DIE TOTEN VÖGEL SIND OBEN von Sönje Storm beim DOK LEIPZIG FESTIVAL

DIE TOTEN VÖGEL SIND OBEN von Sönje Storm beim DOK LEIPZIG FESTIVAL

DEAD BIRDS FLYING HIGH

Jürgen Friedrich Mahrt war Bauer. Er lebte von 1882-1940. Aber er war ein ganz besonderer Bauer. Er zog sich bisweilen einen Anzug und einen Zylinder an, ging in den Wald und fotografierte die Vögel, die Bäume, die Wälder, Menschen, sich selbst. In Schwarzweiß, in Farbe – handkoloriert, in Stereoaufnahmen. Es sind eindringliche Dokumente, wunderschöne Aufnahmen, einzigartige Bilder. Er fotografiert seine Nachbarn im Dorf, bei der Arbeit, im Sonntagsanzug.

Und auch wenn er seit über 80 Jahren tot ist, hat er Glück: Da ist nämlich jemand, der seine Arbeiten entdeckt hat, seine Fotografien: Die Regisseurin Sönje Storm. Sie ist nämlich seine Urenkelin. Sie nimmt sich seiner Fotografien an, dokumentiert sie, untersucht sie, sichert sie. Mahrt war obsessiv, sorgfältig, exakt, liebevoll, mit dem Sinn fürs Schöne, aber auch für die Wissenschaft. Wie lange muss er sich damit beschäftigt und auseinandergesetzt haben. Ein bisschen verrückt scheint er vielleicht schon auch gewesen zu sein.

Mahrt ist damit so etwas wie eine Mischung aus Vivian Maier, August Sander – und – keine Ahnung, mir fällt kein wichtiger Natur- und Vogelfotograf aus dem frühen 20. Jahrhundert ein. Noch heute gehen in der Familie der Nachfahren Mahrts Geschichten umher, Anekdoten über diesen besonderen Mann: Das er Sommer morgens um halb fünf in den Wald ging und sich auf eine Lichtung gesetzt hat, den Vögel zugehört hat, Fotos gemacht hat. Oder die Geschichte, wie er einen seltenen Schmetterling gefunden hat, den er einem Freund in der Schweiz zeigen wollte. Dann setzte er sich 14 Tage aufs Fahrrad und fuhr in die Schweiz. Die Ernte zu Hause auf dem Feld vertrocknete derweil. Als Bauer scheint er wohl nicht so gut gewesen zu sein.

Er zählt Vögel, führt Tagebuch darüber. Er hat aber auch Vögel ausgestopft und gesammelt. 350 Stück. Und 3000 Schmetterlinge, Pilze, Käfer. Sönje Storm fragt das Zoologische Museum Hamburg, ob die sich die Exponate einmal ansehen möchten. Uhu, Wiedehopf, Kampfläufer. Sogar richtige Dioramenkästen. Alles sehr verstaubt. Sogar die seltene Doppelschnepfe ist da. „Sowas muss gerettet werden“, sagen die Leute vom Museum. Der Schmetterlingsspezialist zählt gleich mal auf, welche der von Mahrt präparierten Schmetterlingsarten heute ausgestorben sind. „Wir haben ja keine natürlichen Landschaften mehr“, stellt einer der Naturkundler fest.

1914 wird er in den Krieg eingezogen. Zwei Kinder hat er. Er kämpft an der Westfront, wird zur Luftwaffe eingezogen und wird zum Luftfotografen ausgebildet. Er fotografiert aus dem Flugzeug die feindlichen Linien. Was genau er im Krieg erlebt hat, hatte man sich nicht erzählt. Nach dem Krieg ging er ins Moor und führte dort seine Naturbeobachtungen und sein Naturtagebuch weiter. Über sich selbst schreibt er nichts, aber er kauft sich nun – welch ein Glück, dass er die Fotografieerfahrung im Krieg gesammelt hat – seine erste Kamera. Eine teure Mittelformatkamera, die er dadurch finanziert, dass er einen Teil seines Landes verkauft. Das seine Familie eigentlich zum Leben braucht.  Er fotografiert und bestimmt Nester, Eier, Vögel. Er stellte die Kamera an den Nestern auf, verband den Auslöser mit einem Faden und fotografierte, wenn der Vogel wieder im Nest gelandet war.

Und dann geht er noch einen Schritt weiter: Er setzt seine ausgestopften Präparate in die Natur und inszeniert mit den toten Tieren Fotografien, die voller Leben sind, denen aber bisweilen auch Merkwürdiges innewohnt: Bei einem Wasservogel im Wasser gibt es zum Beispiel keine Wellen. Und nun überschreitet er die Linie vom Dokumentaristen zum Künstler. Es ist die Inszenierung, die uns interessiert.

Irgendwann in den Dreißigern fährt er auch wieder mit dem Fahrrad in die Schweiz und beginnt unterwegs auch die Städte zu fotografieren, die alten Gebäude, oft die Rückseiten. Beeindruckende Stadtaufnahmen, mit einer Rolleiflex, oft Stereoaufnahmen. Wieder eine Sammlung. Und es gibt eine Aufnahme eines Gebäudes, das sich als der Berghof auf dem Obersalzberg herausstellt. Hitlers Wohnhaus. Vor dem Haus weht die Hakenkreuzflagge, ein Fenster steht offen. Im Vordergrund fährt eine Kutsche vorbei.

Aber warum machte er das alles? Warum gab er all das Geld der Familie aus – und seine Frau stand auch noch zu ihm? War er ein Idealist? Ein Tagträumer? Mit 42 hört er ganz mit der Landwirtschaft auf, gibt den Hof an seinen volljährigen Sohn ab und widmet sich komplett der Fotografie und dem Sammeln.

Sönje Storm gelingt mit DIE TOTEN VÖGEL SIND OBEN ein so wundervoll berührender Dokumentarfilm, ein Stück persönlicher Zeitgeschichte, ein faszinierender Blick auf eine so faszinierende Persönlichkeit. Es sind unglaubliche Bilder von der Natur, von den Menschen, von Städten vor 100 Jahren. Der Regisseurin – aber auch schon ihrem Vater, der einige Bücher über Jürgen Friedrich Mahrt veröffentlicht hat – ist es zu verdanken, dass diese Bilder für die Nachwelt bewahrt sind. Mahrt hat eine Welt und eine Natur festgehalten, die es so nicht mehr gibt, die Vergangenheit ist. „Uns zeigen seine Bilder die Zukunft“, sagt die Regisseurin irgendwann.

Ein Bauer hat durchgesetzt, dass er Wissenschaftler und Künstler wird. Und heute trägt er zur Forschung über den Wandel in unserer Welt bei.

Ein beeindruckender Film.

https://www.dok-leipzig.de/film/die-toten-voegel-sind-oben/programm

ENGLISH VERSION

Jürgen Friedrich Mahrt was a farmer. He lived from 1882-1940. But he was a very special farmer. He would sometimes put on a suit and top hat, go into the woods and photograph the birds, the trees, the woods, people, himself. In black and white, in color – hand-colored, in stereo. They are haunting documents, beautiful shots, unique images. He photographs his neighbors in the village, at work, in Sunday suits.

And even if he has been dead for more than 80 years, he is lucky: there is someone who discovered his work, his photographs: the director Sönje Storm. She’s his great-granddaughter. She takes his photographs, documents them, examines them, secures them. Mahrt was obsessive, meticulous, precise, loving, with a sense for beauty, but also for science. How long must he have dealt with it and dealt with it. He may have been a bit crazy too.

Mahrt is something like a mixture of Vivian Maier, August Sander – and – I don’t know, I can’t think of any important nature and bird photographers from the early 20th century. Stories still circulate in the family of Mahrt’s descendants, anecdotes about this special man: That he went into the forest at half past four in the morning and sat in a clearing, to which the birds listened and took photos. Or the story of how he found a rare butterfly that he wanted to show a friend in Switzerland. Then he sat on his bike for 14 days and drove to Switzerland. Meanwhile, the harvest at home in the field dried up. As a farmer, he doesn’t seem to have been that good.

He counts birds, keeps a diary about it. He also stuffed and collected birds. 350 pieces. And 3000 butterflies, mushrooms, bugs. Sönje Storm asked the Zoological Museum Hamburg if they would like to see the exhibits. Eagle Owl, Hoopoe, Ruff. Even real diorama boxes. Everything very dusty. Even the rare double snipe is there. „Sowas must be saved,“ say the people from the museum. The butterfly specialist immediately lists which of the butterfly species prepared by Mahrt are now extinct. „We don’t have any natural landscapes anymore,“ says one of the naturalists.

In 1914 he was drafted into the war. He has two children. He fought on the western front, was drafted into the Luftwaffe and trained as an aerial photographer. He photographs the enemy lines from the plane. What exactly he experienced during the war was not told. After the war he went to the moor and continued his observations of nature and his nature diary. He doesn’t write anything about himself, but he’s now buying his first camera – how fortunate that he gained photographic experience during the war. An expensive medium format camera, which he finances by selling part of his land. That his family actually needs to survive. He photographs and identifies nests, eggs, birds. He placed the camera on the nests, connected the trigger with a thread and took pictures when the bird had landed back in the nest.

And then he goes one step further: He places his stuffed specimens in nature and uses the dead animals to stage photographs that are full of life, but sometimes also have something strange about them: for example, there are no waves in the case of a waterfowl in the water. And now he crosses the line from documentarian to artist. It’s the staging that interests us.

At some point in the Thirties he also goes back to Switzerland by bike and, on the way, begins to photograph the cities, the old buildings, often the backs. Impressive city shots, with a Rolleiflex, often stereo shots. Another collection. And there is a shot of a building that turns out to be the Berghof on the Obersalzberg. Hitler’s house. The swastika flag flies in front of the house, a window is open. A carriage drives by in the foreground.

But why was he doing all this? Why was he spending all the family money—and his wife still stood by him? Was he an idealist? A daydreamer? At the age of 42 he gave up farming altogether, handed the farm over to his adult son and devoted himself entirely to photography and collecting.

With DEAD BIRDS FLYING HIGH, Sönje Storm succeeds in making such a wonderfully touching documentary, a piece of contemporary personal history, a fascinating look at such a fascinating personality. They are unbelievable pictures of nature, of people, of cities 100 years ago. It is thanks to the director – but also to her father, who published several books about Jürgen Friedrich Mahrt – that these pictures have been preserved for posterity. Mahrt has captured a world and a nature that no longer exists is past. „His pictures show us the future,“ says the director at some point.

A farmer has managed to become a scientist and an artist. And today he contributes to research on the changing nature of our world.

An impressive film.

https://www.dok-leipzig.de/film/die-toten-voegel-sind-oben/programm

CREDITS

Regie/Director Sönje Storm

Kamera/DOP Alexander Gheorghiu

Montage/Editor Halina Daugird

Tongestaltung/Sound Roman Pogorzelski

Tonmischung/Mix Roman Pogorzelski und Karl Matissek (Studio Mitte)

Musik Dominik Eulberg, Bertram Denzel, Henry Reyels

Produzentin/Producer Sönje Storm

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