ÜBER ATAKS BUNTES BILDERBUCH „STILLLEBEN“

Bisweilen laufe ich Büchern über den Weg, die mich sofort festhalten, die mich beim Anblick im Buchhandel so sehr faszinieren, dass ich gar nicht anders kann. Ich muss das haben. Neulich war ich in der Fondation Beyeler, in Riehen in der Schweiz, unweit von Basel – und fußläufig von meiner Geburtsstadt Lörrach, auf deutscher Seite. Es wurde die wunderbare Georgia O’Keeffe-Retrospektive gezeigt. Aber statt, wie es sich gehört, den dazugehörigen Ausstellungskatalog zu erwerben, lief ich im Museumsshop einem bunten Bilderbuch über den Weg. STILL-LEBEN stand darauf. Und ATAK. „Still und Leben – die Stillleben ATAKs sind farbenfroh, spielerisch, grandios und poetisch – das pralle bunte Leben. Mit acht heraustrennbaren Postern.“ Steht auf der Rückseite. Was ist das denn? Fragte ich mich, zugegebenermaßen kannte ich ATAK nicht. Kinderbuch? Erwachsenenbuch? Mit heraustrennbaren Postern wie in der BRAVO früher? Da mir das Buch a) bereits im Buchhandel ein großartiges haptisches und übrigens auch olfaktorisches Erlebnis vermittelte [Einschub: Kennen Sie das? Dass Bücher so beeindruckend riechen, dass der Geruch bei der Kaufentscheidung eine Rolle spielt? Angeblich beschäftigt die Autoindustrie Menschen, die sich nur mit Geräuschen und Düften der Autos beschäftigen – aber die Buchbranche wird doch dafür kein Geld haben?] und ich b) zur Not auch das passende Kind zu Hause hätte, das sich für Bilderbücher interessiert, beschloss ich kurzerhand, weder die Fondation Beyeler noch die Schweiz zu verlassen, ohne in Besitz dieses Buchs zu gelangen.

Aber ich will mal von vorne anfangen: Wer oder was ist denn dieser/dieses ATAK? Auskunft darüber erteilt der Designer und Illustrator Steven Guarnaccia, der die Einführung zum Buch geschrieben hat: „Sanfter Punk“ lautet die Überschrift seines Vorwortes. ATAK heißt eigentlich Georg Barber und so hieß früher auch dessen Punkband, seine Wurzeln liegen im Underground, nicht nur was die Musik angeht, sondern auch die Malerei. „ATAK ist ein Fan, dessen Gemälde und Skulpturen eine Hommage an seine Comic- und Musik-Helden und seine Leidenschaften sind, und wie jeder Fan teilt er sich mit ihnen bereitwillig die Bühne“, schreibt Guarnaccia. Georg Barber ist Jahrgang 1967, kommt aus Frankfurt an der Oder, lebt heut ein Berlin und ist Professor für Illustration an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle (bitte googeln: was für ein toller Ort für eine Kunstuni!). STILLLEBEN ist schon Ataks viertes Buch, das im Münchner Kunstmann-Verlag erschienen ist nach DER GARTEN, DER NAIVE KRIEG und PIRATEN IM GARTEN. Till Schröder, der das Nachwort geschrieben hat, charakterisiert den Künstler: „Punk und Professor. Sammler und Sucher. Zeichner und Zelebrant. Er kennt viele Rollen, lebt zwischen Kunst und Kitsch, zwischen Spiel und Sublimität, und versprüht dabei so viel Elan, dass einem schwindlig wird. Ich bin mir daher ebenfalls nicht sicher, ob ATAK überhaupt als Ganzes begriffen werden will.“ Schröder berichtet, dass ATAK in den 90ern mit seiner Kunst auf Tournee ging: mit seiner „Toy Box“, einem Reisekoffer voller Kunst, Krempel, Sammelstücken, Spielzeugen. Insbesondere Barbers Sammlerleidenschaft ist also auch eng mit seiner künstlerischen Tätigkeit verknüpft. „Sein Atelier ist ein Kuriositätenkabinett in Reinstform“, schreibt Schröder. „eine veritable Wunderkammer aus eigener und fremder Kunst.“

In STILLLEBEN versammelt ATAK nun quasi abgemalte fiktive (oder reale?) Schaukästen – oder Setzkästen – seiner Wunderkammern, seiner Sammlungen toter Gegenstände, thematisch sortiert und gruppiert. Auf vielen Seiten oder Doppelseiten benennt er auch das jeweilige Thema: Moving Picture, Waiting Room, My Favourite Comics, Birthday Party etc. Die Bildseiten sind knallig-bunt, vielfarbig, manche Seiten erinnern an Kinder-Wimmelbilder (siehe auch: Ali Mitgutsch, den Anfang des Jahres verstorbenen Münchner Meister des Wimmelbilderbuchs), manche enthalten Collage-Elemente: Notizzettel, Rechenblätter, Sammelkärtchen, Postkarten. Manche Seiten wiederum sind realen oder fiktionalen Persönlichkeiten gewidmet: Gary Panter (ein Comiczeichner, der „King of Punk Art“), Pee-wee Herman (die Comicfigur aus den 80ern), Ernie Bushmiller (ein amerikanischer Comiczeichner), James Ensor (der belgische Maler). Die Buchseiten sind bis zum Rand gefüllt, es gibt keine weißen Ränder – und viele der Bildseiten sind signiert, „ATAK 2020“ steht meist rechts unten in der Ecke. Das Buch wird damit vom „Buch über Kunstwerke“ zum „Buch als Kunstwerk“, insbesondere dann auch mit jenen anfangs benannten „heraustrennbaren Postern“.

Eins der zentralen Motive, das sich auf ganz vielen der Tableaus wiederfinden lässt, ist die Comicwelt: abgemalte Micky-Maus-Figuren, Comichefte, Bart Simpson, Supermanspielzeuge, Donald-Duck-Memorabilia. Ein weiteres beinahe auf jeder Seite wiederkehrendes Motiv sind Vogelbilder. Irgendwo taucht der Name Audubon auf, jener Ornithologe und Vogelzeichner des 19. Jahrhunderts, der mit seinem Werk „Die Vögel Amerikas“ ein bahnbrechendes und bis heute für die Vogelbestimmung vorbildliches Werk schuf. In STILLLEBEN wimmelt es von Bildern von Falken, Stieglitzen, Bienenfressern, Kernbeißern, Eisvögeln usw.

Am Ende des Buches liefert uns ATAK dann gar einen hilfreichen, erklärenden Bildindex für all die Vogelbilder, Comicfiguren (nebst comic-historischer Einordnung), Bücher und Comichefte, die im Buch zu finden sind. Und noch viel grandioser: ATAK gibt uns sogar eine Auflistung der Künstler*innen an die Hand, die ihn bei diesem Werk beeinflusst haben, oder die er immer wieder zitiert – man könnte auch sagen: abmalt. ATAK benennt Henri Rousseau (ja, seine Urwaldbilder haben wir doch irgendwo zitiert gesehen!), Roy Lichtenstein (der die Comicmotive auf die Leinwand gebracht hatte), Hopper, Grosz, Balthus, Ensor, Matisse usw. Wir danken ATAK für die Zurverfügungstellung der Interpretationsschlüssel zu seinem Werk! Kunstkritiker hätten wissend die Einflussgeber ATAKs benennen können. Gar nicht nötig, der Künstler macht das selber.

Wie bewerte ich heute meinen Schweizer Spontaneinkauf? STILLLEBEN ist ein grandioses Feuerwerk von Bilderbuch, ein Gesamtkunstwerk. Ein Stilmix, eine Themenmelange, ein Wimmelbuch, ein farbenprächtiger Rausch, ein visueller Strudel. Voller Kindlichkeit, voller Experimentierfreude, voller Sammelleidenschaft, voller Geheimnisse. Ich muss an meinen Sohn denken, wie er Kronkorken sammelt, Aufkleber, Sammelkärtchen. Ich muss an mich denken, an meine eigenen Sammelpassionen – als Kind aber auch heute noch. Das spiegelt sich komplett in diesem Buch wider. Verspieltheit. „Neugierde“ fällt mir als Begriff ein – Wissensdurst auf alle möglichen Wissensbereiche, Kunstgeschichte, Natur, Wissenschaft, Literatur, Comics. Da ist nichts Artifizielles, Abgehobenes, Überhebliches zu finden, wie sonst manchmal in der Kunstwelt der Gegenwart. ATAK kenne, so schreibt Till Schröder, „viele Rollen, lebt zwischen Kunst und Kitsch, zwischen Spiel und Sublimität, und versprüht dabei so viel Elan, dass einem schwindlig wird.“

Bleibt uns noch zu unserer Frage am Anfang zurückzukehren: Kinderbuch? Erwachsenenbuch? Auf ein paar der Seiten gibt es dann doch deutlich gemeinte Referenzen zur Erwachsenenwelt. Und ein großer Teil der Motivik wird natürlich von Kindern und Jugendlichen gar nicht komplett verstanden oder eingeordnet. Aber am Ende fällt mir ein, woran ich mich am meisten erinnert fühle: Es handelt sich um das Standardwerk meiner Kindheit: „Herders buntes Bilderlexikon. Das neuartige Kinderlexikon mit 160 farbigen Bildseiten von Robert André“. Besitze ich heute noch, mit zerfledderten Seiten, notdürftig (bereits in meiner Kindheit) mit Klebeband geflickt. Steht heute noch in der Sachbuchabteilung der Bibliothek meines Sohnes. Till Schröder nennt ATAK einen „Peter Lustig mit ausgedehnter Punk-Phase.“ Ich glaube, ich traue mich, meinem Sohn das Buch mal in die Hand zu drücken und zu schauen, wie er reagiert…

ATAK sagt: „Schon als Kind war ich ein begeisterter Zinnfigurensammler. Sammeln ist für mich greifbares Verstehen. Ich suche Form, Emotion und Geschichte. Das Sammeln ist wie mein persönliches Instagram. Ich suche wie wir alle immer das Neue, nur eben aus der Vergangenheit.“

ATAK: STILLEBEN.
38,00 € (D)
144 Seiten
erschienen im Februar 2022
Mit Texten von Till Schröder und Steven Guarnaccia
Gestaltung: Tobias Jacob, Halle (Saale)
Lithographie: Hausstaetter Herstellung, Berlin
Verlag Antje KUNSTMANN
www.kunstmann.de
ISBN: 978-3-95614-489-9

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