FAMILY PORTRAIT beim Filmfestival Mannheim Heidelberg

72. IFFMH – Pressefotos On The Rise/OTR – Family Portrait

Ich mag das Wort „Filmessay“ eigentlich nicht. Beziehungsweise eigentlich mag ich Filme nicht, die andere Menschen als Filmessay bezeichnen. Aber diesen Film, FILM PORTRAIT, den ersten Langspielfilm der texanischen Regisseurin Lucy Kerr mag ich eigentlich von Anfang an, und vielleicht ist er ja ein Filmessay. Der Film beginnt mit einer langen Szene, in der eine Familie in einem von der Sonne flirrenden Park zusammenkommt, das heißt erst glaubt man, es sei ein Park, dann stellt man fest, dass es das riesige Familienanwesen in Texas ist. Barbara, die Mutter der Familie, versucht alle zu einem großen Familienfoto zusammenzubringen, beinahe vergeblich, die Kinder tollen herum, die Erwachsenen sind abgelenkt. Die Kinder haben Weihnachtsmannmützen auf, was auf eine winterliche Zeit hinweist, aber im Süden der USA ist es ja auch im Winter manchmal noch sonnig und warm, denkt man sich. Die Stimmen der Familienmitglieder hören wir erst gar nicht, sie werden übertönt von einem Surren, wie von einer Maschine oder einer Lüftung, erst dann dringen die Stimmen zu uns durch.

Wir sehen weitere Szenen: Jemand läuft durch den Wald. Eine junge Frau liegt in der Hängematte und kämpft sich durch ein Physikbuch. Ein junges Paar, Olek und Katy, unterhält sich darüber, wie sie geschlafen hat, dass sie etwas gelesen hat. Er, Olek, ist gebürtiger Pole, hat etwas Schwierigkeiten dabei, von den Texanern der Familie akzeptiert zu werden. Die beiden finden in der Familienbibliothek gleich zwei signierte Ausgaben einer Barbara Bush-Biografie. Später folgt ihnen die Kamera, nein sie läuft neben ihnen her, als sie schweigsam über das Gelände laufen. Auch hier wieder wird die Tonspur zunehmend von Geräuschen bestimmt, dem Wind vielleicht, den Schritten im trockenen Gras des Geländes. Beiläufige, zärtliche, beunruhigende, aber auch stille Szenen, die weniger einzelne Charaktere umreißen, als dass sie vielmehr eine Stimmung, Stimmungen erzeugen. Der Film lässt den Szenen Zeit, in langen Einstellungen, ist nicht auf Handlungsabläufe oder Storylines getrimmt. Er macht uns die Tonspur bewusst. Wir lernen zuzuhören, hinzuhören, sind manchmal vielleicht durch die Tonspur verwirrt, die nicht nur zur Informationsvermittlung da ist.

Dann sitzt die gesamte Familie gemeinsam im Haus beisammen, leichter, entspannter, vertrauter Familiensmalltalk. Die Kinder spielen gemeinsam. Man unterhält sich über dies und jenes, was halt so geredet wird. Dann kochen die Frauen, die Männer schauen im Hintergrund irgendeine Sportübertragung. Texanische Rollenverteilung. Nun wird das große Familienfoto geplant, für die Weihnachtskarte. Alles muss durchgeplant sein. Olek ist Fotograf und soll das Foto machen. Familienanekdoten werden erzählt.

Dann kommt die Nachricht vom Tod der Tochter von Onkel Tim, irgendwas mit der Lunge, aber die Nachricht soll nicht die Stimmung des Familientreffens herunterziehen und wird daher nicht vor allen geteilt. Die traurige Nachricht soll später erzählt werden. Wie stehen die Familienmitglieder zu der Verstorbenen? Man versucht das, wenn man die Szene sieht, einzuordnen, manche sind betroffen, aber es sind auch recht distanzierte Reaktionen. Immer mehr beginnen sich die Gespräche um Krankheit und Tod zu drehen.

„Has anyone seen mom?“ Plötzlich ist Barbara spurlos verschwunden. Das Familienfoto ist noch nicht gemacht, einige müssen bald schon wieder gehen. Doch wo ist sie? Nur Katy scheint sich wirklich zu sorgen.

Lucy Kerr, die Regisseurin des Films ist gebürtige Texanerin, sie ist 1990 in Houston geboren. „Family Portrait“ ist ihr Debütfilm, ihre Kurzfilme und ihre Videoinstallationen waren aber schon auf vielen internationalen Festivals und in Kunstmuseen gezeigt, unter anderem beim International Film Festival Rotterdam, beim San Sebastian International Film Festival, beim Reykjavik International Film Festival und im San Francisco Museum of Modern Art.

„Family Portrait“ ist eine berührende, unkonventionell gefilmte und erzählte Familiengeschichte. Die langen Einstellungen, die im dokumentarischen Stil inszenierten Gesprächsszenen, der innovative Umgang mit der Tonspur, die Thematisierung von Krankheit und Tod – das alles übt eine beunruhigende Faszination aus. Lucy Kerrs Film prägt sich einem tief ein. Empfehlenswert.

Nach dem Screening am 22.11. sprechen die Regisseurin Lucy Kerr und Robert Folger, Direktor des Käte Hamburger Kolleg für apokalyptische und post-apokalyptische Studien an der Universität Heidelberg (CAPAS) über die apokalyptische Deutung im Film.

https://www.iffmh.de/festival/unser-filmprogramm/filme/family-portrait/index_ger.html
FAMILY PORTRAIT läuft vom 21. bis zum 24. November 2023 beim Filmfestival Mannheim Heidelberg.

Regie: Lucy Kerr
Land: USA

Deutschlandpremiere
2023 | 75 min. | Englisch
Untertitel: Deutsch
Darsteller*innen_ Deragh Campbell, Chris Galust, Rachel Alig, Katie Folger, Robert Salas Drehbuch_ Lucy Kerr Kamera_ Lidia Nikonova Produzent*in_ Megan Pickrell , Frederic Winkler Rechte_ Lights On

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert