WAS MARIELLE WEISS von Frédéric Hambalek

(c) Alexander Griesser – WAS MARIELLE WEISS – Laeni Geiseler

Irgendwo in der deutschen Provinz, in irgendeiner recht gut verdienenden Familie, Julia und Tobias führen eine ganz normale Ehe, Einfamilienhaus mit Garten, Designerküche, Tobias ist Verlagsleiter in einem Belletristikverlag, Julia arbeitet in irgendeinem Büro, ihre Tochter Marielle geht zur Schule, alles scheint in bester Ordnung. Bis – und damit beginnt der Film in Hyperzeitlupe – Marielle sich in der Schule die Ohrfeige einer Mitschülerin einfängt. Vielleicht nicht ganz unberechtigt, denn es wird sich herausstellen, sie hat die Mitschülerin vorher beleidigt. Und mit dieser Ohrfeige wird sich plötzlich alles ändern und die Fassade der Heilen-Welt-Familie wird zu bröckeln beginnen, denn: Marielle kann jetzt plötzlich telepathisch alles hören, was ihre Eltern so sagen. Ungünstig, dass ausgerechnet an diesem Tag sich ihr Vater im Büro als Schlappschwanz erwies, der ungeschickt ein dümmliches und völlig unpassendes Covermotiv (Möwe ohne Kopf) für einen Roman durchdrückt, zu dem das so gar nicht passt. Ungünstig, dass ihre Mutter ausgerechnet an diesem Tag im Büro sich erregt auf ein erotisches Anbahnungsgespräch mit ihrem Arbeitskollegen einlässt, mit dem sie auch noch – ihre Familie weiß davon nichts – regelmäßig bei Arbeit eine raucht. Als Marielle dann zu Hause ein paar Details dessen anbringt, was ihre Eltern so getan und gesagt haben, glauben die beiden erst einmal noch an Zufall. Oder dass sie sie irgendwie abhören würde. Doch als Marielle mit weiteren Details auspackt, einige ihrer kleineren und größeren Lügen aufdeckt, erkennen die beiden, dass ihre Tochter wirklich telepathische Fähigkeiten besitzt. Und damit müssen sie ihre Strategie ändern, doch was tun? Ab sofort die Wahrheit sagen? Übers Rauchen?Übers Beinahe-fremdgehen? Übers Chefversagen? Etc.? Oder einfach mal französisch reden? Jedenfalls können sie ihrer Tochter nichts mehr vorspielen und auch Julia und Tobias erfahren nun von den Unwahrheiten und Lügengebäuden des jeweiligen Ehepartners. Zunächst lassen sich die beiden auf ein manipulatives Spiel ihrer Tochter gegenüber ein, um die eigenen Lügengebäude nicht komplett zum Einsturz zu bringen. Doch das führt die Familie in absurd-komische Situationen…

Frédéric Hambalek, Jahrgang 1986, studierte in Mainz und Vermont, drehte während seines Studiums erste Kurzfilme, 2020 drehte er ohne nennenswertes Budget sein Langfilmdebüt, „Modell Olimpia“, das in Tallinn seine Weltpremiere erlebte.

Über die Idee zu seinem Film erzählt Hambalek: „Die ursprüngliche Inspiration für diesen Film kam vor ein paar Jahren, als mir jemand ein Babyphone mit eingebauter Kamera zeigte, was damals eine ganz neue Sache war. Das Bild dieses schlafenden Kindes, das völlig ahnungslos war, dass es beobachtet wurde, fühlte sich für mich irgendwie falsch an. Ich begann zu realisieren, in welchem Ausmaß Eltern heutzutage ihre Kinder überwachen können. Was früher ‚ein Auge auf die Kinder haben‘ war, ist jetzt zu einer regelrechten Überwachung geworden. Eltern haben heute so viele Werkzeuge zur Verfügung – wenn sie wollten, könnten sie praktisch einen Zustand totaler Überwachung um ihre Kinder herum schaffen. Als ich diese Beobachtung machte, begann ich mich zu fragen: Was würde passieren, wenn man diese Machtverhältnisse umkehren würde?“ Später baute er die Idee mit der Telepathie in das Drehbuch ein. Über das Elternpaar des Films erzählt er: „In vielerlei Hinsicht repräsentiert dieses Paar, Julia und Tobias, ein bestimmtes Segment der wohlhabenden deutschen und westlichen Gesellschaften, in denen wir leben, und die Bestrebungen, die diese Gesellschaften fördern. Ihre Grundbedürfnisse sind gedeckt und nun haben sie Zeit, sich Sorgen zu machen: Liebt mich mein Ehepartner noch? Was denkt meine Tochter von mir? Wie kann ich bei der Arbeit besser abschneiden? Dies sind die Herausforderungen, denen sich viele Menschen meiner Meinung nach täglich stellen müssen. Aber jetzt müssen Julia und Tobias einer höheren Macht, sozusagen, Rechenschaft ablegen, was diesen Befragungen Gewicht und Druck verleiht. Ich wollte unser alltägliches Verhalten unter ein brennendes Vergrößerungsglas legen. Wir haben uns entschieden, eine leicht stilisierte Version des Ortes zu schaffen, den diese Charaktere bewohnen würden.“

Als Tricia Tuttle das Wettbewerbsprogramm ihrer ersten Berlinale vorstellte und dabei auch den Film eines deutschen Regisseurs nannte, fragten sich viele: Wer Hambalek? Nie gehört. So war „Was Marielle weiß“ schon im Vorfeld ein Überraschungsfilm – und das blieb er auch als er dann zu sehen war. Der Film verfolgt im Prinzip eine einzige Grundidee – was passiert, wenn Kinder plötzlich alles wissen, was ihnen die Eltern so verschweigen. Das könnte ein Problem sein, Filme mit einer solch limitierten Idee bleiben oft in dieser Grundkonstellation stecken. Hambaleks Idee und deren Umsetzung ist jedoch so grandios originell, erzählt so viel über uns selbst, über unsere Gesellschaft, betritt philosophisches Terrain – und, last but bot least, sorgt für ein Feuerwerk tiefgründigen, schwarzen Humors, in keiner der von mir besuchten Pressevorführungen des Festivals wurde auch nur im Ansatz so viel gelacht wie hier. Dazu kommt ein hervorragendes Besetzungstrio, allen voran Julia Jentsch in der Rolle der Mutter. Hambalek könnte ein Name sein, den man in der künftigen deutschen Filmlandschaft auf dem Zettel haben muss. „Ich mag es, wenn eine Situation oder eine Szene viele Dinge gleichzeitig sein kann“, sagt Hambalek. „Ich denke nicht an Genres, wenn ich eine Geschichte entwickle. Ich folge lieber der Idee, wohin sie mich führt.“ Das ist ihm und seinem wunderbaren Cast gelungen.

„Was Marielle weiß“ kommt am 17. April 2025 in die deutschen Kinos.

Filmografie

2013 Zu Dritt (The Three of Us); Kurzfilm

2016 Bergfieber (Mountain Fever); Kurzfilm

2017 Im Wald (In the Woods); Kurzfilm

2020 Modell Olimpia (Model Olimpia)

2025 Was Marielle weiß (What Marielle Knows)

CAST
Julia Jentsch (Julia)
Felix Kramer (Tobias)
Laeni Geiseler (Marielle)
Mehmet Ateşçi (Max)
Moritz Treuenfels (Sören)
CREDITS
Director – Frédéric Hambalek
Screenplay – Frédéric Hambalek
Cinematography – Alexander Griesser
Editing – Anne Fabini
Sound Design – Steffen Pfauth
Production Design – Bartholomäus Martin Kleppek
Casting – Ulrike Müller, Anne Walcher
Producers – Philipp Worm, Tobias Walker
Co-Producer – Frédéric Hambalek
Commissioning Editor – Jörg Schneider (ZDF)

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