
Am 18. August 2022 startet im Verleih von Salzgeber Michele Pennettas sizilianischer Dokumentarfilm IL MIO CORPO in den Kinos. Pennetta stammt aus Varese in der Lombardei in Norditalien. Er hat in der Schweiz Film studiert. IL MIO CORPO ist bereits seine dritte sizilianische Dokumentation, nach A IUCATA aus dem Jahr 2013 und PESCATORI DI CORPI aus dem Jahr 2016. IL MIO CORPO feierte seine Weltpremiere bei Visions du Réel, dem Dokumentarfilmfestival in Nyon in der französischen Schweiz. 2021 war der Film als Bester Schweizer Dokumentarfilm nominiert.

Oscar ist ein Teenager. Gemeinsam mit seinem Bruder sammelt er auf einer wilden Müllhalde in den Bergen Siziliens Altmetall. Sein Vater kommandiert ihn rum, beleidigt, beschimpft ihn. Immer wieder droht er ihm Prügel an, wenn er was falsch macht. Der Vater steht oben auf einer Brücke und zieht die Funde seiner Söhne nach oben. Zwischen all dem Müll findet Oscar eine Madonnenstatue, die sie auch gleich mitnehmen, um sie als Glücksbringer aufzubewahren. Ein paar Hundert Euro, meint der Vater, würden sie wohl auf dem Schrottplatz bekommen, obwohl die Kinder, allen voran Oscar nicht gut gearbeitet hätten. Ein Nichtsnutz sei er. Er solle ihn verhungern lassen, meint der Bruder. Er würde ihn gegen einen Schwarzen eintauschen, meint der Vater. Der Vater hat eine Lebensgefährtin, die die Kinder „Tante“ nennen und die auch Kinder hat. Zusammen wohnen sie in einer winzigen Wohnung. Schon frühmorgens macht der Vater seinen Söhnen Vorwürfe. Nur wegen ihnen gehe es ihm so schlecht. Die Lebensgefährtin schließt sich dem an, nur wegen seiner Kinder wäre er Alkoholiker gewesen. Die Mutter hatte die Familie einst mit einem anderen Mann verlassen, ob sie vielleicht zu ihr zurückmüssen, ist unklar – ob sie es wollen aber auch. Zu den wenigen Freuden, die Oscar hat, zählen die Fahrradtouren mit seinem Bruder – und die Mopeds vom Schrottplatz, die sie in Stand setzen. Oscars Leben ist manchmal ein Abenteuer, aber oft ist es trostlos, unerfüllt, traurig. Manchmal möchte man in ihn hineinschauen und erfahren, wovon er träumt. Eines Tages findet Oscar im Schrott eine verrostete alte Pistole…

Stanley ist Flüchtling aus Nigeria. Er darf für ein paar Monate bleiben, der örtliche Priester kümmert sich um ihn. Er kocht gerne, putzt in einer Kirche, hilft bei der Weinlese, kümmert sich auch mal um eine Herde Schafe. In seiner Freizeit geht er tanzen, Basketball spielen oder schwimmen, gemeinsam mit einem Freund. Er muss damit rechnen, irgendwann wieder abgeschoben zu werden. Verdienen tut nichts, oder zumindest nicht viel, jedenfalls zu wenig für die Miete seiner kleinen Wohnung. Das sei Armut, erklärt er seinem Freund lapidar. Was in der Zukunft sei, würde er schon sehen, erklärt Stanley seinem Freund. Dann droht sein Freund bald abgeschoben zu werden…
Und irgendwann kreuzen sich die Wege von Stanley und Oscar…

Michele Pennetta interessiert sich in seinen Sizilien-Dokumentationen für die Menschen an den Rändern der Gesellschaft – etwa für die Welt der illegalen Pferderennen in A IUCATA, für illegale Fischer und einen Bootsflüchtling in PESCATORI DI CORPI, und nun eben für einen geknechteten Jugendlichen und einen nigerianischen Flüchtling. Pennetta ordnet IL MIO CORPO ein: „Mein neuer Film erweitert meine Betrachtung, indem ich versuche, alles mit der Verlassenheit in Verbindung zu bringen, mit der sich die Bewohner:innen der Insel konfrontiert sehen. Als ich mich für längere Zeit in der Region aufhielt, hatte ich tatsächlich das Gefühl, durch die Szenerie einer lange zurückliegenden atomaren Katastrophe zu wandeln: Alles wirkt tot, als hätte dort eine Nuklearbombe eingeschlagen – und als hätte niemand danach wieder etwas aufgebaut, weshalb man nun in diesem Setting weiterleben müsste.“ Pennettas Sizilien ist weit entfernt von jenem Sizilien der Touristen oder vom Sizilien der Großstädte Palermo oder Catania. Es ist eine prekäre Welt, eine Welt der Armut und eine Welt meist ohne Zukunft und Hoffnung. Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, zerbrochene Familien prägen das Setting von IL MIO CORPO. Und doch gibt es an einigen Stellen der Biografien der beiden Protagonisten Andeutungen von Hoffnung, irgendwann schimmern ihre Träume, ihre Zukunftsphantasien durch. Der Film, so sagt Pennetta, zeige „zwei ambivalente Charaktere und verweigert sich einer manichäischen Sichtweise, die diese jungen Männer entweder zu Opfern oder zu Helden machen würde.“ In der Tat verweigert sich der Film, den Protagonisten klischierte, funktionale Rollen zuzuweisen.

Interessant ist der Umgang des Films mit dem Genre des Dokumentarfilms. Das Presseheft markiert ihn mit einem „Dok.“ als Dokumentarfilm – er war immerhin für den Schweizer Dokumentarfilmpreis nominiert, lief bei Dokumentarfilmfestivals. Dennoch meint man gegen Ende des Films zu erkennen, dass der Film übers Dokumentarische hinausweist und in eine poetische, fiktionale Richtung zeigt. Das ist schwer auszumachen, aber man will dem Filmemacher diesen Weg zugestehen.
IL MIO CORPO ist ein beeindruckender, sperriger, poetischer Dokumentarfilm – man mag kaum eine zutreffende Genreeinordnung formulieren. Der Pressetext benennt den Film – zutreffend – als eine „assoziative Liebeserklärung an Sizilien und die Ausgestoßenen der Gesellschaft“. Empfehlenswert.

CREW
Regie: Michele Pennetta
Buch: Michele Pennetta, Arthur Brügger, Pietro Passarini
Kamera: Paolo Ferrari
Schnitt: Damian Plandolit, Orsola Valenti
Ton: Edgar Iacolenna
Tonschnitt & -mischung: Riccardo Studer
Farbkorrektur & Mastering: Andrea Maguolo
eine Produktion von Close Up Films (Joelle Bertossa, Flavia Zanon)
in Koproduktion mit Kino Produzioni (Giovanni Pompili), RSI (Silvana Bezzola Rigolini) und RAI Cinema
mit Unterstützung von Ufficio Federale della Cultura (UFC)
unter Beteiligung von Cineforom und mit der Unterstützung von Loterie Romande
im Verleih von Salzgeber