ENGLISH VERSION BELOW
Danubio
Camera Lucida
Dokumentarfilm
Argentinien
2021
62 Minuten
Spanisch, Englisch, Russisch
Mar del Plata liegt ein paar Stunden südlich von Buenos Aires. Es ist das wichtigste Seebad Argentiniens mit heute etwa 600.000 Einwohnern, einst ein unbedeutendes Hafenstädtchen, bis die Eisenbahn es mit der Hauptstadt verband und von da an immer mehr Besucher kamen. Biarritz war das Vorbild. Im (Süd)-Sommer pilgert der Porteño, also der Bewohner von Buenos Aires, gerne gen Mar del Plata, die Stadt verdoppelt beinahe ihre Größe und das kulturelle Zentrum Argentiniens verlagert sich zumindest für ein paar Monate gen Süden. So findet seit 1954 auch das wichtigste argentinische Filmfestival, das Festival Internacional de Cine in Mar del Plata statt, mit Ausnahme der Jahre 1971 bis 1995, als das Festival unter anderem wegen der Militärdiktatur ausfiel. Aber auch 1967 und 1969 fiel das Festival aus, wegen der Konkurrenz in Rio de Janeiro. Den Hauptpreis, der seit 2004 Astor de Oro heißt, gewannen schon Ingmar Bergman, Bernhard Wicki, Karel Reisz oder in der jüngeren Phase des Festivals Sally Potter und Jerzy Skolimowski.
Ein Behördenschreiben warnt vor der kulturellen Infiltration durch die in Mar del Plata sehr starke kommunistische Partei. Eine weibliche Stimme aus dem Off unterlegt die Dokumentaraufnahmen aus dem Mar del Plata jener Zeit: Ihre Familie, sagt die Frau, sei im Krieg aus Russland nach Argentinien geflohen. Am Hafen hätten viele osteuropäische Emigranten gearbeitet, darunter auch ihre Freunde Irina und Pablo und ihre Schwester Nevenka. Evita sei der Grund gewesen, warum sie nach Argentinien gekommen waren, aber als sie da waren, war sie bereits tot. Präsident Péron, wir befinden uns in den 50ern, besucht das Filmfestival und jubelt den versammelten, gigantischen Massen zu. Delegationen aus 22 Ländern nehmen am Festival teil. Der Erzählerin und ihre Freunde gingen gemeinsam hin, um die Stars zu sehen. 1955 gingen die Aufstände gegen Péron los, er wurde vom Militär gestürzt. Straßen wurden umbenannt, das Leben veränderte sich. Nevenka trat in die kommunistische Partei ein, betätigte sich aktiv, schwärmte und warb für den Kommunismus. Das Festival fand zunächst weiterhin statt, als wäre nichts, vor allem mit Filmen aus kommunistischen Ländern. Dann gründeten sie die „Danube Cultural Society“.
Wir befinden uns nun im Jahr 1968, mitten im Kalten Krieg. Es ist die 9. Ausgabe des illustren Filmfestivals, das dann Arthur Penn für Bonnie and Clyde als Preisträger des Astor de Oro erleben sollte. Die Erzählerin arbeitet als Übersetzerin beim Festival. Dieses war fest in der Hand des Regimes. Eines der Kinos war ausgebrannt, es gab Gerüchte, dass das Festival abgesagt werden sollte. Die Kollegen von der Kommunistischen Partei wollten, dass die Ich-Erzählerin den russischen Botschafter und die russische Delegation kontaktieren solle. Sie nähert sich insbesondere der Schauspielerin Tatiana an und schließlich lädt sie den Botschafter zur „Danube Cultural Society“ ein. Aber bevor es zu dem Treffen auf einer Party kam, kam es zu Hausdurchsuchungen und Verhaftungen…
„Danube“ ist der erste lange Film der Regisseurin Agustina Pérez Rial, die selbst in Mar del Plata geboren und aufgewachsen ist. Der Film verbindet eine Vielzahl dokumentarischer Quellen über die neunte Ausgabe des Filmfestivals von Mar del Plata zu einer filmischen Collage: Nachrichtenausschnitte, Fernsehaufnahmen, geheime Filmaufnahmen, Tondokumente, Archivmaterial, Fotos, Skizzen – und immer wieder schriftliche Dokumente. „Der Film ist mein Versuch, über meine Heimatstadt Mar del Plata zu sprechen, ein Gebiet, das zwischen Sommer und Winter, Fülle und Leere, der verlorenen Aristokratie und den degradierten Massen, der Realität und den Geistern, die die Stadt bewohnen, schwankt“, erzählt die Regisseurin. „Der Film ist als historische Fiktion aufgebaut, die aus Archivfragmenten und einer weiblichen Stimme besteht, die sie in eine mögliche – nicht wahre, aber eher realistische – Geschichte über eine junge Slawin in den sechziger Jahren einwebt, die ihre Situation als Migrantin in Frage stellt politisch militant in ihren Gruppen der Zugehörigkeit. Ihre Figur verbindet eine historische Periode mit Fragen, die ich durch die Gegenwart trage: die Spannung zwischen Peronismus und Linkem, die Verbindung zwischen Kino und Politik, wie jede Machtstruktur Intelligenz und Paranoia aufbaut und nährt.“
„Danube“ wandert damit im Feld der Filmgattungen zwischen Dokumentation und Fiktion umher. Mal stößt der Film beinahe ins Genre des Mockumentary vor, mal dokumentiert er wahre Ereignisse trotz der wohl erfundenen Protagonistin aus dem Off. Der Film sei vielleicht nicht wahr, aber realistisch, meint Agustina Pérez Rial.
Die Bilder sind faszinierend, die erzählte Geschichte spannend, nichtsdestoweniger für jemanden, der nicht allzu tief in argentinischer Historie verwurzelt ist, schwer zu verfolgen, vor allem auch weil die Protagonistin nicht wirklich im On erscheint und man sich nicht an sie binden kann. Man fühlt sich dann doch etwas alleine gelassen. Natürlich ist dies alles auch ein Experiment zur Rezeption dokumentarischer Genres, und natürlich ist jeder Dokumentarfilm in keinster Weise ein 1:1 Abbild von Realität – immer wird ausgewählt, eingeordnet, interpretiert, gedeutet. Und sich auf dieses Experiment einzulassen ist durchaus spannend, aber: Nun, nachdem ich den Film gesehen habe, habe ich leider den Wunsch, über genau dieses Thema einen „echten“ Dokumentarfilm zu sehen. Und damit werde ich leider allein gelassen.
https://www.dok-leipzig.de/film/danube/programm
ENGLISH VERSION
Mar del Plata is a few hours south of Buenos Aires. It is Argentina’s most important seaside resort with around 600,000 inhabitants today, once an insignificant port town until the railway connected it to the capital and from then on more and more visitors came. Biarritz was the model. In the (southern) summer, the Porteño, the resident of Buenos Aires, likes to make pilgrimages to Mar del Plata, the city almost doubles in size and Argentina’s cultural center shifts south for at least a few months. The most important Argentinian film festival, the Festival Internacional de Cine, has also been held in Mar del Plata since 1954, with the exception of the years 1971 to 1995, when the festival was canceled due to the military dictatorship, among other things. But the festival was also canceled in 1967 and 1969 because of the competition in Rio de Janeiro. The main prize, which has been called Astor de Oro since 2004, was won by Ingmar Bergman, Bernhard Wicki, Karel Reisz or, in the more recent phase of the festival, Sally Potter and Jerzy Skolimowski.
A letter from the authorities warns of cultural infiltration by the communist party, which is very strong in Mar del Plata. A female voice-over accompanies the documentary footage from the Mar del Plata of the time: the woman says her family fled from Russia to Argentina during the war. Many Eastern European emigrants worked at the port, including their friends Irina and Pablo and their sister Nevenka. Evita was the reason they came to Argentina, but by the time they got there she was already dead. President Péron, we are in our 50s, visits the film festival and cheers on the gigantic crowds that have gathered. Delegations from 22 countries take part in the festival. The narrator and her friends went together to see the stars. In 1955 the uprisings against Péron started and he was overthrown by the military. Streets were renamed, life changed. Nevenka joined the communist party, was active, fancied and promoted communism. At first, the festival continued to take place as if nothing were happening, mainly with films from communist countries. Then they founded the „Danube Cultural Society“.
We are now in 1968, in the middle of the Cold War. It’s the 9th edition of the illustrious film festival that would see Arthur Penn win the Astor de Oro for Bonnie and Clyde. The narrator works as a translator at the festival. This was firmly in the hands of the regime. One of the cinemas burned out, there were rumors that the festival should be canceled. The colleagues from the Communist Party wanted the first-person narrator to contact the Russian ambassador and the Russian delegation. In particular, she approaches the actress Tatiana and finally invites the ambassador to the “Danube Cultural Society”. But before they met at a party, there were house searches and arrests…
„Danube“ is the first feature film by director Agustina Pérez Rial, who was born and raised in Mar del Plata herself. The film combines a variety of documentary sources about the ninth edition of the Mar del Plata Film Festival into a cinematic collage: news clippings, television recordings, secret film recordings, audio documents, archive material, photos, sketches – and again and again written documents. „The film is my attempt to speak about my hometown of Mar del Plata, an area that vacillates between summer and winter, abundance and emptiness, the lost aristocracy and the degraded masses, reality and the spirits that inhabit the city“ , says the director. “The film is constructed as historical fiction, consisting of archival fragments and a female voice, which she weaves into a possible – not true, but rather realistic – story about a young Slavic woman in the 1960s who questions her situation as a migrant politically militant in their groups of affiliation. Her character connects a historical period with questions that I carry through the present: the tension between Peronism and the Left, the connection between cinema and politics, how any power structure builds and feeds intelligence and paranoia.”
„Danube“ wanders around in the field of film genres between documentation and fiction. Sometimes the film almost pushes into the genre of the mockumentary, sometimes it documents true events from the off despite the probably invented protagonist. The film may not be true, but it is realistic, says Agustina Pérez Rial.
The images are intriguing, the story told is intriguing, nonetheless difficult to follow for someone who isn’t too deeply rooted in Argentine history, especially since the protagonist doesn’t really appear in the on and you can’t get attached to her. You then feel a bit left alone. Of course, all of this is also an experiment in the reception of documentary genres, and of course every documentary film is in no way a 1:1 depiction of reality – there is always selection, classification, interpretation, interpretation. And getting involved in this experiment is quite exciting, but: Now that I’ve seen the film, I unfortunately have the desire to see a „real“ documentary film about exactly this topic. And unfortunately I am left alone with that.