Der Wedding ist unter den Berlinfilmern bis heute einer der eher vernachlässigten Bezirke – ähnlich wie Neukölln. Der Berlinfilm der Gegenwart findet eher in den hipperen Kiezen von Mitte, Prenzlauer Berg oder Kreuzberg statt. Ein Vorreiter war Heiko Schiers Film „Wedding“ aus dem Jahr 1989 mit Heino Ferch, noch kurz vor dem Mauerfall gedreht. Nun kommt Soleen Yusefs Wedding-Film „Sieger Sein“ in die Kinos. Yusef wurde 1987 im kurdischen Teil des Irak geboren, ihre Familie floh, als sie neun war, nach Deutschland. Nachdem sie sich nach dem Abitur erst der Mode zugewandt hatte, studierte sie schließlich an der Filmakademie Baden-Württemberg Regie. Ihren Debütfilm „Haus ohne Dach“ drehte sie in ihrer Heimatstadt Duhok, danach drehte sie vor allem fürs Fernsehen und für Streaming-Dienste. Der Kinderfilm „Sieger sein“ landete zunächst im Berlinale-Kinderwettbewerb „Generation“ und kommt nun im Verleih von DCM in die deutschen Kinos.
Warum mich „Sieger sein“ ganz besonders interessiert, hat im Wesentlichen zwei Gründe: Erstens war ich im Jahr 2019 neun Monate lang als Quereinstiegslehrer an einer Weddinger Brennpunktschule tätig und zweitens besucht mein Sohn derzeit eine ehemalige Neuköllner Brennpunktschule. Heute ist die Schule in einem tiefgreifenden Wandel begriffen, was auf die Änderung der Sozialstruktur hier in Neukölln zurückzuführen ist. In manchen Schulen Neuköllns und Weddings sind diese Veränderungen aber noch nicht angekommen. Aber zunächst zu „Sieger sein“:
Mona (Dileyla Agirman) ist mit ihrer Familie aus Syrien vor dem Assad-Regime geflüchtet. Zu sechst sind sie. Alles ist noch fremd, der Vater Said (Murat Seven) verdient etwas Geld als Pizzabote, die Mutter Nada (Halima Ilter) ist mit allerlei Weiterbildungskursen beschäftigt. Die vier Kinder haben mit der deutschen Sprache in der Schule zu kämpfen und obwohl die Schule im Wedding sowieso Kinder aus etlichen Kulturen beschult, hat Mona es als Neue trotzdem besonders schwer, anerkannt zu werden und in das Sozialgefüge ihrer Klasse hineinzufinden. Und so steckt Mona einerseits mitten im Kampf, sich in der Fremde zurechtzufinden und andererseits quält sie die Sehnsucht nach denen, die sie in ihrer Heimat zurückgelassen hat. Und allem voran ist die „Siebte Weddingschule“, auf die sie geht, eine Brennpunktschule, es wird gemobbt und geprügelt, die meisten Lehrerinnen und Lehrer haben resigniert, die die nicht resigniert haben, haben es eigentlich noch viel schwerer. Die große Ausnahme ist Herr Chepovsky, kurz „Herr Che“ genannt (Andreas Döhler). Er nimmt sich der Kinder an, kämpft für sie, ist auf ihrer Seite, er weiß, dass Beziehungsarbeit mit den Kindern das Entscheidende daran ist, sie für das Lernen begeistern zu können. Und da kommt Herrn Che der Fußball zugute: Die zunächst hämischen, später neidischen Jungs aus der Klasse müssen mit ansehen, dass die Mädels durchaus als Einzelkämpferinnen gut mit dem Ball zurechtkommen, wenn auch gute Spielerinnen noch gebraucht werden könnten – um eine richtige Mannschaft zu formen. Da kommt Mona genau richtig, die hat nämlich in Syrien schon Fußball gespielt und bei der Flucht den geliebten Ball, den ihr ihre Tante geschenkt hat, zurücklassen müssen. Doch Monas Mitspielerinnen haben noch schwere Vorurteile gegen das Mädchen, das erst aus der Fremde hergekommen ist. Man macht sich das Leben selbst schwer – und dann werden sie auch noch von den Jungs schikaniert. Da lernt Mona an der Schule einen anderen Außenseiter kennen, Harry, den Sohn von Herrn Che. Und bis zum stadtweiten Fußballturnier muss die Mädchentruppe noch gegen Widerstände des Lehrkörpers kämpfen und zur Mannschaft zusammenwachsen.
„Sieger sein“ ist ein unterhaltsames Mainstream-Drama um das Anderssein und das Fremdsein. Soleen Yusef orientiert die Story dabei an ihrer eigenen Lebensgeschichte. Nach der Flucht ihrer Familie aus dem Irak (im Film geht es um Syrien) landete die Regisseurin damals zuerst in einer Flüchtlingsunterkunft in Ostfriesland, dann in Wolfsburg und schließlich – wie die Protagonistin des Films – in Berlin-Wedding. „War echt ’n hartes Pflaster, ja!“ erzählt sie vom Schulalltag. „In der Schule ging es extrem ruppig und respektlos zu. Von zuhause kannte ich noch Fahnenappell, Schuluniformen und Schläge mit dem Lineal. (…) Die Direktheit, dass man nicht willkommen war, war hart. Ich war Außenseiterin, sprach nicht gut Deutsch, wurde gehänselt und gemobbt. Das Einzige, worin ich mich beweisen konnte, war der Sport.“ Erstaunlich, dass diese Ausgrenzung ausgerechnet auch an einem jener Orte stattfinden kann, der multikultureller und vielfältiger kaum sein könnte. Und die Sprachhürde sorgte auch bei der Regisseurin und ihren Geschwistern lange dafür, dass die Lehrerinnen und Lehrer die Fähigkeiten der Kinder gar nicht erkannten. Beinahe, so Yusef, wäre sie auf der Hauptschule gelandet, wenn da nicht ein Lehrer, eben einer wie der Herr Che, erkannt hätte, was in ihr steckt: „Ohne seinen Einsatz hätte ich nie studiert, wäre nie Filmemacherin geworden.“
„Sieger sein“ könnte ein schweres Sozialdrama sein, ist es aber nicht. Yusef orientiert sich nicht etwa an Ken Loach oder an Thomas Arslan. Mit den beiden wäre sie nicht vergleichbar. „Ich erzeuge gern Magie im Realismus. Authentizität muss sein, aber ich mag auch poetisches Erzählen und fühle mich in der Tragikomödie zuhause. Das passt auch zu meiner Identität: Kurden sind ein extrem humoriges Volk, trotz der Tragödien, die ihnen bis heute widerfahren.“ Vielleicht tendiere ich persönlich eher zum sozialen Realismus, aber ich glaube bei meinem Sohn, der neben mir den Film geschaut hat, kommt dieser sich erzählerisch eher am Mainstream orientierende magische Realismus viel besser an als bei mir. Ich will ihn gar nicht schlecht reden, ich mochte den Film, ich fühlte mich gut unterhalten, fand den ernsten Hintergrund der Erzählung überzeugend umgesetzt, bei meinem Sohn hingegen kam er so richtig gut an – und schließlich gehört er der Zielgruppe an und nicht ich. Auch die Verwendung der Jugendsprache und die Darstellung der Kinder fand er überzeugend. Und: Er äußerte Dankbarkeit, dass die Schule, die er besucht, heute nicht mehr so ist, wie die im Film – obwohl es wahrscheinlich keine zehn Jahre her ist, dass Mobbing, Ausgrenzung und Gewalt zum Alltag in seiner Schule gehörte.
Für mich ist der jüngst in den deutschen Kinos gestartete mexikanische Film „Radical“ von Christopher Zalla über eine Brennpunktschule im Norden Mexikos der etwas stärkere Film zum Thema. Natürlich nimmt er eine andere Perspektive ein und auch er ist nicht so sehr sozialdokumentarisch – aber vor allem ist er halt kein Film für Kinder oder Jugendliche, dazu ist er mit seiner Darstellung der Gewaltkriminalität zu direkt – was eigentlich schade ist, weil er noch viel mehr als „Sieger sein“ darstellt, wie Schule auch bei uns in Berlin sein könnte. „Sieger sein“ aber wird, glaube ich, bei den Schülerinnen und Schülern so richtig gut ankommen – und ich meine und hoffe, dass auch viele Schulklassen, nicht nur in Berlin, diesen Film sehen sollten.
Am Ende muss in jedem Fall der tolle junge Cast gelobt werden, allen voran Dileyla Agirman in ihrer ersten Hauptrolle als Mona. „Bei Dileyla Agirman war schnell klar, dass wir mit ihr ein Juwel gefunden hatten: Sie hat eine großartige Ausstrahlung, Charisma und die richtige Körperlichkeit, weil sie Kampfsport betreibt“, so die Regisseurin. „Selbst frühreife Polit-Phrasen hörten sich von ihr ganz natürlich an, weil sie ebenfalls aus einem kurdischen, politisch sehr wachen Haus kommt.“