Einige Berlinale-Kurzkritiken

LA LIGNE von Ursula Meier – © 2022 BANDITA FILMS / LES FILMS DE PIERRE / LES FILMS DU FLEUVE / ARTE FRANCE CINEMA / RTS / RTBF (Télévision belge) / VOO et BE TV

Incroyable mais vrai

Incredible but True

Berlinale Special Gala

von Quentin Dupieux

mit Alain Chabat, Léa Drucker, Benoît Magimel, Anaïs Demoustier, Stéphane Pezerat

Frankreich / Belgien 2021

Auf der Suche nach einem neuen Heim besichtigen Alain und Marie ein Haus in einem ruhigen Vorort. Der Makler warnt sie vor etwas, das sich im Keller verbirgt und ihr Leben auf den Kopf stellen wird. Fasziniert entscheidet das Paar sich zum Kauf. Als Alains forscher Chef mit seiner Freundin zum Dinner kommt, ist die Versuchung groß, die unglaublichen (aber wahren!) Informationen zu teilen. Doch Marie ist entschlossen, das Geheimnis des Kellers für sich zu behalten. Sie kann nicht anders, als immer wieder hinunterzugehen … Quentin Dupieux, einer der exzentrischsten Köpfe des zeitgenössischen Kinos mit einem schier unerschöpflichen Vorrat an bizarren Einfällen, beweist erneut seine komödiantische Brillanz in dieser Satire über menschliche Obsessionen. Er gibt seinen Schauspieler*innen Gelegenheit, in unvergesslich skurrile Rollen zu schlüpfen, was ihnen sichtlich Spaß bereitet: Beteiligt sind Alain Chabat und Léa Drucker als sympathisches Pärchen, das vor einer ungewöhnlichen Herausforderung steht. Anaïs Demoustier spielt eine promiskuitive junge Frau mit Intelligenz und Leichtigkeit genau im richtigen Maß. Und Benoît Magimel zeigt sich mit seiner schrägen Darbietung als Schauspieler auf dem Höhepunkt seiner Karriere. (berlinale.de)

Schräge, schrille Geschichte mit Fantasy-Anklängen, mit großartigem Cast; eine herrliche Groteske über körperliche Perfektionierung. Nicht alles ist perfekt durchdekliniert und manchmal wirkt der Film wie eine Baustelle, aber genau das macht ihn so sympathisch.

+++

La ligne

The Line | Die Linie

Wettbewerb

von Ursula Meier

mit Stéphanie Blanchoud, Valeria Bruni Tedeschi, Elli Spagnolo, Dali Benssalah, India Hair

Schweiz / Frankreich / Belgien 2022

Ihre Gewaltausbrüche haben Margaret, 35Jahre alt, ihre Beziehung gekostet. Sie zieht wieder zu ihrer Mutter Christina. Doch die labile, unreife 55-Jährige macht sie als älteste Tochter für das Scheitern ihrer Karriere als Konzertpianistin verantwortlich. Ein Streit der beiden eskaliert, und die wütende Margaret schlägt auf ihre Mutter ein. Die Justiz wird aktiv und die Dynamik in der Familie noch komplizierter: Aufgrund eines Kontaktverbots darf Margaret sich dem Haus ihrer Mutter nun nur noch auf 100 Meter nähern, was ihre Sehnsucht nach familiärer Nähe verstärkt. Täglich erscheint Margaret an der Bannkreisgrenze und gibt ihrer 12-jährigen Schwester Marion Musikstunden. In La ligne lotet Ursula Meier erneut eine ungewöhnliche Familienkonstellation aus und gibt dem Wort „Familienkreis“ auch eine topografische Dimension. Wie die beeindruckende Hauptdarstellerin aus diesem Kreis verbannt und der Mutter „entrissen“ wird, erinnert an das Trauma der Geburt. Kennzeichnend für den Film sind die Stimmungswechsel, mit denen er die Gefühlswelten der Protagonist*innen nachempfindet und dabei immer wieder ohne Vorwarnung zwischen Komödie und Tragödie hin- und herschaltet. Tonalität und Regiearbeit sind treffsicher und heftig wie ein Schlag ins Gesicht. (berlinale.de)

Der Film beginnt pessimistisch, entwickelt sich dann aber zu einer schönen Geschichte dreier Schwestern und deren Verhältnis zueinander – und zur Mutter. Nach hinten flacht die Geschichte etwas ab, aber immerhin kommt es zu einem befriedigenden Schluss. La Ligne ist definitiv ein Film, der mir in Erinnerung bleiben wird.

+++

Les passagers de la nuit

The Passengers of the Night

Wettbewerb

von Mikhaël Hers

mit Charlotte Gainsbourg, Quito Rayon-Richter, Noée Abita, Megan Northam, Thibault Vinçon

Frankreich 2022

Paris, 1981: Am Wahlabend herrscht Aufbruchsstimmung; beschwingt stürmen Frankreichs Bürger*innen die Straßen. Doch Élisabeth (Charlotte Gainsbourg) fällt es schwer, sich dem allgemeinen Optimismus anzuschließen. Ihre Ehe steht vor dem Aus, und sie wird die Familie alleine zusammenhalten müssen. Sie ist verzweifelt, sowohl ihr Vater als auch ihre halbwüchsigen Kinder fürchten, dass ihre Tränen nie versiegen werden. Was aber, wenn Élisabeth ihren Gefühlen folgt, um die sich ankündigende Leere zu füllen? Was, wenn sie aus einer Laune heraus dem Moderator ihrer liebsten Radiosendung einen Brief schreibt? Oder ein obdachloses Mädchen zu sich nach Hause einlädt? Was, wenn sie auf eine Weise zu handeln beginnt, die das Leben tatsächlich verändert?

Nach Amanda richtet Mikhaël Hers seinen sensiblen Blick auf die 1980er-Jahre und auf die scheinbar alltäglichen Momente des Familienlebens, die einem jedoch für immer in Erinnerung bleiben. Eine nostalgische Selbsterfindungssaga, bevölkert von Figuren, deren Verletzlichkeit und Güte der Regisseur auf eine Weise würdigt, dass es in unserer meist von desillusionierten Antihelden begeisterten Filmwelt hervorsticht. Bei der Frage, wie unsere Gesellschaft funktioniert, vermag uns dieser intime und faszinierende Film eine Idee davon zu geben, warum Liebe wichtig ist. (berlinale.de)

Les passagers de la nuit kommt etwas schleppend in die Gänge, wird dann aber emotionaler und ich ging mit einem guten Gefühl aus dem Kino. Ich fürchte aber, dass die Erinnerung an ihn schnell verblassen wird.

+++

A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe

A E I O U – A Quick Alphabet of Love

Wettbewerb

von Nicolette Krebitz

mit Sophie Rois, Udo Kier, Milan Herms, Nicolas Bridet

Deutschland / Frankreich 2022

Die glanzvollen Tage als Schauspielerin sind für die 60-jährige Anna vorbei. Sie lebt allein, hat aber in ihrem Nachbarn Michel, der ebenfalls Single ist, einen Freund und Vertrauten. Widerwillig nimmt Anna einen Auftrag als Sprachcoach für den 17-jährigen Adrian an, der eine Sprachstörung hat. In dem Außenseiter erkennt sie den jungen Mann, der ihr neulich auf der Straße die Handtasche geklaut hat …

Unwiderstehlich – mit diesem Wort lässt sich die leichtfüßig und humorvoll erzählte Geschichte einer unmöglichen Liebe zwischen einem Dieb und einer Dame beschreiben. Behutsam nimmt sich Regisseurin Nicolette Krebitz des heiklen Balanceakts zwischen dem Diktat der Gesellschaft und dem des Herzens an. Ein frischer, freiheitlicher Wind durchweht den Film, der mit dem alten Westberlin flirtet, Deutschlands französische Nachbarn auf die Schippe nimmt und sogar ein Gespenst verjagt, um Raum für neue Möglichkeiten zu schaffen. Vor allem aber ist A E I O U ein leidenschaftlicher „lettre d’amour“ an Sophie Rois und mit ihr an alle brillanten Schauspieler*innen, die von einer auf neue Gesichter fixierten Branche vernachlässigt werden. Dabei zeigt sich, dass diese neuen Gesichter – hier vertreten durch Milan Herms – nicht nur zu ihren erfahreneren Kolleg*innen aufschauen, sondern sie wahrhaftig lieben. (berlinale.de)

Für mich einer der schönsten Filme der Berlinale 2022, auch wenn ich jetzt nach einer Woche nicht mehr ganz so euphorisch bin wie nach dem Film. Immerhin fand ich es befreiend, im todernsten Berlinale-Wettbewerb endlich mal wieder befreiend lachen zu dürfen, dafür sorgte dieser Film. Vielleicht ist die Geschichte und die Figurenzeichnung nicht komplett ausgegoren, aber gestört hat mich das kaum.

+++

So-seol-ga-ui yeong-hwa

The Novelist’s Film

Wettbewerb

von Hong Sangsoo

mit Lee Hyeyoung, Kim Minhee, Seo Younghwa, Park Miso, Kwon Haehyo

Republik Korea 2021

Das Wiedersehen der berühmten Romanautorin Junhee mit zwei Bekannten hat einen leicht bitteren Beigeschmack: Der eine, der selbst das Schreiben aufgegeben hat, um am Stadtrand von Seoul eine Buchhandlung zu eröffnen, schuldet ihr noch einen Kommentar zu ihrem letzten Buch. Der andere, ein Filmemacher, hat ihren Roman doch nicht verfilmt. Schlimmer ist, dass Junhee seit einer Weile nichts mehr veröffentlicht hat. Sie hinterfragt ihre Arbeit und jene Sensibilität, die seit jeher ihren Stil sowie ihre charismatische Persönlichkeit prägt. Auf einem Spaziergang mit dem Regisseur lernt sie eine bekannte Schauspielerin kennen, die sich in einer ähnlichen Schaffenskrise befindet. Die beiden spüren eine Verbundenheit, welche die Autorin auf die Idee zu einem Film bringt, der ihr erster werden soll.

Hong Sangsoos 27. Spielfilm ist Anlass einer bezaubernden Begegnung zwischen Kim Minhee und Cho Yunhee. Er erzählt von der Rolle der Zeit in einem Leben, das der Kunst gewidmet ist, und feiert die Schönheit zufälliger Begegnungen ebenso wie die Bedeutung von Wahrhaftigkeit im trügerischen Filmbusiness. Und er ist ein Loblied, ja eine Liebeserklärung an seine Darsteller*innen. Selbst für den, der mit seiner Kunst vertraut ist, ist die hinreißende Offenheit dieses neusten Werkes schlicht überwältigend. (berlinale.de)

Ich mochte die technisch und erzählerisch reduzierten Mittel, mit denen sich Hong Sangsoos Film entfaltet. Ich habe den Protagonist*innen gerne zugehört und zugesehen, das war alles sehr kurzweilig. Vielleicht störte mich irgendwann das Improvisierte des Films doch zu sehr.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert