“for we’re creatures of the wind” ist dem neuen Buch der Fotografin Alisa Resnik vorangestellt. Mehr Text (außer Dankesworten und Widmungen) finden sich in dem Buch nicht, wir erfahren noch nicht einmal, wo die Bilder fotografiert sind. Es gibt keine Interpretationshilfen wie Bildtitel. Es gibt einige russische Schriftzeichen in den Bildern. Vielleicht macht das alles das Geheimnisvolle dieses Buches aus, das Mysterium, das Unheimliche. Resniks Bilder leben von der Dunkelheit, von der Abwesenheit des Lichts. Viele der Bilder leben aber auch von der Einsamkeit, von der Traurigkeit, vielleicht auch von der Melancholie der Protagonisten. Die Welten, in denen wir uns bewegen scheinen ärmlich, Häuser sind zerfallen, stehen leer. Manchmal scheint aber auch ein kleines bisschen menschliche Wärme durch. Die Bilder sind auch keineswegs in kaltem Schwarzweiß, sie sind alle in Farbe, meist blass-bräunlich, hin und wieder leuchtet matt ein Rot oder ein Blau auf. Dass die Bilder in der Dunkelheit aufgenommen wurden, hat auch Einfluss auf ihre Bildwirkungen: Viele Bilder sind leicht verwackelt, verschwommen, geprägt von Bewegungsunschärfe, unscharfen Hinter- oder Vordergründen.
Die Kreaturen des Windes sind dann vielleicht einige der Figuren, die in den Bildern zu sehen sind: Ein junger Mann, der in irgendeinem schäbigen Etablissement sitzt, sein Kopf ist nach unten gekippt. Vielleicht ist er betrunken, oder eingeschlafen. Sein Gesicht ist nicht zu sehen. Von einer weiteren Person, in einem Wirtshaus, allein an einem Tisch, mit Aschenbecher und fast leerem Bierglas, sehen wir nicht viel mehr als ihre Hand, in der die eine frisch angezündete Zigarette hält. Vermutlich ein junger Mann, aber selbst das weiß man nicht sicher. Dann ein alter Mann in einem Restaurant, Seidentischdecke, Salz- und Pfefferstreuer, ein Rotweinglas. Der alte Mann ist eingeschlafen, sein Kopf lagert auf dem Tisch auf seinen Armen. Er hat weiße Haare, auch er sitzt allein am Tisch. Dann ein Mann, in weißem Hemd und Anzug – mag man in der Dunkelheit und in der Unschärfe erkennen. Sein Kopf ist nach hinten gerissen, der Mund steht ihm offen, die Augen scheinen ins Leere zu starren. Im Vordergrund eine fremde Hand, über ihm wohl Haare, man kann das alles gar nicht richtig einordnen.
Die Arbeiten von Alisa Resnik kenne ich seit ihrem Buch ONE ANOTHER aus dem Jahr 2013, das auch schon von der Nacht, von der Einsamkeit, von der Verlorenheit erzählt. ON THE NIGHT THAT WE LEAVE ist sogar noch stärker, noch ruhiger, noch beunruhigender als das Vorgängerbuch. Dass Resnik jegliche Einordnung mittels Texten unterlässt, ist Teil ihres Konzepts – ich lasse mich damit auch gerne verstören, verirren. Dennoch ist meine Gier, mehr über die Geschichten hinter den Bildern zu erfahren riesig, und so finde ich zumindest auf der Internetseite des französischen Buchverlags, LAMAINDONNE, einen Text von Caroline Bénichou, der ein bisschen vom Hintergrund erzählt: „Von Berlin bis Sankt Petersburg, über Odessa oder Italien, der Ort dieser Arbeit ist schließlich die Nacht. Alisa Resnik durchquert ihn, erforscht seine Eingeweide, macht sich auf den Weg, ihm zu begegnen, in den menschenleeren Straßen und den Landschaften, in denen ein paar verstohlene Silhouetten verschwinden, in den blassen Innenräumen und dem Auftauchen zerbrechlicher oder manchmal ekstatischer Gesichter.“
ON THE NIGHT THAT WE LEAVE ist eines der stärksten, kraftvollsten, konsequentesten Fotobücher des Jahres 2021. Ein kleines Meisterwerk, das einen hineinzieht, in eine dunkle, stille, zerbrechliche Welt.
https://www.lamaindonne.fr/lamaindonne/On_the_night_thatr_we_leave.html
English summary:
ON THE NIGHT THAT WE LEAVE is one of the strongest, most powerful, most consistent photo books of the year 2021. A small masterpiece that draws you into a dark, quiet, fragile world.