Das Kinderbuch „In einem alten Haus in Berlin“ aus dem Gerstenberg-Verlag

Im Jahr 2017 erschien eines der schönsten Kinderbücher der letzten 10 Jahre auf Deutsch: „In einem alten Haus in Moskau – Ein Streifzug durch 100 Jahre russische Geschichte“ von Alexandra Litwina und Anna Desnitskaya, mittlerweile erscheint es in der fünften Auflage. Nun erschien, ebenfalls im Gerstenberg-Verlag, ein kongenialer Nachfolger: „In einem alten Haus in Berlin – Ein Streifzug durch 150 Jahre deutsche Geschichte“, erzählt von Kathrin Wolf, illustriert von Isabel Kreitz. Wie schon beim Moskau-Vorläufer handelt es sich um eine Mischform zwischen Sach- und Erzählbuch, mit fiktionalen Elementen. 150 Jahre deutscher Geschichte erzählt das Buch auf 64 prächtig illustrierten Seiten, das, so der Verlag, auf Kinder ab 10 Jahre und Erwachsene zielt, das Moskau-Buch zielte noch auf eine Zielgruppe ab 12.

Das Buch setzt ein am 1. April 1871, Karl Schwartz, Sohn einer Apothekerfamilie erzählt aus seiner Sicht, wie seine Familie in die Beletage eines neu gebauten Hauses irgendwo in Berlin zieht, der Bezirk ist nicht näher benannt. Voller Stolz genießt man den neuen Luxus der hohen Decken, des Badezimmers, der Toilette mit Wasseranschluss, den Goldstuck an der Decke. Auf der Illustration der Doppelseite – es sind immer prächtige, ausladende, detailreich gestaltete Doppelseiten, die uns die jeweilige Zeit vorstellen – sehen wir den Umzug, unzählige Helfer, die Möbel, Teppiche, Kisten und so weiter in die neue Wohnung schleppen, das Umzugsunternehmen arbeitet natürlich noch mit Pferdewägen.

Auf der nächsten Doppelseite sehen wir die Schwartz‘sche Wohnung aus der Vogelperspektive im Dreikaiserjahr 1888. Darüber weiß ich jetzt schon nicht mehr allzu viel aus meinem Geschichtsunterricht, Kathrin Wolf schafft es aber auch, uns dieses Jahr näher zu bringen, das wir aus der Sicht von Heinrich Schwartz, Karls jüngerem Bruder erleben. Wir sehen den Ankleideraum, das Mädchenzimmer, das Speisezimmer, das Herrenzimmer, den Salon und so weiter. Alternierend mit den Doppelseiten, die aus den persönlichen Sichten der Protagonist*innen berichten, gibt es dann immer wieder Doppelseiten, die eher aus der Warte des Geschichtsunterrichts erzählen – unterhaltsam, mit eingebauten Comicszenen, Illustrationen von Dokumenten, historischen Personen, Gegenständen. Das deutsche Kaiserreich folgt also nun, die Jahre 1871-1888.

Danach kommt das erste Kriegsweihnachten des Ersten Weltkriegs aus der Sicht der 11-jährigen Martha Schwartz, schließlich die Novemberrevolution 1918 (über die auch ich gerne noch mehr lernte als das, an was ich mich aus meiner Schulzeit noch erinnern konnte). Die Inflation 1923, Weimarer Republik, die Nazizeit, die Olympischen Spiele 1936, der Zweite Weltkrieg.

Die Darstellung der Zeit von 33-45 gelingt Kathrin Wolf und Isabel Kreitz einfühlsam, detailliert, mit subjektivem Blick der Hauptfiguren, ein paar Sätze als Beispiel aus der Sicht der 16-jährigen Ursula Richter vom 2. Mai 1945: „Mit Rahel Mayer war ich früher eng befreundet. Bis wir dann nicht mehr auf dieselbe Schule gehen konnten. Noch vor dem Krieg verreiste sie mit ihren Geschwistern und kam nicht wieder. Und irgendwann war die Wohnung der Mayers leer.“ Der nächste Satz bleibt einem im Hals stecken: „Mama hat mir erzählt, Frau Mayer habe bei ihr Gift gekauft. Das ist inzwischen gefragter als Medikamente.“

Weiter geht es mit den Nachkriegsjahren, der Teilung (das Haus liegt im Westen Berlins), spannend auch ein Blick auf ein wichtiges Stück deutsche Kulturgeschichte – die Berlinale; Wirtschaftswunder, Mauerbau und die zu erwartenden wichtigen historischen Ereignisse bis zur Gegenwart. Bemerkenswert finde ich, dass zum Beispiel auch die Studentenbewegung Ende der 60er thematisiert wird, ich kann mich nicht erinnern, das zuvor in einem Kinderbuch gesehen zu haben.

Am Ende des Buchs findet sich ein (auch für Erwachsene) hilfreiches Glossar mit Erklärungen wichtiger Begriffe (Hamsterfahrt, Kriegsdienstverweigerer, SO36, Vietnamkrieg usw.). Das Buch ist in Zusammenarbeit mit dem Stadtmuseum Berlin entstanden und greift auch auf Dokumente aus dem Fundus des Museums zurück, etwa historische Zeitungen, alte Postkarten, eine Eintrittskarte zu den Olympischen Spielen 1936, eine Lebensmittelkarte und vieles mehr. Das verleiht dem Buch einen Detailreichtum und eine Authentizität, die für 10-jährige und ältere sicher so beeindruckend ist, wie für Erwachsene.

Kathrin Wolf, die für die Idee und die Geschichte verantwortlich zeichnet, hat Kunstgeschichte und Museumsmanagement in Marburg, Hamburg und Berlin studiert, sie war – und das merkt man dem Buch von vorne bis hinten an – bei verschiedenen Museen für das „Storytelling“ zuständig. Isabel Kreitz, die Illustratorin, die die wunderbaren, von Details nur so wimmelnden Doppelseiten entwarf, hat in Hamburg und New York Design studiert und wurde für etliche Illustrationen und Comics, die sie zeichnete, mit Preisen ausgezeichnet. Von ihr stammen zum Beispiel mehrere Comic-Adaptionen nach Büchern von Erich Kästner, aber auch historische Graphic Novels wie zum Beispiel „Die Sache mit Sorge – Stalins Spion in Tokio“.

„In einem alten Haus in Berlin“ ist durchaus anspruchsvoll, in jedem Fall für 10-jährige, je nach Offenheit für die Vergangenheit sicher auch noch später, wobei ich den Verdacht habe, dass Eltern, die ihre Kinder dieses Buch lesen lassen, in jedem Fall bereit sind, das Buch auch gemeinsam mit durchzugehen und ihre Fragen zu beantworten. Wie angedeutet lohnt sich das mit Sicherheit auch immer für die Eltern, ich jedenfalls bringe aus meiner eigenen Schulkarriere etliche Wissenslücken mit, insbesondere wenn es um die deutsche Geschichte vor 1933 geht. Viel zu sehr waren meine Lehrer in den 70ern und 80ern auf kaum zusammenhängendes Faktenwissen aus und nicht auf die Zusammenhänge und auch nicht auf die Alltagsgeschichte – und wie dieses Buch wunderbar zeigt, hatte und hat die Weltgeschichte immer auch Auswirkungen auf den Alltag und die Alltagskultur der Menschen, insbesondere auch der Kinder.

„In einem alten Haus in Berlin“ gehört für mich in der Tat zu einem der besten Kinderbücher mit Geschichtsthematik, das ich seit langem in der Hand hatte. Selten greift ein Buch so sinnlich und überzeugend, so narrativ und authentisch die natürliche Neugierde von Kindern auf, dass die Welt eben nicht immer so war, wie sie heute ist. Das geht ja bei den Dinosaurierbüchern los, die eben zeigen, dass die Natur einmal anders gewesen ist, als sie heute ist. Das greifen auch die ganzen Kindersachbuchserien auf, „Was ist was“ und Co, die über die Geschichte Roms, Ägyptens, der Ritterzeit etcpp. mittlerweile ziemlich überzeugend erzählen. Zuletzt fallen mir da einige Kinderbücher ein, die ich in den letzten Monaten und Jahren mit meinem Sohn durchgelesen habe: Etwa „Shackletons Reise“ von William Grill aus dem Nord-Süd-Verlag, „Mit dem Zeppelin nach New York“ von Stephan Martin Meyer und Thorwald Spangenberg, ebenfalls aus dem Gerstenberg-Verlag, „Kindheit in der DDR“ aus dem Komet-Verlag, „Eine Stadt im Lauf der Zeit“ von Steve Noon aus dem Dorling Kindersley-Verlag, sowie „Die Geschichte der Titanic“ ebenfalls von Steve Noon, bei Dorling Kindersley erschienen. Ich (und mein Sohn ebenso), lieben diese Bücher alle, aber „In einem alten Haus in Berlin“ bringt uns als Berliner auch noch eine Nähe zur Thematik, so dass wir die Geschichten dieses Buches eben an jeder zweiten Berliner Straßenecke nachvollziehen können.

Und jetzt noch zwei Anekdoten zum Thema „narratives, erlebtes Erzählen von Geschichte“:

Es gibt mittlerweile eine Menge hervorragender Museen, die historische Gesichtspunkte mittels Storytelling großartig erzählen können, dazu gehören sicher die Häuser des Stadtmuseums Berlin, aber auch eine Menge anderer Berliner Museen. Das Museum, das mir in dieser Hinsicht aber am meisten in Erinnerung geblieben ist, ist das „Lower East Side Tenement Museum“ in New York, das in authentisch restaurierten Wohnblocks und Wohnungen die echten Schicksale von Auswandererfamilien erzählen, inmitten eben dieser Wohnungen. Man erlebt diese Geschichten hautnah mit, weil wir sehen, wie diese Familien damals, nach der Auswanderung aus ihren Herkunftsländern in New York gelebt haben. Das ist zutiefst beeindruckend und bleibt einem sehr in Erinnerung.

Die zweite Anekdote hat mit meinem Sohn zu tun. Julius ist acht und in Ermangelung eines 10-jährigen oder älteren Kindes habe ich dieses Buch mit ihm gemeinsam durchgelesen. Das erforderte einiges an Erläuterungen und Erklärungen und manches hat er sicher auch noch nicht vollständig verstanden. Und manches zu erklären stellt natürlich die Eltern (und die Buchautorinnen) vor große Herausforderungen. Julius bringt allerdings einen entscheidenden Vorteil mit, was das Verständnis deutscher Geschichte angeht: Entscheidende Dinge haben sich nämlich bei uns um die Ecke abgespielt, oder auch an Orten, die Julius eben kennt. Das begann, als Julius irgendwann mit vier das Luftbrückendenkmal am Platz der Luftbrücke sah und meinte „Kuck mal, eine riesige Rutschbahn“. Und weil ich mir immer vorgenommen hatte, es mir nicht zu einfach zu machen und seine Fragen abzuwimmeln, stand ich nun da und musste versuchen, ihm etwas zur Berlin-Blockade, zur geteilten Stadt und zur Luftbrücke erzählen und das hat sich gelohnt. Ich zeigte ihm auch die Filmausschnitte, in denen die amerikanischen Piloten Schokoladetafeln an kleinen Fallschirmen aus den Flugzeugfenstern warfen und die Kinder unten die Tafeln auffingen. Das, erzählte ich Julius, war zweihundert Meter von uns zu Hause entfernt. Die Flieger flogen knapp über unsere Dächer und ich ging mit Julius genau an die Stelle, an der die Kinder damals warteten und den Flugzeugen zusahen.

„In einem alten Haus in Berlin“ greift genau diese kindliche Neugierde meisterhaft auf und verwandelt das Buch in ein eindrückliches, unvergessliches Kinderbuch.

Kathrin Wolf / Isabel Kreitz: In einem alten Haus in Berlin
24,5 x 34 cm, gebunden, 64 Seiten, durchgehend farbig, ab 10 Jahre
ISBN 978-3-8369-6088-5
28,00 € (D) / 28,80 € (A) / 35,60 SFr

https://www.gerstenberg-verlag.de/Kinderbuch/Sachbuch/In-einem-alten-Haus-in-Berlin.html

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