Zweihundertfünfzig Dinge, die Architekt:innen wissen sollten

Ich hege eine lebenslange, enge Beziehung zu Büchern, die Listen enthalten. Zwei Bücher dieses Subgenres des Sachbuchs haben in meiner Lesekarriere wichtige Rollen eingenommen: „Ich sag dir alles“, das ich in meiner Kindheit in den 70er-Jahren in der elterlichen Bibliothek vorfand und das mich wissbegierigen Erstleser mit Auflistungen über die byzantinischen Kaiser, die Ostgotenkönige, bekannte Bauwerke, Segelschifftypen und mit Entfernungstabellen (wie weit ist es von Bombay nach Rio de Janeiro) versorgte. Ich habe das Buch geliebt, in meiner Alltime-Favorite-Sachbuchliste ist es nicht weit von Dierckes Weltatlas oder von „Das moderne Lexikon“ aus dem Bertelsmann-Verlag (das zwanzigbändige mit dem rot-schwarz-goldenen Einband) entfernt. Was habe ich eine Vielzahl an Stunden meiner Kindheit damit verbracht. Das andere wichtige Listenbuch meines Lebens ist „Schotts Sammelsurium“, erschienen im Jahr 2002. Der Buchdeckel zitierte damals Elmar Krekeler in der WELT: „Es ist ein Schweizermesser in Buchform.“ Sehr guter Vergleich. Der Schott versammelt Listen wie „Einige Shakespearesche Beleidigungen“, „Länder mit Linksverkehr“, „Die 10 Gebote“, „Einige Linkshänder“, „Seltene wahnhafte Zustände“. Also eine mehr oder weniger nutzlose Aneinanderreihung von Listen, die alle eines gemeinsam haben: Sie sind spannend, man möchte sie nicht missen, man kommt nicht von ihnen los. Man muss sich das historisch einsortieren: Der Schott ist gerade mal ein Jahr nach der Gründung von Wikipedia herausgekommen. Google war nur 5 Jahre alt. Und als „Ich sag dir alles“ rauskam waren Computer mit der Kapazität eines Werbegeschenktaschenrechners noch sporthallengroß.

Trotz Google, Wikipedia und Listen-Bots hat der Kunstmann-Verlag nun ein neues Listenbuch herausgebracht. Es heißt: „Zweihundertfünfzig Dinge, die Architekt:innen wissen sollten“. Erste Beobachtung: Man suche bei Wikipedia – sagen wir mal die „Liste der Flugunfälle bis 1949“. Das ist eine absurd lange Liste, wenn man die nach sinnvollen Informationen durcharbeiten möchte, ist man erstmal eine Stunde beschäftigt. Ergo: Ich brauche jemanden, der mir Informationen kuratiert, sortiert, auswählt, sonst muss ich’s selbst machen. Im Internet kann sowas ein Algorithmus. Klappt aber nicht immer sinnvoll. Manchmal verfolgt der Algorithmus nämlich auch eigene Interessen.

Dann schauen wir uns doch mal an, was die Architekt:in denn so wissen soll: Geht los mit „1. Das Gefühl von kühlem Marmor unter nackten Füßen.“ Okay, klingt interessant. Und: „Wie man mit fünf Fremden sechs Monate lang in einem kleinen Raum zusammenlebt.“ Wir blättern mal weiter: „5. Wie weit ein Ruf durch die Stadt getragen wird.“ Und: „6. Wie weit ein Flüstern.“ Ah, es geht also darum, Bauwerke daher zu denken, dass sie für Menschen da sind und nicht umgekehrt die Menschen sich an die Architektur anpassen sollen. Dann kommen auch technische Dinge ins Spiel: „11. Die Dämmeigenschaften von Glas.“ Und „12. Die Geschichte seiner Herstellung und Nutzung“. Das weist aber natürlich auch über die technischen Aspekte hinaus, es geht um die mit dem Glas verknüpfte Kultur-, Technik- und Architekturgeschichte, ein ganzheitlicher Ansatz.

„34. Jane Jacobs in- und auswendig“. Ich habe von Architektur natürlich an sich recht wenig Ahnung, aber jetzt kann ich ein kleines bisschen glänzen, weil ich mich einmal mit dem Leben in Großstädten beschäftigt habe, als Fotograf, aber auch als Leser und Schreiber. Und da bin ich immerhin auf Jane Jacobs „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ aus dem Jahr 1961 gestoßen. Und für einen Text zu einer Großstadtfotografienausstellung habe ich dann folgendes Zitat von Jane Jacobs benötigt: „Großstädte sind gewaltige Laboratorien, voll von Experimenten und Irrtümern, Fehlschlägen und Erfolgen in Aufbau und Planung.“ In dem Zusammenhang stieß ich übrigens auch auf folgendes Le Corbusier-Zitat: „Der Kern unserer alten Städte mit ihren Domen und Münstern muss zerschlagen und durch Wolkenkratzer ersetzt werden.“ Mal sehen, ob Le Corbusier auch noch auftaucht.

Ich springe mal weiter: „174. Wo es sich in Brooklyn gut essen lässt.“ Interessant, immerhin hab ich mal vier Wochen in Brooklyn gewohnt. An ein paar Orte mit gutem Essen kann ich mich erinnern, am einprägsamsten war die „Fette Sau“ in Williamsburg. Aber ich verstehe: Bevor man als Architekt etwas in einen Borough wie Brooklyn baut, soll man sich so gut mit der Gegend auseinandergesetzt haben, dass man auch schon sagen kann, wo man gut essen kann.

„222. Den Durchmesser der Erde“ (weiß ich seit meiner Kindheit auswendig), „242. Die eigenen Nachbarn“ (kenne ich alle).

„Zweihundertfünfzig Dinge, die Architekt:innen wissen sollten“ von Michael Sorkin (1948-2020) ist eine unglaublich faszinierende Sammlung an Ideen, Gedanken, Überraschungen, Überzeugungen für Architekt:innen (verknüpft übrigens mit einer außerordentlich einfallsreichen Auswahl an Fotos, Zeichnungen, Illustrationen, Bildern, Grafiken), aber das hilft auch Menschen aller anderen Berufszweige. Inspirierend, verblüffend, anregend, witzig. In der Verknappung liegt die Kunst, da wird nicht viel erklärt – nein, da wird gar nicht erklärt. Ich ahne, dass dieses Büchlein angehenden Architekt:innen hilfreicher sein kann, als ganze Stapel an Fachbüchern. Sorkin starb in die Konzeption des Buches hinein, aber es wurde schließlich mit Hilfe von seiner Frau, Joan Copjec, dankenswerterweise fertiggeschrieben. Sorkin war Architekt, Architekturkritiker und er war Architekturlehrer – und dabei so etwas wie ein Universalgelehrter.

Als es damals, nach Abi und Zivildienst, darum ging, dass ich mich für irgendeinen Studiengang einschreibe, konnte ich mich noch nicht einmal zwischen Naturwissenschaften (weil ich mich mein ganzes Jugendleben mit Physik und Astronomie beschäftigt habe) und Geisteswissenschaften (weil ich da noch einiges lernen wollte) entscheiden. Wäre ich damals, hätte es schon existiert, auf dieses Buch gestoßen, hätte ich vielleicht erkannt, dass die Architektur genau diese Synthese verschiedenster Wissenschaftsbereiche darstellt, die ich mir gewünscht hätte.

Ein grandioses Buch. Und jetzt muss ich erstmal nachlesen, wer oder was eigentlich Frederick Law Olmsted (154.), der Nolli-Plan (176.) und die Entasis (65.) ist.

Michael Sorkin: Zweihundertfünfzig Dinge, die Architekt:innen wissen sollten

176 Seiten
Euro 20,00 € (D)
erschienen im Januar 2022
Übersetzt von Michael Mundhenk
ISBN 978-3-95614-488-2
https://www.kunstmann.de/

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