Ich muss ja gestehen, dass ich mich mit der Züricher Kinolandschaft so überhaupt nicht auskenne. Eher noch mit der Basler, weil Basel in meiner Jugend die für mich mit dem Fahrrad erreichbare größere Stadt war, in deren Kinos ich Filme entdecken konnte, die in der südbadischen Kleinstadt, aus der ich stamme, nicht zu sehen waren. In Lörrachs Kinos, damals das Hirschen und das Union, sah ich E.T., den Otto-Film, die Didi-Filme. In Basel entdeckte ich dann etwa das asiatische Kino, den amerikanischen Independent-Film und vor allem die Vielfalt des europäischen Films. Warum interessiert mich nun ein Buch über die Züricher Kinolandschaft und -geschichte? Das hat mehrere Gründe: Es hat so ein liebevoll gestaltetes Cover. Es hat eine große Vielfalt an historischen Fotos, Abdrucke von Plakaten und großartige Illustrationen, von Elias Nell und von der Autorin selbst, Tina Schmid. Das Buchdesign (Gestaltung: Tina Schmid; Lithographie: Marjeta Morinc) ist so wunderbar, mit Tabellen, Zeitstrahlen, Kärtchen – alles Details die mich in so ein Buch reinziehen. Und: Es ist bei Scheidegger & Spiess erschienen, einem meiner Lieblingsverlage im Bildbandbereich – zuletzt hatte ich zum Beispiel „Ernst Scheidegger – Fotograf“ in der Hand.
Das Zürikinobuch beginnt mit dem Vorwort der Historikerin Elisabeth Joris: In „Heimat Kino“ erzählt sie von ihrer persönlichen Kinovergangenheit in Zürich, die Vielfalt an Filmen, die vielen Originalfassungen, die Filmentdeckungen, die sie dort gemacht hat – Fellini, Godard, Varda, Akerman, aber auch mir weniger bekannte Namen wie den der Schweizer Dokumentarfilmerin Jacqueline Veuve. Diese persönlichen Kinoerzählungen sind immer so wundervoll, ich finde man könnte ganze Autobiografien an den Film- und Kinoerlebnissen aufhängen und erzählen. Um kurz meine eigene Kinoautobiografie wenigstens anzureißen: Mein erster Film war im Union Kino in der südbadischen Kleinstadt Lörrach, in der ich aufgewachsen bin – Steven Spielbergs E.T. – letztes Jahr ist das Kino geschlossen worden. Das Free Cinema, ein kleines, unabhängiges junges Kino in Lörrach, das immer wieder kurz vor dem Aus stand, und das mir den sonst kaum zugänglichen Arthouse-Film in der Kleinstadt näherbrachte. Ein paar der Basler Kinos, in denen ich so viel vom europäischen und vom Weltkino entdecken konnte – etwa das Atelier beim Theater oder das Kino Camera in Kleinbasel. Später in Freiburg der Kandelhof, der Friedrichsbau, das Unikino und das Kommunale Kino im Wiehrebahnhof – nie wieder war ich häufiger im Kino als in Freiburg. Und dann in Berlin die Vielzahl an verschiedenen Kinos, der Zoopalast, die Astor Filmlounge, das International, das Yorck, das Il Kino, das Neue Off und und und.
In mühseliger Kleinarbeit hat sich Tina Schmid unzähliger Quellen und Archive bedient, um erstmalig umfassend die Züricher Kinogeschichte zu erforschen: aus dem Stadtarchiv, den Polizeiakten, dem Archiv der Cinémathèque Suisse, der Sammlung der Filmhistorikerin Dr. Mariann Sträuli. Und schon in Schmids Einleitung stoßen wir auf einen Satz, der die Kinogeschichte im Allgemeinen und die Züricher Kinogeschichte im Besonderen betrifft: „Für mehr Rendite werden Kinos geschlossen“ – und: „Der Kampf um bezahlbaren Wohnraum für Kultur ist uralt.“ Und so wird dieses Buch einerseits zu einer Totenfeier für all die vergessenen und unvergessenen Kinosäle Zürichs – und andererseits eine Feier des weiterhin lebendigen Kinos als Kulturort, als sozialer Ort, als Architekturort, der sich im Lauf der letzten 130 Jahre immer wieder gewandelt, neu erfunden hat und der immer wieder Krisen – so wie auch heute wieder – überstanden hat. Allein die Revolutionen audiovisueller Techniken haben das Kino immer wieder zu einer Erfolgsgeschichte werden lassen – oder es in die Nähe des Abgrundes gebracht: Tonfilm, Farbfilm, 3D-Film, digitaler Film als technische Innovationen, die das Kino weitergebracht haben – und das Fernsehen, Video, DVD, Streaming, die Gefahren für die Weiterexistenz von Kinos heraufbeschworen haben.
Neben einigen Vorläufern beginnt die eigentliche Züricher Kinogeschichte 1907, als gleich mehrere vorhandene Säle ausschließlich oder vorwiegend als Vorführorte für Kinofilme genutzt werden. Ab 1912 wurden Kinos dann auch in Neubauprojekte eingeplant. Jean Speck ist der namhafteste Züricher Kinopionier, ein ehemaliger Schuhmacher, der sich im Jahr 1900 einen Kinematographen kaufte und begann, Filme zu zeigen. Später eröffnet er mehrere Züricher Kinos und zeigt Filmwerke wie „Venezianisches Gondelfest“, „Ein amerikanisches Gussstahlwerk“ oder „Großfeuer in einem Irrenhause Londons“. Ein Kino nach dem anderen kommt in Zürich dazu, bisweilen gegen die Widerstände etwa von Kirchen oder Lehrern. Verrohung, Gesundheitsschäden und Feuergefahr sind die Gefahren, vor denen gewarnt wird. Kinder und Jugendliche lieben das neue Medium, Pfarrer und Lehrer glaubten besser zu wissen, was gut für Kinder sei.
Dann breitet Tina Schmid die ganze Vielfalt der historischen und gegenwärtigen Züricher Kinos aus, jedes einzelne Kino wird mit Fotos, Postern oder Illustrationen vorgestellt, mit einer ausführlichen Biografie, mit wunderbaren, spannenden, interessanten Details. Da ist das Radium, das von 1907 bis 2008 existiert hat. Kindervorführungen sind dem Betreiber A. Fischer nicht erlaubt. Western, Arthouse, Erotik, alles zeigt das Kino im Lauf seiner Existenz, im Jahr nach der Schließung findet man im Haus alte Stummfilmplakate, etwa von „Die Ehre verloren – Alles verloren“ aus dem Jahr 1907, „Die Feuertaufe“ und „Die dunkle Stunde“ aus dem Jahr 1913. Da sind die Palast-Lichtspiele, später in Palace umbenannt, das Kino existierte von 1912 bis 1965. Es ist eines der Kinos, das von dem oben erwähnten Kinopionier Jean Speck gegründet wurde, mit einer Mausfalle und einem Stück Speck wurde das Kino beworben. Zunächst erfolgreich verkommt es spätestens in den 60ern, man versucht sich mit Pornos zu retten, das Filmbulletin wählt das Palace zum schlechtesten aller Kinos, dann wird dem Betreiber gekündigt. Das Bellevue, an bester Adresse, entsteht 1920 aus dem Speisesaal des Grand Hotel Bellevue au Lac, 700 Menschen passen hinein, junge Damen in von Rokoko-Kostümen eröffnen das Lichtspieltheater. Mehrfache Renovierungen und Umbauten stehen über die Jahrzehnte hinweg an, der große Saal wird in vier kleinere Schuhschachtelkinos verwandelt. 2005 wird dicht gemacht, wie so oft spielen Banken eine unrühmliche Rolle, lieber sollen Luxusmarken einziehen. Das Corso hat bereits eine Lichtspieltradition hinter sich, als es 1947 als reines Kino wiedereröffnet wird – und bis heute existiert. 1300 Plätze hat es bei der Eröffnung.
So wandern wir weiter durch die Züricher Kinogeschichte, wir erfahren vom Lunch-Kino im Le Paris, vom Skandal um den Züricher Filmpreis 1977 im Kino Frosch, von den Gängelungen der Polizei gegenüber den Kinos in den frühen Jahren, von Konzessionsentzügen. Das Buch erzählt von „Schnäggekinos“, von prominenten Kinobesuchern, von „Frauennachmittagen“, von Demonstrationen, Flugblättern und Filmverboten, von Placeuren und Operateuren, von Skandalen und Skandälchen, von Erfolgsgeschichten und mindestens so oft von Geschichten des Scheiterns.
Tina Schmid, die vor dem Zürikinobuch bereits ein ähnlich ausgestattetes Züribadibuch über die Züricher Schwimmbäder veröffentlicht hat, ist von Hause aus Kunstlehrerin, stammt gebürtig aus Zürich, hat in Bern, Wien und Zürich Kunstgeschichte und Kunstvermittlung studiert und arbeitet neben allem anderem auch als freischaffende Illustratorin, was man dem Buch jederzeit ansieht. Um es kurz zu machen: Das Zürikinobuch ist das wahrscheinlich schönste Sachbuch, das ich dieses Jahr in den Händen gehalten habe. Ich bin geradezu verliebt. Es ist so wundervoll, so detailliert, so voller Sammelfreude, so voller Kultur-, Kino-, Zeit- und Stadtgeschichte, dass ich mir ein Loch in den Bauch ärgere, dass ich mich in Zürich so wenig auskenne und so selten dort war. Tina Schmid und Scheidegger & Spiess können diesem Ärgernis aber abhelfen: Sie können aus dem Zürikinobuch eine regelrechte Buchserie machen. Ich fordere hiermit mindestens ein Baselkinobuch und ein Berlinkinobuch in vergleichbarer Ausstattung und Pracht, am liebsten aber eine ganze Serie zu einem meiner Lieblingsthemen, Kinogeschichte. Danke schon mal dafür.
https://www.scheidegger-spiess.ch/produkt/zuerikinobuch/1527
ZÜRIKINOBUCH
Von Tina Schmid
2024
Gebunden
232 Seiten, 141 farbige und 230 s/w-Abbildungen
19 x 25 cm
ISBN 978-3-03942-223-4
Lithografie: Marjeta Morinc
Konzept, Farbfotografien, Text, Gestaltung: Tina Schmid
Interviews und Illustrationen der Operateur:innen: Elias Nell
Vorwort: Elisabeth Joris
Korrektorat: Miriam Seifert-Waibel
Historisches Lektorat: Adrian Gerber & Matthias Uhlmann