Filmkritik: ONODA – 10000 Nächte im Dschungel

Dezember 1944 in Wakayama in Japan, eine mittelgroße Stadt auf Honshu, nicht weit von Osaka. Onoda Hirō ist ein junger Soldat, der eigentlich Pilot werden wollte, was aber daran scheiterte, dass er Höhenangst hat. Auch einen Kamikazeangriff auf ein gegnerisches Schiff hat er verweigert, er fühlt sich als Versager. Sein Vorgesetzter Major Taniguchi Yoshimi weist ihm aber andere Wege zu Stolz und Ruhm. Der Schlüssel dazu ist sein Überlebenswille. Taniguchi lässt Onoda eine Spezialausbildung mit besonderen Regeln und Methoden in geheimer Kriegsführung angedeihen. Wichtigste Regel: Ihr habt nicht das Recht zu sterben…

Onoda kommt schließlich auf die kleine Insel Lubang auf den Philippinen, soll vor Ort den Widerstand organisieren, die Infrastruktur zerstören und die Landung des Feindes verhindern. Alles was zählt, ist am Leben zu bleiben. Die kriegerische Mission ist wichtiger als alles andere. Mit einer Handvoll Soldaten soll er einen Guerillakrieg führen, um jeden Preis, bis die japanischen Truppen wieder zurückkehren. Die Soldaten sind skeptisch, sie gehen davon aus, dass die japanischen Luftstreitkräfte sowieso bald wieder die Herrschaft über die Gegend haben werden. So lange wollen sie eigentlich lieber warten, zumal sie Onoda für zu unerfahren für die Unternehmung halten. Mit Eifer und Engagement macht er sich dennoch ans Werk. Sein Vorgesetzter ist Hauptmann Hayakawa, der Onoda gegenüber feindselig ist und ihn gerne loswerden würde, aber der Hauptmann leidet unter seinen Nierensteinen und ist zu nichts fähig. Die Amerikaner sind schon kurz vor der Landung und bei einem Bombenangriff kommen mehrere Männer ums Leben, darunter Hayakawa.

Mit seinem Kameraden Kozuka kämpft Onoda sich zur Radarstation im Camp 900 durch, oben in den Bergen. Doch die ist beinahe verlassen, nur noch Kranke sind da. Mit dem letzten Aufgebot machen sie sich auf den Weg, aber die Situation ist prekär. Inzwischen kommt der Verdacht auf, dass der Krieg vielleicht schon beendet sei, aber Onoda glaubt nicht daran. Mit Akribie macht er sich an seine Aufgabe, gemeinsam mit ein paar verbliebenen Soldaten. Zunächst erkunden sie die Insel. Gemeinsam versuchen sie in der Einsamkeit im Urwald  zurechtzukommen. Sie stehlen der einheimischen Bevölkerung Vorräte und legen Feuer, um den vermeintlichen japanischen Truppen Zeichen zu hinterlassen.

Allerlei Dinge passieren in den folgenden Jahren: Einer der Soldaten „desertiert“ und wird zurückgeholt, sie bauen sich eine Hütte, führen Tagebuch; beim Versuch, ein Rind zu stehlen, bekommt einer der Soldaten eine Kugel ab und stirbt. Brutal töten sie den Bauern, der ihn erschossen hat. Als sie – mittlerweile in den 50er Jahren – mit Megafonen zum Aufgeben aufgefordert werden, weil der Krieg seit langem vorbei sei, halten sie das für eine Falle. Als sie Zeitschriften, Zeitungen und ein Radio finden, ist Onoda davon überzeugt, dass es sich bei den für ihn sonderbaren Nachrichten um Fälschungen handelt. Trotz der angeblichen Fälschungen kommt ihnen das Radio als Unterhaltungsmedium gegen ihre Langeweile durchaus nicht ungelegen. Naiv stellen sie aus den Zeitungen und Radionachrichten skurrile Theorien darüber auf, wie die Weltordnung heute aussieht. Sie spinnen sich aus absurden Anzeichen eine Theorie zusammen, die schräger nicht sein könnte.

Wundervoll grotesk ist jene Szene, in der die Männer in der Regenzeit nachts im dunklen Regenwald stehen und am Radio die Mondlandung übertragen wird, während sie auf eine Einheimische treffen, die durch den Wald irrt. Fast 30 Jahre wird Onodas Verstecken im Wald andauern…

ONODA – 10000 Nächte im Dschungel basiert auf einer wahren Geschichte. Onoda Hirō wurde 1922 geboren. Seine Erlebnisse auf der Insel Lubang ließen ihn in Japan regelrecht zu einem Mythos werden. Nach seinen fast 30 Jahren im Dschungel veröffentlichte er schließlich, zurück in der Zivilisation, seine Memoiren, die in Japan zu einem Bestseller wurden. Jeder kannte ihn, aber das riesige Interesse wurde ihm bald zu viel, sodass er im Jahr 1975 nach Brasilien auswanderte. Erst 1984 kam er zurück nach Japan und nutze die Fähigkeiten, die er im Dschungel erworben hatte, dafür, eine Naturschule zu gründen. Der philippinische Staat verzieh ihm offiziell. 2014 starb er in Tokio.

Der Regisseur Arthur Harari ging mit dem Stoff relativ frei um, die Memoiren las er erst, als er das Drehbuch bereits geschrieben hatte. Harari wollte unbedingt einen Abenteuerfilm drehen: „Ich habe Joseph Conrad und Robert Louis Stevenson verschlungen und war fasziniert von Alleinseglern und

Polarexpeditionen. Eines Tages sprach ich mit meinem Vater darüber und fast scherzhaft erzählte er mir diese unglaubliche Geschichte eines japanischen Soldaten, der mehrere Jahre auf einer Insel verbrachte. Das war meine erste Begegnung mit Onoda.“ Neben dem Abenteuerfilm sieht Harari auch Anleihen beim Western in seinem Film: „Der Western ist das Genre, zu dem alle anderen ganz einfach konvergieren, denn er ist die perfekte kinematografische Form einer epischen Erzählung. Er fasst die primitiven Obsessionen der westlichen Literatur zusammen und kommt dem Mythos, dem Geschichtenerzählen und einer gewissen Reinheit am nächsten.“

ONODA – 10000 Nächte im Dschungel vereint so vieles in sich, was mich an Filmen interessiert. Da ist die komplexe Figurenzeichnung des Protagonisten, der vielleicht etwas von Odysseus (Arthur Harari erzählt in einem Interview von diesen Bezügen), vielleicht aber auch etwas von Don Quichotte hat. Und er hat natürlich etwas von Robinson Crusoe, allerdings ohne das alles verändernde Freitag-Erlebnis. Da ist diese Verknüpfung und das Aufbrechen verschiedener Filmgenres, dem Kriegsfilm, dem Abenteuerfilm und dem Western. ONODA ist ein faszinierendes Werk, erzählt eine so ursprüngliche, reduzierte und doch auch komplexe Geschichte, wie ich es seit längerem nicht mehr gesehen habe. Der Film ist witzig – in Hinblick auf die absurde Situation, in die der Protagonist gerät, er ist aber auch dramatisch, besonders dramatisch etwa jene Szene, als es zu einer Schießerei mit Bauern kommt, weil Onoda und seine Kameraden eine Kuh stehlen wollen. Der Film übt eine Faszination auf den Zuschauer aus, die unter anderem auch darauf beruht, dass er sich eben jener Genrekonventionen, auf die er sich auch beruft, gleichzeitig verweigert. Geschickt erzählt Harari eben gerade weitgehend die Abwesenheit von Konflikten mit der äußeren Welt, wie sie in Abenteuer- und Kriegsfilmen üblicherweise stattfinden. Die Konflikte finden zwischen den Kameraden und in Onoda selbst statt.


ONODA ist erst der zweite Langfilm des in Paris geborenen Arthur Harari, nach DIAMANT NOIR aus dem Jahr 2016, der in Frankreich für zwei Cesars nominiert wurde. „Die Verbindung zwischen Onodas Welt und der Welt des Kinos ist offensichtlich“, erzählt Harari. „Für mich ist das Kino eine Möglichkeit mit einer Realität zu leben, die ich ohne es nicht ertragen könnte. Seit meiner Kindheit habe ich davon geträumt, ein Heldenschicksal zu haben, aber das werde ich nie erreichen, außer durch die Figuren, die ich filme. Aber was mich am meisten mit Onoda verbindet, ist sicherlich die Frage der Integrität.“

ONODA lief in Cannes als Eröffnungsfilm in der Reihe „Un Certain Regard“. In jedem Fall erweckt der Film einige Erwartungen auf die kommenden Filme des Regisseurs.

Empfehlenswert.

CAST

ENDŌ Yūya                      Junger Onoda

TSUDA Kanji                    Alter Onoda

MATSUURA Yūya            Junger Kozuka

CHIBA Tetsuya                Alter Kozuka

KATŌ Shinsuke                Shimada

INOWAKI Kai                   Akatsu

Issey OGATA                    Major Taniguchi

NAKANO Taïga                Tourist

SUWA Nobuhiro             Onodas Vater

YOSHIOKA Mutsuo         Captain Hayakawa

ADACHI Tomomitsu       2. Kuroda

SHIMADA Kyūsaku         Leutnant Suehiro

Angeli BAYANI                 Iniez

Jemuel Cedrick SATUMBA          Philippinischer Gefangener

CREW

Regie                               Arthur Harari

Produzent                        Nicolas Anthomé

Drehbuch                        Arthur Harari und Vincent Poymiro

In Zusammenarbeit mit Bernard Cendron

Musik                               Sebastiano de Gennaro, Enrico Gabrielli,

Andrea Poggio, Gak Sato und Olivier Marguerit

Kamera                             Tom Harari

Schnitt                              Laurent Sénéchal

Setting                              Brigitte Brassard

Kostümbild                      Catherine Marchand, Patricia Saive

Ton                                   Ivan Dumas, Andreas Hildebrandt, Alek «Bunic» Goosse

167 min – Frankreich, Japan, Deutschland, Belgien, Italien, Kambodscha – 2021 – 1.85 –

5.1

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