch / Englisch
ISBN: 978-3-96258-192-3
Oktober 2024 ca.
(D) 45 EUR / (A)45,80 EUR

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert