„Diese drei Geschichten waren als die ersten drei einer Serie von sieben Geschichten zum Thema ‚Zufall und Phantasie‘ gedacht. Der Zufall war schon immer ein Thema, das mich interessiert hat. Die Darstellung des Zufalls ist eine Möglichkeit, die Einmaligkeit, Seltenheit als das Wesen der Welt betrachtet und nicht auf der Realität beruht“, erzählt Regisseur Ryusuke Hamaguchi über seinen Episodenfilm WHEEL OF FORTUNE AND FANTASY…
Episode 1: Magic (or something less assuring)
Nach einem Modeljob fährt Meiko im Taxi mit ihrer besten Freundin Tsugumi nach Hause. Tsugumi schwärmt von einem Mann, wie sie sich kennengelernt haben, wie sie gleich viel Zeit miteinander verbrachten, sich von ihrer Kindheit erzählten, wie sie gleich tiefste Geheimnisse austauschten, von erotischen Konversationen etc. – aber sie hatten beim ersten Date noch keinen Sex, obwohl Meiko meint, dass das in diesem Fall wirklich gepasst hätte. Der Mann erzählte, dass er sich vor zwei Jahren von seiner Ex getrennt hatte, weil diese ihn betrogen hatte, darunter leide er noch. Und Tsugumi erinnere ihn eben an seine Ex, wobei er mit der, sagt er, nie so gut reden hätte können. Der Mann habe, meint Tsugumi, gesagt, dass ihr erstes Date der beste Tag in seinem Leben gewesen sei. Was Meiko inzwischen erkannt hat, ihrer Freundin aber nicht sagt, ist einer jener Zufälle: Bei dem geheimnisvollen Mann handelt es sich – um Meikos Exfreund Kazuaki. Bei Tsugumi angekommen steigt diese aus, Meiko fährt mit dem Taxi weiter zu Kazuakis Büro…
Episode 2: Door wide open
Sasaki ist ein Student, der durch die Prüfung fiel, weil er den erforderlichen Französisch-Schein nicht vorweisen konnte. Er hatte nämlich mit einer Professorin verabredet, etwas zu mauscheln, aber dann wurde die schwanger. Professor Segawa, der nun für ihn zuständig war, ließ das aber nicht gelten, und so fiel Sasaki durch. Nun ist Sasakis Karriere im Eimer. Segawa ist ziemlich angesehen, er hält einen renommierten Literaturpreis. Aus Rache beabsichtigt Sasaki, den Ruf des Professors zu zerstören, indem er ihn in eine Falle lockt. Nao, eine Freundin von Sasaki, mit der er bisweilen zwanglos Sex hat, soll ihm dabei helfen, doch die hegt durchaus Sympathien für den Professor. Sasaki droht Nao, nicht mehr mit ihr zu schlafen, falls sie ihm nicht hilft. Nao sucht den Professor schließlich auf, unter dem Vorwand, sein Buch signieren zu lassen. Sie macht ihn an, nur indem sie die explizitesten Stellen seines Buchs vorliest, minutenlang, ohne ihm in die Augen zu schauen. Der lässt sich aber nicht beirren, sorgt dafür, dass die Tür seines Büros offenbleibt. Aber er wird sich seiner Verweigerung sichtlich unsicherer. Das Gespräch über das Buch wendet sie geschickt immer mehr hin zu seiner Schwäche, seiner Verführbarkeit…
Episode 3: Once Again
Zwanzig Jahre nach dem Schulabschluss treffen sich zwei Klassenkameradinnen zufällig wieder – zumindest scheint das so. Die eine ist eine arbeitslose Systemadministratorin, Natsuko, die andere, Aya Kobayashi, ist Hausfrau und Mutter, lebt in Wohlstand. Aber sind beide glücklich? Die Frage scheint nicht einfach. Doch sie fangen von vorne an. Zunächst stellt sich heraus: Natsuko hat Aya schlicht für jemand anderen gehalten, für ihre frühere Freundin – Geliebte – Mika. Sie hat sie verwechselt. Sie waren noch nicht mal Klassenkameradinnen. Noch mehr: Sie kannten sich gar nicht. Beiderseitige Einbildung. Eben einer jener Zufälle. Aber nun steht die eine schonmal in der Wohnung der anderen, also führen sie das Gespräch fort. Nun erzählen sie sich ihre Gefühle, die eine von ihrer Beziehung zu Mika, die dann einen Mann heiratete, die andere davon, dass ihr Mann seine Jugendliebe kontaktiert hatte, was sie zufällig erfuhr. Sie war ihm weiterhin wichtig, aber sie trafen sich nicht. Aya war sich unsicher, wie sie damit umgehen sollte. Jedenfalls entfaltet sich ein intensives Gespräch zwischen den beiden – sich eigentlich gänzlich fremden – Frauen. Aya sagt, sie könnte ja weiterhin so tun, als ob sie Mika wäre. Und nun übernimmt sie die Rolle der Mika…
Hamaguchi inszeniert raffinierte Wechselspiele der Emotionen, relativiert und verschiebt die Handlungsmotivationen ins Ungewisse, Undeutliche. Die Stellung der Zuschauer*in verändert sich immer wieder. Die Grundstellung der Protagonist*innen ist die Dreieckskonstellation, sei sie real oder virtuell. Und gegen Ende der Episoden lauern die Auflösungen, die unvermeidliche Konfrontation, wie in einem griechischen Drama – doch worauf wird sie hinauslaufen? Die Katastrophe? Ein offenes Ende? Eine glückliche Lösung? Wir bleiben immer wieder im Ungewissen, sind verunsichert, werden an der Nase herumgeführt, irritiert. Die Dialoge sind unglaublich lange, die Gespräche intensiv, emotional, faszinierend, vergnüglich oder ernst. Wir erleben Wendungen, Umkehrungen, Überraschungen. Wir sehen uns immer wieder getäuscht in den Rollen, die die Hauptfiguren in diesen Dialogen einnehmen, die Positionen wechseln, changieren, wie in einem Spiel. Ryusuke Hamaguchi ist ein Meister des messerscharfen Gesprächs, er schafft es, uns mit zwanzigminütigen Gesprächen festzuhalten, uns zu beeindrucken und zu überraschen durch das simple Gespräch und dessen Irrwege, Überraschungen und Umleitungen.
Als Ryusuke Hamaguchi WHEEL OF FORTUNE AND FANTASY drehte, war er ein international bekannter, auf Festivals gut vertretener Regisseur. San Sebastian, Cannes, Locarno. Mit WHEEL OF FORTUNE AND FANTASY war er im Wettbewerb der sonderbaren Corona-Berlinale 2021, die erst online und später in den Berliner Freiluftkinos stattfand. Hamaguchi gewann den Silbernen Bären, den Großen Preis der Jury. „Dort, wo Dialoge und Wörter für gewöhnlich aufhören, fangen die Dialoge dieses Films erst an“, schrieb die Jury. Der Gewinnerfilm war Radu Judes “Bad Luck Banging or Loony Porn”. Einen regulären Kinostart erhielt WHEEL OF FORTUNE AND FANTASY zunächst nicht, einerseits wegen Corona, andererseits vielleicht weil’s ein japanischer Episodenfilm war, der’s schwierig haben könnte im Kino. Und dann kam: DRIVE MY CAR. Trotz seiner 179 Minuten ein Riesen-Arthouse-Erfolg. Die Verfilmung einer Murakami-Erzählung, vielleicht zur rechten Zeit im Kino, als sich noch wenige Verleiher getraut haben, aber beim Publikum schon wieder ein Heißhunger auf tolle Filme vorhanden war. Die Kritiker jubelten, mehrere Auszeichnungen in Cannes – und dann gleich vier Oscarnominierungen, gewonnen hat er immerhin den für den besten internationalen Film. Und man glaubt es kaum: WHEEL OF FORTUNE AND FANTASY kommt nun wohl regulär in die deutschen Kinos, und zwar im Verleih von Film Kino Text, am 1. September 2022, unter dem deutschen Titel DAS GLÜCKSRAD, naja, etwas vorbelastet durch’s deutsche Privatfernsehen, vielleicht wäre der Originaltitel doch brauchbarer.
Kurzum: WHEEL OF FORTUNE AND FANTASY ist ein berührendes, raffiniertes Meisterwerk des japanischen Gegenwartserzählkinos, und sogar – obwohl ich gemeinhin Vorbehalte gegen Episodenfilme habe – der noch bessere Hamaguchi-Film als DRIVE MY CAR.
Jedenfalls: Wer in Frankfurt am Main lebt, hat die großartige Chance, beim wunderbaren Japanfilmfestival NIPPON CONNECTION (https://nipponconnection.com/ ) den Film jetzt schon zu sehen:
Fr., 27. Mai 2022, 11:30 Uhr, Mousonturm Saal
Tickets gibt es hier:
https://db.nipponconnection.com/de/event/1194/wheel-of-fortune-and-fantasy
Das weitere Programm des Festivals, das in seiner 22. Ausgabe vom 24.-29. Mai 2022 stattfindet, findet sich auf https://nipponconnection.com/
偶然と想像
Guzen to sozo
Japan 2021
121 Minuten
Regie und Drehbuch: Ryusuke HAMAGUCHI
Kamera: Yukiko Iloka
Besetzung: Kotone FURUKAWA, Kiyohiko SHIBUKAWA, Katsuki MORI, Fusako URABE, Aoba KAWAI