HANSGERT LAMBERS im HAUS AM KLEISTPARK in Berlin

© Hansgert Lambers, West-Berlin, Kreuzberg, Friedrichstraße, 1975. [Haus am Kleistpark]

Drei Aspekte sind es bei Fotoausstellungen, die mich ganz besonders triggern: a) wenn es sich um Dokumentarfotografien handelt, b) wenn diese Fotos vom Leben in den Großstädten erzählen und c) wenn ich aus den Bildern irgendwas über den Fotografen herauslesen kann, was mich persönlich vielleicht auch noch was angeht. Umso trauriger, dass die Retrospektive des Fotografen Hansgert Lambers im Berlin-Schöneberger Haus am Kleistpark fast an mir vorbeigegangen wäre.

Das Motiv, mit der das Ausstellungshaus die Zuschauer anlockt beinhaltet nämlich in jedem Fall alles drei. Es hängt in einer riesigen Version in der Ausstellung, drängt sich auf der Internetseite auf und auch die Werbefaltkarten tragen dieses Motiv: „An der Friedrichstraße“ aus dem Jahr 1975, im Westberliner Teil, ein Wintermotiv, eine schneebedeckte riesige Brache, im Hintergrund die Brandmauern alter Berliner Mietskasernen und im Vordergrund vier Kinder unterschiedlichen Alters, mit Schlitten und Winterklamotten – voller Lebensfreude.

Lambers gehört zu jenen Fotografen, die das Glück hatten, nicht von der Fotografie leben zu müssen. Lambers musste keine Hochzeiten oder Filmpremieren fotografieren, um finanziell überleben zu können, er musste keine Redaktionsschlüsse von Magazinen einhalten, er musste weder Hochzeiten noch Passfotos fotografieren. Und: Er musste für seine Reisen quer durch Europa noch nicht einmal Geld bezahlen. Er gehörte nämlich zu jener Sorte Fotografen, die hauptberuflich in der Weltgeschichte herumreisten und das zum Anlass nahmen, in die Städte, in die er kam, auch zu fotografieren. Das nahm jeglichen Druck von ihm, „liefern“ zu müssen. Er fotografierte, worauf er Lust hatte, voller Leidenschaft und ohne das Korsett, irgendwelche „Serien“ erstellen zu müssen, Er fotografierte einfach in den Städten, auf den Straßen, die klassische Straßenfotografie – Straßenfotografen als Vorbilder hatte er in dem Sinne nicht, erzählt er im Begleitfilm, eher Verwandte im Geiste, die Ähnliches machten – wie eben Henri Cartier-Bresson, dem großen Meister des Genres.

© Hansgert Lambers: Istanbul, 1977

Lambers wurde 1937 in Hannover geboren, kam 1957 nach Berlin, studierte Ingenieurswissenschaften, schloss mit dem Diplom ab und arbeitete dann von 1965 bis 1993 für IBM als „Systemberater“, reiste dafür durch Europa, unter anderem sechs Jahre lang auch durch Osteuropa – Polen, Tschechien und auch in der DDR. Zu fotografieren hatte er bereits als Jugendlicher begonnen, in den 70ern nahm die Ernsthaftigkeit zu, er hatte international Ausstellungen, kuratierte Ausstellungen anderer Künstlerinnen und Künstler, 1986 gründete er seinen Kunstbuchverlag „ex pose“ (www.expose-verlag.de), von dem man noch heute Bücher im Internet bestellen kann. Bis heute lebt er in Berlin. Beeindruckende Bildbände sind in seinem Verlag erschienen: „Topographie der Berliner Mauer 1973-1990“ von Karl-Ludwig Lange, „the book of lost cities“ von John Stathatos, „Berlin – Die Stadt des Wanderers“ von Marek Pozniak, aber eben auch Lambers‘ eigene Bücher: „Ostrava – Fotografien 1973-1989“, „straßenbekanntschaften“ oder „manche lachen keiner weint“.

© Hansgert Lambers: Ostrava-Hrabuvká, CSSR, 1981

Die Retrospektive des Lebenswerks von Hansgert Lambers – das Haus am Kleistpark nennt die Ausstellung „Verweilter Augenblick“ deckt viele Jahrzehnte seines Schaffens ab – die Schwerpunkte liegen in den 70ern und 80ern. „Verweilter Augenblick“ ist natürlich an das Faust-Zitat angelehnt „Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön…“ – eigentlich aber paraphrasiert der Titel Cartier-Bressons „entscheidenden Moment“, eben jenen Sekundenbruchteil, in dem der Fotograf auf den Auslöser drückt, um das Objekt in einem Moment festzuhalten, der über sich hinausweist, der etwas über den Fotografierten erzählt, in die Vergangenheit oder Zukunft deutet. Und das gelingt Lambers auch immer wieder – oft vertieft man sich ins Bild und erwischt sich dabei, sich in Gedanken und Fantasien über die abgebildete Person zu versinken. Wer ist das, was tut die Person, wo kommt sie her, wie lebte sie – oder auch: Was macht die Person wohl heute? Lebt sie noch? Das sind dann immer die Momente, in denen solche Fotografien, die eigentlich Sekundenbruchteile repräsentieren, etwas Narratives erhalten – der Faktor Zeit kommt dann hinzu, aber nur in den Gedanken des Betrachters.

Zu diesen erzählenden Bildern gehören etwa jenes eines Schweriner Männermodengeschäftes aus dem Jahr 1981, wo ein auf Kundschaft wartender Verkäufer sich in die Reihe der ähnlich aussehenden Schaufensterpuppen einsortiert hat. Einprägsame Charaktere entdeckt man, die Bilder strahlen mal beißenden Witz, mal sanfte Melancholie aus, manchmal bewahren sie aber auch etwas Dunkles, Geheimnisvolles. Seine Bilder sind voller Neugierde und Interesse an den Menschen, mit denen er aber als Straßenfotograf nicht notwendigerweise ins Gespräch kommt. Er fotografiert die Menschen im Großstadtsetting, das heute häufig verschwunden ist bzw. nicht mehr so aussieht. Es sind die Stadtbilder der 70er oder 80er, die wir erkennen – mit alten Reklameschildern, heute längst verschwundenen Geschäften oder inzwischen renovierten und modernisierten Fassaden, längst geschlossenen Baulücken oder zugebauten Brachen.

© Hansgert Lambers: Schwerin, DDR, April 1981

Assoziativ lösen diese Bilder bei mir Erinnerungen an alte Großstadtfilme, an westdeutsche Produktionen der 60er, 70er, 80er, an DEFA-Filme – vielleicht Konrad Wolfs „Der geteilte Himmel“, aber irgendwie landen meine Assoziationen auch bei Truffaut, bei dessen sozialem Realismus, bei der Nouvelle Vague. Die Ausstellung ist von Matthias Reichelt kuratiert – und in der Auswahl und Anordnung der Bilder ergibt sich eine solch wunderbarer, leiser Fluss, der genau jenen sozialen Realismus weiterträgt und vermittelt. Lambers‘ Fotografien haben sich mir nachhaltig eingeprägt.  Noch bis zum 7. August 2022 zeigt das Haus am Kleistpark die wundervolle Ausstellung.

Ausstellungsdauer 10.6. – 7.8.2022

HAUS AM KLEISTPARK
Grunewaldstraße 6–7
10823 Berlin
www.hausamkleistpark.de
Di–So 11–18 Uhr
Donnerstag bis 20 Uhr
Eintritt frei
Kein barrierefreier Zugang

Der Katalog zur Ausstellung ist bei FOTOHOF erschienen:
https://shop.fotohof.at/shop/buecher/verweilter-augenblick/

© Hansgert Lambers: London, Hampstead Heath, 1973

1 Comment

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert