Michael von Graffenrieds „Our Town“ im Steidl-Verlag


Der Steidl-Verlag hat ein neues Buch herausgebracht, das einem im Buchladen des Vertrauens sofort ins Auge fällt. Ich musste es haben. Sofort. OUR TOWN das Schweizer Fotografen Michael von Graffenried. Um es vorwegzunehmen: Es ist grandios, aber… Zu diesem ‚aber‘ später mehr.
Michael von Graffenried ist 1957 in Bern geboren. In den 80ern veröffentliche er etliche Serien mit vielfältigen Schweizer Themen. International bekannt wurde er mit seinen Bildern aus dem algerischen Bürgerkrieg in den 90ern. Im Jahr 2014 erschien bei Steidl schon sein Buch „Bierfest“.

Our Town erzählt nun vom Leben in einer amerikanischen Kleinstadt, New Bern in North Carolina, unweit der Atlantikküste, einer Stadt die einst von Schweizer Auswanderern gegründet wurde. 2020 kam es mit der Black Lives Matter-Bewegung auch in New Bern zu Protesten.
Our Town zeigt nun den Alltag der Menschen Von New Bern. Das Buch zeigt Baseballspieler, Polizist*innen, Soldat*innen, Schüler*innen, Jäger, Gärtner etc. Die breitformatigen, mehrheitlich über zwei Seiten gezogenen Bilder tauchen tief in das Leben der Menschen in der Kleinstadt ein, erzählen Geschichten von ihnen. Waffen spielen eine bedeutende Rolle: Kinder, die mit Gewehren üben, ein Ehepaar, das seine Gewehrsammlung auf der Veranda ausgebreitet hat, vor einem ausgestopften Braunbären. Sport nimmt einen wichtigen Anteil im Leben der New Berner ein: Fußball, Baseball, Football, Schwimmen, Cheerleading. Wir sehen Kundgebungen, „We support our troops“, „Trump 2020“ lesen wir. Wir schauen bei einer Verhaftung zu, absolvieren einen Besuch im Gefängnis, nehmen an Gottesdiensten teil. Familienfeste, Hochzeiten, Trauerzeremonien beobachten wir ebenso wie eine Kunstausstellung, Segeltörns. Gegen Ende des Buchs haben immer häufiger Menschen Gesichtsmasken auf, wir sind in den Pandemiezeiten angelangt.

Von Graffenrieds Bildauswahl und die Editierung ist überzeugend, der Betrachter wird ins Kleinstadtleben hineingezogen, wir wollen mehr erfahren über die New Bernerinnen, man möchte die Rätsel lösen, die in einigen der Bilder stecken. Zu den stärksten Fotos zählen jene, bei denen Graffenried ganz dicht dran war, etwa bei dem schon erwähnten Verhaftungsfoto, beim Foto einer deklamierenden Demonstrantin am Straßenrand, bei den Gottesdiensten. Graffenrieds Serie beeindruckt durch das Besondere im Alltäglichen, durch die Faszination des Banalen.

Und jetzt zu dem am Anfang angedeuteten „Aber“:
Der Einführungstext zu Our Town ist 123 Wörter lang, ich hab’s extra gezählt. Das ist alles, was es an Text in dem Buch gibt. Damit es nicht so auffällt ist der Text in Schriftgröße 70 oder so gesetzt und füllt damit zwei ganze Seiten.
Wie kann das sein? Ich hätte so gern mehr über New Bern gelesen, über den Fotografen Michael von Graffenried, über dessen entfernten Verwandten Christoph von Graffenried, der 1710 in New Bern wohl die ersten Häuser baute. Ich hätte gerne mehr über die Black Lives Matter-Proteste in New Bern gelernt, ich hätte gerne erfahren, wer die Menschen auf den Bildern sind, wann die Bilder überhaupt aufgenommen wurden. Es gibt keinerlei Bilduntertitel, im 123-Wörter-Text steht nur, dass der Fotograf 15 Jahre lang fotografierte. Wie oft und wie lange war er denn da? Keine Ahnung. Die Stadt sei „rather seperated“. Worin genau diese Trennung besteht wird nicht erwähnt.
Wie ging der Fotograf vor? Was war sein Plan? Oder fügen sich die Bilder erst im Lauf der Jahre zu einer Serie? Welche Rolle spielt die Kleinstadt? Wie lebt der Fotograf in dieser Kleinstadt, wie sehen seine Besuche aus? Wie ist die Sozialstruktur dieses Ortes? Wovon leben die Menschen da?
Klar ist ein Bild dann besonders gut, wenn es keiner verbalen Erläuterung bedarf. Aber mein Bedürfnis, wenigstens einige meiner Fragen beantwortet zu bekommen ist groß und hinterlässt mich nach Betrachtung des Buches merkwürdig unbefriedigt.
Ich weiß nicht ob ich diesen Textmangel Graffenried vorhalten müsste oder Steidl. Hatte da wirklich einer die Blitzidee, bewusst keinen Text zu schreiben, der den Namen auch verdient? Oder war’s Faulheit? Oder werden jetzt bei Steidl auch schon Fotobücher auf den Markt geschossen ohne Sorgfalt, wie bei manch anderem Verlag?

Interessant ist der Blick auf die Webseite des Verlags, die das Buch weitgehend mit eben jenem 123-Wörter-Text vorstellt, dazwischen werden noch zwei, drei Bilder aus dem Buch relativ zusammenhangslos kurz beschrieben. Arbeitsaufwand: Einmal Copy & Paste und drei Minuten durchs Buch geblättert.

Die desolate Textsituation ist Steidls unwürdig, sie ist von Graffenrieds unwürdig, aber worüber ich mich am meisten aufrege ist, dass die Bewohner von New Bern damit zu bloßem Fotomaterial herabgewürdigt werden. Sie hätten es verdient, das ihre Geschichte nicht nur abgebildet, sondern erzählt, eingeordnet, niedergeschrieben wird. Und wenn von Graffenried das nicht selbst kann, was ihm nicht vorzuwerfen wäre, dann fänden sich mit Sicherheit Essayisten, Journalisten, Autoren, die das hingebracht hätten. Ich meine: eine verpasste Chance.

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