April 1970. Pierre Goldman, Aktivist der berühmten Mai-Unruhen von 1969 in Paris, wird beschuldigt, vier Raubüberfälle durchgeführt und dabei zwei Apothekerinnen getötet zu haben. 1974 wird er dafür zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt, aber er behauptet seine Unschuld. Aus dem Gefängnis heraus veröffentlicht er ein Buch und im November 1975 wird sein Fall wieder vor einem Gericht aufgenommen. Die Handlung des Films setzt im April 1976 ein. Nur mit Mühe kann Goldman zu Beginn der Wiederaufnahme des Prozesses davon abgehalten werden, seinen engagierten Anwalt zu entlassen. Im Publikum sitzen Prominenz und lautstarke Unterstützer Goldmans. Er gibt die Raubüberfälle zu – außer jenen auf die Apotheke. Er sei unschuldig und würde sich auch deshalb weigern, den Zeugen seines Alibis vor Gericht aufzurufen.
Über eine gute Viertelstunde hinweg schildern der Richter und Goldman das Leben in seiner Jugend, als Schüler, Student. Goldman kommt über weite Strecken nicht gut weg, er hing lange nur rum, gab einen Haufen Geld für Alkohol und Hemden aus – weil er zu faul war zu Waschen. Weil das Geld knapp war, räumt er ein, musste er klauen. Ein Gangster ja – aber kein Mörder, unterstreicht er immer wieder. Nie hätte er zwei unbewaffnete Frauen erschossen. Unzählige Menschen werden im Gerichtssaal angehört, Christiane, seine Lebensgefährtin, sein Vater, der ausführlich über sein Leben in der Resistance erzählt und über die Jugend seines Sohnes. Immer wieder werden Zitate aus Goldmans Buch “Dunkle Erinnerungen eines in Frankreich geborenen polnischen Juden” hervorgeholt, welches er im Gefängnis geschrieben hatte und in dem er den ermittelnden Behörden Rassismus und Antisemitismus vorhielt. Ein Informant der Polizei soll sich zu Goldmans Glaubwürdigkeit äußern, die Zeugen aus der Apotheke werden auf ihre Glaubwürdigkeit abgeklopft, Goldmans Anwalt erkundet jedes bisschen an Widerspruch in den Aussagen der Zeuginnen und Zeugen. Ähnelt er dem Mörder? Reicht es, festzustellen, dass er dem Mörder „ähnelt“? Immer mehr – und entgegen dem Rat seines Anwalts – holt Goldman im Verlauf des Prozesses Antisemitismusvorwürfe hervor. Wütend beschimpft er den Staatsanwalt irgendwann als Rassisten und Faschisten. Inzwischen trauen sich auch einige Goldman-Gegner im Publikum, ihn mit „assassin“-Rufen zu bedenken. Es kommt zu Tumulten und Ausschreitungen im Gerichtssaal. Der Anwalt ist stinkesauer ob dieses Vorgehens Goldmans.
Cédric Kahn gelingt ein nüchterner, zurückhaltend inszeniert Gerichtsfilm im Stil der klassischen Gerichtsdramen aus den 70ern. Arieh Worthalter in der Hauptrolle gelingt eine beeindruckende Umsetzung dieses Dramas. Ich finde es faszinierend, so viel über jene Zeit der späten Sechziger und der Siebziger in Frankreich zu lernen – ich kannte die Geschichte von Pierre Goldman nicht. Natürlich fallen einem Parallelen zu den deutschen Geschichten jener Zeit ein, ganz andere Geschichten. Ein beeindruckender Historien- und Gerichtsfilm.
https://jfbb.info/programm/filme/the-goldman-case
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Am 19. Juni im Thalia Babelsberg und am 22. Juni im Filmkunst 66 finden im Anschluss an die Filmvorführungen Gespräche mit der Drehbuchautorin Nathalie Hertzberg statt.
CREDITS
Originalitel THE GOLDMAN CASE
Internationaler Titel THE GOLDMAN CASE
Deutscher Titel THE GOLDMAN CASE
JFBB Sektion WETTBEWERB SPIELFILM
Regisseur CÉDRIC KAHN
Land/Länder FR
Jahr 2023
Dauer 115 Minuten
CÉDRIC KAHN
BIO Cédric Kahn started out as an assistant editor for Maurice Pialat’s Under the sun of Satan and then directed his first short film Les Dernières Heures du millénaire in 1990. Two years later, his first feature film Bar des rails premiered at the Angers European First Film Festival and was then presented at the International Critic’s Week in Venice. He then received the Jean Vigo Prize with his next film Too Much Happiness and the Louis-Delluc Prize with Boredom in 1998, and in 2001, Roberto Succo, was presented in the official selection of the Cannes Film Festival. Cédric Kahn then directed Red Lights with Carole Bouquet and Jean-Pierre Darroussin, which was presented in the official competition of the Berlinale, The Plane with Vincent Lindon and Isabelle Carré, Regrets with Valeria Bruni-Tedeschi and Yvan Attal and A Better Life with Guillaume Canet and Leïla Bekhti. After a first acting experience in N’oublie pas que tu vas mourir by Xavier Beauvois, we find him twenty years later in Alyah and Les Anarchistes by Elie Wajeman, Miss and the Doctors by Axelle Ropert, Up for Love by Laurent Tirard and After Love by Joachim Lafosse. In 2014, he won the Special Jury Prize at the San Sebastiàn Film Festival for his film Wild Life with Mathieu Kassovitz and in 2018, his lead actor won the Silver Bear for Best Actor at the Berlin Film Festival for his film The Prayer. He could also be seen in Cold War by Pawel Pawlikowski, in Head Above Water by Margaux Bonhomme and in the series Call My Agent! in which he plays his own role alongside Isabelle Huppert. His eleventh feature film, Happy Birthday with Catherine Deneuve and Emmanuelle Bercot was released in 2019. (Festivaltext)