„Jugendstil in Berlin“ von Birgit Ströbel im Deutschen Kunstverlag

Bruno Möhring, U-Bahn Station Bülowstraße, Berlin-Schöneberg, 1902
Landesarchiv Berlin: Abb. 11 (Foto: Waldemar Titzenthaler)

Im Berliner „Deutschen Kunstverlag“ ist im November 2023 das umfassende Werk „Jugendstil in Berlin. Künstler – Räume – Objekte“ der Historikerin und Bibliothekarin Birgit Ströbel erschienen. Ströbel stellt die Stadt Berlin als Ort des Jugendstils vor, was wohl lange nicht so gesehen wurde. Die Zentren des Jugendstils in Deutschland waren bisher München, Darmstadt, Hagen und Weimar, in Berlin gab es lange, so die Autorin „große Lücken in der Bestandsaufnahme und Erforschung des Jugendstils“. Zerstörungen im Krieg und „Nachkriegsprioritäten“ verdeckten lange den Blick auf die Bedeutung des Jugendstils in Berlin.

Sieben Künstler, die in Berlin gewirkt haben, stellt Birgit Ströbel vor: Bruno Möhring, Alfred Grenander, Otto Eckmann, Henry van de Velde, August Endell, Theodor Schmuz-Baudiß und Peter Behrens. Ausführlich stellt sie deren Werk, ihre Schwerpunkte und ihre Spuren in Berlin dar, etwa Bruno Möhrings Jugendstil-Hochbahnstation (die Hochbahnstation Bülowstraße), Alfred Grenanders U-Bahnhof-Dekorationen, Kassenhäuschen und Zeitungskioske, Otto Eckmanns Gemälde und Zeichnungen, Henry van de Veldes Einrichtung des Friseursalons Haby, August Endells Außenfassade der Hackeschen Höfe und das „Landhaus Nelson“, Theodor Schmuz-Baudiß‘ Porzellankunst, Peter Behrens‘ Graphiken und Raumkunst. Es fehlen, wie Birgit Ströbel feststellt, die Arbeiten von Künstlerinnen jener Zeit, die lange von der Forschung vernachlässigt wurden und über die zum Teil heute noch wenig bekannt ist, die Autorin nennt etwa Marie Kirschner und Fia Wille.

Für mich am überraschendsten ist der Beitrag über Alfred Grenanders Zeitungskioske, die zum Teil heute noch erhalten sind. Elf dieser Kioske wurden von der damals noch nicht zu Berlin gehörenden Stadt Charlottenburg in Auftrag gegeben und waren jeweils mit einer öffentlichen Telefonzelle verbunden. Weitere wurden von Hermann Stilke in Auftrag gegeben, einem Verleger, der damals die Bahnhofsbuchhandlungen in Berlin betrieb. Vier davon stehen noch, schreibt Birgit Ströbel, und zwar am Savignyplatz, am Steinplatz, in der Oranienstraße am Heinrichplatz (der seit kurzem Rio-Reiser-Platz heißt) und in der Bismarckstraße, die meisten sind nicht mehr in Verwendung. Und ich stelle fest, dass ich an dem in der Oranienstraße unzählige Male achtlos vorbeigelaufen bin.

Spannend ist auch die Biografie August Endells, dem – wie die Autorin feststellt – Exzentriker unter den Jugendstilkünstlern. Von ihm stammt auch der Entwurf der Trabrennbahn Mariendorf. „Wie sollte man sonst einen Mann bezeichnen“, schreibt Birgit Ströbel, „der (…) mit gerade 27 Jahren ein Bauprojekt in München (Fotostudio Elvira) realisierte, das ‚wie ein Dorn im Fleische Münchens‘ saß; der 1897 Sommertage in Wolfratshausen mit Lou Andreas-Salome (1861–1937), Rainer Maria Rilke (1875–1926) und Frieda von Bülow (1857–1909) im Haus Loufried verbrachte, (…); der 1898 Mitglied im Münchner Verein für Fraueninteressen war“ usw. Unzählige KünstlerInnen und AutorInnen schildern auch sein Äußeres als hochaufgeschossen, rundrückig oder vogelartig. Viele seiner Arbeiten und Aufträge sind heute verschwunden.

Im zweiten Teil des Buches, „Begegnungen mit dem Jugendstil in Berlin“, beschreibt Ströbel die Orte, an denen man in Berlin dem Jugendstil begegnen konnte: „Wo konnte man sich in Jugendstil-Ambiente bewegen und wo waren Jugendstil-Objekte zu bewundern oder auch zu erwerben?“ Bei den Orten im öffentlichen Raum sind dies die Verkehrsmittel der damaligen Zeit, U-Bahnhöfe, Hochbahnstationen, S-Bahnhöfe; die bereits erwähnten Zeitungskioske von Alfred Grenander, Restaurants und Festsäle (zum Beispiel die Hackeschen Höfe), Theatergebäude, Ausstellungshäuser, Rathäuser, Schwimmbäder (das Städtische Volksbad Charlottenburg, in dem übrigens mein Sohn Schwimmunterricht hat) usw.  Bei den Innenräumen schreibt Ströbel über den schon erwähnten Frisiersalon Haby, die Salamander-Schuhgeschäfte und viele andere Ladengeschäfte, aber auch Warenhäuser, Galerien und Privaträume. Zu den schönsten Orten, soweit ich dies anhand der Fotos beurteilen kann, gehörte die „Fachhandlung für Tabak Continental Havana Compagnie“ in der Mohrenstraße 11/12 in Mitte, heute stehen dort unschöne Plattenbauten. Der Laden wurde von Henry van de Velde gestaltet. „Vom Hauptraum des Ladenlokals aus öffneten sich weitere Verkaufsräume. Die beiden fast deckenhohen Rundbögen zwischen den Räumen erzeugten den Eindruck von Großzügigkeit. Ganz ungewöhnlich und originell, gingen die dem Bogenrund folgenden Holzverstrebungen auf Zwei-Drittel-Höhe des Bogens auf beiden Seiten über in ein Regal für Zigarrenkisten“, so beschreibt Birgit Ströbel den Tabakladen.

„Jugendstil in Berlin“ ist ein bei aller Wissenschaftlichkeit – insbesondere auch mit seiner reichen Bebilderung – ein ungemein unterhaltsames Sachbuch, das direkt anregt, auf Jugendstil-Entdeckungsreise durch die Stadt zu gehen. Birgit Ströbel resümiert, dass Berlin „um 1900 durchaus eine Stadt war, die Jugendstil in den verschiedensten Facetten beherbergte“. Insbesondere in der Erforschung der Künstlerinnen ist noch einiges zu erhoffen. Was mich, als absoluten Jugendstil-Laien noch interessieren würde: Gibt es noch Kachelöfen aus jener Zeit, die man dem Jugendstil zurechnen kann? Und: Gibt es noch Wohnungen, die Jugendstil-Stuck an der Decke haben? Einen Ausflugstipp gibt Birgit Ströbel am Ende des Buches: „Wäre da nicht das wunderbare Bröhan-Museum, das sich neben dem internationalen Jugendstil auch immer wieder in seinen Ausstellungen des Jugendstils vor Ort und seiner Protagonisten annähme, gäbe es noch größere Lücken im Wissensstand und im visuellen Gedächtnis.“

Jugendstil in Berlin
Künstler – Räume – Objekte
Birgit Ströbel
Deutscher Kunstverlag
November 2023
448 Seiten, Deutsch
17 × 24 cm
148 Abbildungen, 146 Farbabbildungen
E-Book 978-3-422-80169-1
Gebunden 978-3-422-80068-7
52€

https://www.deutscherkunstverlag.de/de/books/9783422801691

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