Ich bin ja kein großer Freund von Künstler-Biopics, und zwar aus verschiedenen Gründen: Ein Leben folgt anderen dramaturgischen Gesetzen als ein Film. Das heißt, man muss bei der Verfilmung eines Lebens immer Kompromisse schließen, auswählen oder verändern, manchmal gar bewusst fälschen. Und: Das Interessante an einem Künstler, in diesem Fall einem Schriftsteller ist doch im Wesentlichen sein Werk. Aber schreibend dasitzende Autoren geben keinen guten Film ab. Also muss immer noch irgendwie das Privatleben des Künstlers ran. Aber wer sagt denn, dass das Liebesleben oder andere Bestandteile des Privatlebens eines Künstlers unbedingt interessant sind? Warum sollte das Liebesleben von Franz Kafka in einen Film gezwängt werden, ist das so besonders? Da will ich doch unter Umständen lieber eine erfundene, dem Leben nachempfundene Liebesgeschichte filmisch erzählt bekommen. Von Kafka lese ich dann seine Werke. Oder wegen mir lese ich eine Biografie oder schaue mir einen Dokumentarfilm an, die können jeweils anderen dramaturgischen Gesetzen folgen.
Das war so die Grundeinstellung, die ich auch dem Film DIE HERRLICHKEIT DES LEBENS entgegenbrachte, bevor ich ihn sah. Dennoch weckten die spannende Besetzung und mein Grundinteresse an Kafka den Wunsch, diesen Film zu sehen. Um etwas auszuholen: Ich habe vor ungefähr 25 Jahren meine Magisterarbeit über Kafka geschrieben. Konkret über Kafkas „Proceß“ und über zwei Verfilmungen davon: die todlangweilige äußerliche Romanabbildung von David Jones, der dem Werk Genüge tun wollte, es aber gerade dadurch nicht tat. Und die tiefspannende absolut filmische Umsetzung durch den Titan, Orson Welles. Ein grandioser Film, vor allem deswegen, weil Welles durch und durch filmisch gedacht hat, ein visuelles Meisterwerk geschaffen hat – und ein erzählerisches noch dazu, das, wenn’s nicht anders geht, ins Werk Kafkas eingreift und einen Film daraus bastelt. Grandios.
Ich habe Kafkas Vita gar nicht mehr so sehr im Kopf, vor allem auch deswegen, weil mich diese biografischen Ansätze in der Literaturwissenschaft immer gelangweilt haben. Viel spannender fand ich immer, was Literatur mit dem Leser macht. Und so geht es mir dann auch mit dem Film: Ich interessiere mich nicht dafür, wie realistisch dieser Film das Leben Franz Kafkas abbildet. Ich interessiere mich einzig dafür, was der Film mit mir macht. Also, zum Film, der aber, so viel schon vorab, mehr als ein Kafka-Biopic eigentlich in gleichem Maße auch ein Dora Diamant-Biopic ist.
Wir befinden uns im Jahr 1923, ein Jahr vor Kafkas frühem Tod, irgendwo an der Ostsee, Sonne, Strand, Kinder, Meer. Die 25-jährige Dora Diamant ist Erzieherin, mit einer Gruppe jüdischer Kinder ist sie aus Berlin ins Ferienheim an die Ostsee gereist. Geboren ist sie in Polen, in eine strenge jüdisch-orthodoxe Familie hinein. Das Leben mit ihrer Familie war ihr zu streng, zu konservativ, also war sie nach Berlin gezogen, um dort ihre Ausbildung zu machen und aus der Enge ihres Lebens auszubrechen. An der Ostsee verbringt die junge Frau eine unbeschwerte, fröhliche Zeit. Eines Tages taucht an ebendiesem Strand eine bleiche, aber attraktive Gestalt auf, elegant gekleidet und eigentlich nicht für einen Strandurlaub gemacht: Es ist Dr. Franz Kafka. „Da ist er!“ flüstern die Kinder schon. Er hat sich bereit erklärt, den Berliner Kindern eine Geschichte zu erzählen. Dora Diamant ist fasziniert von diesem Mann, der mit der ultraorthodoxen Welt ihrer Familie so überhaupt nichts zu tun hat. Kafka, auch Jude, entstammt einer aufgeklärten Familie aus Prag. Aber eins hat die junge Dora dem 40-jährigen Schriftsteller voraus: Sie hat sich ein eigenes Leben aufgebaut, verdient eigenes Geld – während Kafka leidet, unter der Dominanz seines herrischen Vaters, unter dem mäßigen Erfolg als Schriftsteller – und vor allem unter seiner schwachen Gesundheit. Trotz allem entwickeln die beiden Gefühle füreinander und sie beschließen sogar, sich in Berlin eine gemeinsame Wohnung zu nehmen. Doch da erhält Kafka seine Lungentuberkulosediagnose, eine Krankheit, die zu jener Zeit noch nicht heilbar war.
Regisseur Georg Maas (ZWEI LEBEN) hat mit Sabin Tambrea (IN EINEM LAND, DAS ES NICHT MEHR GIBT) als Franz Kafka und Henriette Confurius (NARZISS UND GOLDMUND) als Dora Diamant eine geradezu ideale und grandiose Besetzung gefunden. Der in Rumänien geborene und in Deutschland aufgewachsene Tambrea war in den letzten Jahren in einigen der wichtigsten TV- und Kinowerke zu sehen, etwa in der „Ku’damm“-Serie, in „Babylon Berlin“, sowie im Kino in NARZISS UND GOLDMUND, in IN BERLIN WÄCHST KEIN ORANGENBAUM sowie in IN EINEM LAND WAS ES NICHT MEHR GIBT. Auch Henriette Confurius spielte in NARZISS UND GOLDMUND mit. Zuletzt war sie in DAS MÄDCHEN UND DIE SPINNE, in GENERATION BEZIEHUNGSUNFÄHIG, in ICH ICH ICH und in SCHWEIGEND STEHT DER WALD zu sehen.
Aber wie verträgt sich nun meine Biopic-Skepsis mit diesem Film? Nun, die großartige Besetzung der beiden Hauptfiguren hat in der Tat einen positiven Eindruck bei mir hinterlassen. Ich nehme Sabin Tambrea den Kafka unbedingt ab – ebenso wie mich Henriette Confurius als Dora Diamant überzeugt. Der Film ist kein bisschen mit künstlicher Dramatisierung aufgeblasen. Georg Maas erzählt den Film mit einer solchen Poesie, einer solchen dramaturgischen Zurückhaltung, dass mich die langsame Erzählweise gefangen nimmt. Hundert Jahre liegt diese Liebesgeschichte jetzt zurück, hundert Jahre der Tod Kafkas. Wie interessant, dass Dora Diamant seine Romane und Erzählungen noch gar nicht kannte – und Kafka inzwischen einer der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts ist.
Dora Diamant äußerste sich später verwundert darüber, wie sehr Kafka als depressiver, schüchterner und ängstlicher Mensch gezeichnet wurde. Sie hatte ihn als offen, humorvoll und an anderen Menschen interessiert erlebt – und genau diese Seite zeichnet auch der Film. „Diese ‚Korrektur‘ oder Vervollständigung des Kafka-Bildes ist ein Anliegen des Films“, sagt Regisseur Georg Maas. Dieses Bild des Schriftstellers wurde noch sehr lange gezeichnet – und auch die komische und tragikomische Seite seines Werks wurden lange nicht genügend beachtet: Wie komisch ist es doch, morgens in einen Käfer verwandelt aufzuwachen. Oder: Wie tragikomisch ist es, irgendeines Prozesses zu harren, ohne zu erfahren, worum es eigentlich geht. Mittlerweile ist einiges an Büchern und Aufsätzen über den Humor und die Komik bei Kafka geschrieben worden, keine Ahnung, ob diese Erkenntnisse in ausreichender Form in den Klassenzimmern und Uniseminaren angekommen ist, in denen sich, so hoffe ich, immer noch ausgiebig mit Kafka beschäftigt wird.
Aber zurück zum Film: Man muss sich in der Tat auf den Film einlassen, aber wenn man das tut, wird man einen wunderschön poetisch erzählten Film erleben, den ich wohl auch wunderschön und poetisch gefunden hätte, wäre es die Geschichte einer Liebe zweier gänzlich Unbekannter im letzten Lebensjahr eines der Beteiligten. Und ich hoffe, dass hundert Jahre nach Kafkas Tod sich Menschen auf die Leichtigkeit dieses Films einlassen werden – und dass er vielleicht für viele auch Anlass sein kann, auf die Biografie und auf das Werk Kafkas mit anderen Augen zu schauen.
Besetzung
Franz Kafka Sabin Tambrea
Dora Diamant Henriette Confurius
Elli Hermann Daniela Golpashin
Gerti Mira Griesbaum
Felix Lionel Hesse
Max Brod Manuel Rubey
Tile Luise Aschenbrenner
Paul Leo Altaras
Albert Caspar Stoltenberg
Milena Mia Klein Salazar
Frau Kasulke Michaela Caspar
Dr. Hoffmann Klaus Huhle
Ottla Alma Hasun
Stab
Regie Georg Maas
Drehbuch Michael Gutmann, Georg Maas
Co-Regie / Bildgestaltung Judith Kaufmann
Produzent.in Helge Sasse, Solveig Fina (Tempest Film)
Koproduzent Tommy Pridnig, Clemens Wollein (Lotus Filmproduktion)
Montage Gisela Zick
Szenenbild Katharina Wöppermann
Kostümbild Tanja Hausner
Maskenbild Martha Ruess
Casting Anja Dihrberg