Ein altes, vertrautes Ehepaar in seiner Wohnung, ein gemütliches Kleinod, mit einer Terrasse zum Innenhof hin, wo die beiden sich gemütlich hinsetzen und ein Glas Wein trinken. „Das Leben ist ein Traum in einem Traum“, stellt der Mann fest. Die Kamera schwenkt zu einer bewachsenen Häuserwand, auf der im Vorspann der Name der Hauptdarstellerin eingeblendet wird, mit dem Jahr ihrer Geburt: Francoise Lebrun 1944. Und dann die des Hauptdarstellers: Dario Argento 1940. Und: Alex Lutz 1978.
Morgens, halb neun. Der Radiowecker weckt die Frau auf, sie steht auf, geht aufs Klo, macht Kaffee. Währenddessen liegt ihr Mann noch im Bett, öffnet allmählich die Augen, steht auf. Er setzt sich vor seine Schreibmaschine, er schreibt an einem Büch über Kino und Träume. Inzwischen bricht seine Frau auf, um Einkäufe zu erledigen, doch im Geschäft irrt sie nur ziellos umher. Als sie nicht bald wiederkommt, macht er sich auf die Suche nach ihr, zunächst in einem Antiquariat nebenan, schließlich findet er sie im Geschäft. Er nimmt seine sichtlich verwirrte und geistesabwesende Frau mit nach Hause, hält ihr dort eine Standpauke und warnt sie davor, in einer Welt von Verrückten draußen allein herumzuirren.
Schließlich kommt Stéphane, ihr Sohn mit dem Enkel Kiki zu Besuch, er war seit ein paar Wochen nicht mehr da. Stéphane erinnert die beiden, aber vor allem seine Mutter an Dinge, die erledigt werden müssen, den Besuch beim Neurologen, die Medikamente usw. Seine Mutter kann das nicht mehr. Ihre Demenz erlebt einen Schub, sie kann sich nicht an ihr Zuhause erinnern – und sie weiß nicht mehr, wer ihr Mann und ihr Sohn sind.
Die alte Frau ist von ihrem Zustand zutiefst beunruhigt, ihr Mann ist von der Situation immer wieder überfordert. Aber auch Stéphane ist in einer schwierigen Lage, er hat Geldsorgen, war drogensüchtig und Kikis Mutter ist längere Zeit in einer Klinik.
Derweil wird der Zustand der alten Frau immer besorgniserregender und für ihren Mann immer mehr zum Alptraum…
Regisseur Gaspar Noé arbeitet durchgängig mit dem Mittel des split screen, dem zweigeteilten Bild. Noé schafft es dadurch, beiden Protagonisten durchgängig außerordentlich nahe zu sein. Er spielt mit diesem Mittel, indem sich die Kameras mit ihren Protagonist*innen auch immer wieder von einander entfernen und sich dann wieder annähern, so nahe, dass die jeweils andere Kamera schon beinahe im Bild auftauchen müsste. Noé erläutert die Splitscreenidee: „Vom ästhetischen Standpunkt gesehen, wollte ich einige Szenen im Splitscreen drehen, um die gemeinsame Einsamkeit dieses Paares zu betonen, aber ich hatte nicht geplant, dies über die gesamte Dauer des Films zu tun.“
Zärtlich komponiert Benoit Debies Kamera die Beziehung zwischen den beiden, blickt durch Fenster hindurch, über die Schultern des einen hinweg zur anderen. Auf den liebevoll bepflanzten Balkon der Wohnung des alten Ehepaars blickt die Kamera immer wieder herab, er ist innerhalb des Dächermeeres der Stadt ein Ort der Geborgenheit, eingebaut von Häuserwänden.
Besonders bemerkenswert ist die Besetzung von Vortex: Die weibliche Hauptrolle ist mit Francoise Lebrun besetzt. Sie ist seit den 70er Jahren in Frankreich im Film und auf Theaterbühnen aktiv. Ihre erste größere Rolle spielte sie unter Jean Eustache in „La Maman et la Putain“ (DIE MAMA UND DIE HURE). Später war sie in „Schmetterling und Taucherglocke“ (Le scaphandre et le papillon) von Julian Schnabel und in „Die Nonne“ (La religieuse) von Guillaume Nicloux zu sehen. Lebrun spielt die weibliche Hauptrolle mit einer beeindruckenden Präsenz. Man nimmt ihr die Demenz in jeder Sekunde ab. Insbesondere in jener frühen Szene, in der wir um ihren Zustand noch nicht wissen, als sie umherirrend durch das Ladengeschäft auf der anderen Straßenseite irrt, ziellos, stockend, verwirrt, versieht Lebrun die Rolle mit einer Glaubwürdigkeit, die unser tiefstes Interesse am Zustand dieser alten Dame erweckt.
Die Besetzung der männlichen Hauptrolle mit Dario Argento ist geradezu ein Coup, der dem Regisseur Gaspar Noé gelungen ist. Wer sich mit dem europäischen, insbesondere dem italienischen Genrefilm seit den 70er Jahren beschäftigt, weiß wer Dario Argento ist. Allen anderen sei erläutert: Dario Argento ist seit den 70ern die prägende Figur des Giallo. Aber was ist Giallo? Der Giallo ist ein spezifisch italienisches Filmgenre, eine blutige Unterart des Thrillers, bei der es meistens um gewalttätige Mordserien geht. Im deutschen Film gibt es kaum eine vergleichbare Entsprechung dazu, allerdings sind die deutschen Edgar Wallace-Filme so etwas wie die Vorläufer des Genres. Jedenfalls ist Argento der große Regiestar des Giallo, zu seinen bekanntesten Werken zählen „Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe“ (L’ Uccello dalle piume di cristallo) und Suspiria (der übrigens in Freiburg spielt). Zuletzt war Argento auf der Berlinale 2022 vertreten, mit seinem Film Black Glasses (Occhiali neri). Unter den Genrefans ist Argento eine Legende. Die Rolle in Vortex, man glaubt es kaum, ist sein Debüt als Schauspieler, wenn man von irgendwelchen Miniauftritten in seinen eigenen Filmen absieht. „Gaspar ist einer meiner besten Freunde, wir kennen uns schon seit mehr als zwanzig Jahren. Er hat mich angefleht, mir gesagt, dass er den Film für mich geschrieben hat, jeder in meinem Umfeld hat mir geraten, in VORTEX mitzuspielen“, erzählt Argento. Und Argentos Darstellung des alten Mannes ist eine Offenbarung, als hätte er in seinem Leben nichts anderes gemacht als zu schauspielern. Das, was er macht, ist so echt, so unprätentiös, so überzeugend.
Gaspar Noé, in Buenos Aires geboren und aufgewachsen, verbrachte seine Jugend aber in Paris, wo er schließlich auch Filmwissenschaften studierte. Nach einigen Kurzfilmen gab er 1998 mit dem Film „Menschenfeind“ (Seul contre tous) sein Langfilmdebüt, das auch gleich in Cannes zu sehen war. Zu seinen weiteren Filmen gehörten der skandalträchtige „Irreversibel“ (Irréversible) sowie zuletzt „Climax“. Über „Vortex“ sagt Noé: „VORTEX ist vielleicht etwas „erwachsener“ als meine anderen Filme. Aber abgesehen von „I Stand Alone“ und meinem Kurzfilm „Sida“ habe ich das Gefühl, dass ich eigentlich nur Filme über Teenager für Teenager gemacht habe. Heute, mit 57 Jahren, trete ich vielleicht endlich ein wenig ins Erwachsensein ein. Ich begebe mich in eine mir unbekannte Welt.“ Bei den Filmfestspielen in Cannes stand der Film in der Festivalauswahl der Reihe Cannes Premières.
„Vortex“ ist ein beeindruckender, kleiner, berührender, langsam aber unglaublich intensiv erzählter Film über die gleichzeitige Nähe und Distanz eines alten Ehepaares, dessen Beziehung durch die Demenz der Frau eine letzte, allerschwierigste Probe auferlegt wird. Die Wahl des Mittels des Splitscreens verleiht dem Film eine Intensität und Direktheit, die den Zuschauer permanent beschäftigt und in die Entfaltung der Handlung hineinzieht. Die Einstellungen sind bisweilen unglaublich lang und ausgedehnt, dennoch lassen sie nie Langeweile entstehen, weil die Verknüpfung der Leinwandhälften eine zusätzliche erzählerische Tiefe erzeugt. Dass der Sohn der beiden, Stéphane, sich nun soweit er kann um seine Eltern mitkümmern muss, wo er doch selbst so tief in Problemen steckt, verleiht der Handlung eine Tragik, allerdings auch eine große Portion an Bedrücktheit, und ich vermisste immer wieder eine starke, positive Figur. Dennoch gehört „Vortex“ zu den empfehlenswertesten Werken des noch jungen Kinojahres.
VORTEX
Kinostart 28. April 2022
Frankreich/Belgien 2021, 135 MinutenIm Verleih von Rapid Eye Movies
mit Françoise LEBRUN, Dario ARGENTO, Alex LUTZ, Kylian DHERET
Produzenten Edouard WEIL, Vincent MARAVAL, Brahim CHIOUA
Kamera Benoît DEBIE
Ton Ken YASUMOTO
Produktionsdesigner Jean RABASSE – ADC
Kostümbildnerin Corinne BRUAN
Schnitt Denis BEDLOW, Gaspar NOÉ