Regie: KORNÉL MUNDRUCZÓ HU/DE 2021 97 MIN
1945, gegen Ende des Krieges. Verbissen schweigend räumen drei Männer in einem Konzentrationslager auf, später erfahren wir, dass es Auschwitz ist. Sie desinfizieren die Räume, putzen die Wände und den Boden. Einer findet ein Büschel Haare in einer Ritze in der Wand. Eine theaterhafte, surreale Szene. Dann finden sie noch mehr Büschel, im Duschkopf, in Löchern im Boden, im Gulli. Immer mehr. In einem Loch in der Wand finden sie schließlich ein langes Seil, offenbar aus Haaren geflochten. Beharrlich ziehen sie es aus der Wand. Und schließlich hören sie Babygeschrei. Verzweifelt suchen sie im Gulli – und finden dort ein weinendes Baby. Es lebt, wie durch ein Wunder, ein Mädchen. Die Männer rufen nach einem Arzt, die ersten Stimmen, die man hört. Die sowjetischen Soldaten bringen das Kind aus dem Lager heraus, es beruhigt sich allmählich. Es liegt Schnee, es ist kalt.
Viele Jahrzehnte später. Wir treffen das Mädchen aus dem KZ als Éva in Berlin wieder, sie ist eine alte Frau, vergisst viel, hat Diabetes, wacht ständig mit Alpträumen auf. Sie ist Ungarin, soll irgendeine Auszeichnung für ihr Lebenswerk bekommen, Schriftstellerin ist sie. Ihre Tochter Lena kommt und besucht sie, kümmert sich um sie. Évas Herkunft ist ungeklärt, ist sie Jüdin? Es gibt irgendwelche Geburtsurkunden ihrer Mutter, mit verschiedensten Angaben, verschiedene Namen, unterschiedliche Religionen, Fälschungen. Sie haben Évas eigene Geburtsurkunde aus dem KZ. „Kasernenstraße“ steht dort als Adresse, ein SS-Witz, wie sie sagt. Lena sagt, dass der Holocaust ihr Leben geprägt habe, aber dass sie wirklich Jüdin sei, das habe sie nie beweisen können. Wir erfahren, dass Lena frisch geschieden ist und ein kleines Kind hat, Jonas, für den sie keinen Kitaplatz findet, mit dem sie gerne das ihr verhasste Deutschland verlassen würde. „Wir waren jüdisch, als wir es nicht sein durften, und jetzt, wo wir es dürfen, sind wir nicht jüdisch“, sagt Lena. Éva schildert Lena die KZ-Geschichte ihrer Mutter, wie sie aus Bratislava ins Lager kam, wie sie schwanger war, arbeiten konnte, währen die Alten gleich vergast wurden, wie sie die Kapos mit Brot bestach und deswegen als Näherin arbeiten durfte. Man redete im KZ mit ihrer Mutter darüber, ob es nicht besser wäre, das Baby abzutreiben oder zu ertränken, da sie sonst Gefahr liefe, vergast zu werden. Aber Lena will jetzt davon gar nichts hören. Lena hat in ihrer Kindheit unter all dem gelitten, es ging immer nur um die KZ-Vergangenheit ihrer Mutter, ihr selbst war eine glückliche Kindheit verwehrt. Sie wurde nicht umarmt, ihre Mutter hat nicht mit ihr gespielt. Misstrauen gegenüber der Welt habe Éva ihr eingeimpft. Éva erzählt immer wieder ihre KZ-Geschichten, wie Mengele sie entdeckt und sie hochgehoben habe, „du siehst gar nicht jüdisch aus“ habe er gesagt, als er in ihre blauen Augen geblickt hätte. All die Geschichten, sagt Éva, habe sie später von ihrer Mutter gehört, um Tod und Mord war es immer wieder gegangen, um nichts anderes. Doch während die Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter weiter ihren Verlauf nimmt, geschehen plötzlich eine Reihe unerwarteter Dinge. Und auch für Jonas, die nächste Generation, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufeinandertreffen, wird seine Familiengeschichte noch eine Rolle spielen…
Quälend lange hören wir die Geschichten zweier Opfer des Holocaust, Éva, die den Holocaust überlebt hat und ihre Tochter Lena, die unter all dem auch gelitten hat, in der Folgegeneration, die keine glückliche Kindheit hatte. Regisseur Kornél Mundruczó, dessen Frau Kata Wéber das Drehbuch zu EVOLUTION geschrieben hat, erklärt in einem Interview: „Eva, die im Konzentrationslager geboren wurde, repräsentiert die erste und zweite Generation der Holocaust-Überlebenden, ihre Tochter die dritte. Während jedoch die ersten beiden Generationen von Überleben und Verbergen geprägt sind, dominieren in der dritten Generation Akzeptanz und Verleugnung. Unser Ziel im Film war es, diese Reaktionen zu erforschen und ein sehr breites Spektrum von ihnen zu präsentieren. Dabei haben wir auch berücksichtigt, was wir aus unseren Familien mitbringen: Ich als Nicht-Jude, Kata als Jüdin.“ EVOULTION ist eine beeindruckende, eigentlich leicht erzählte kleine Familiengeschichte, die von den Auswirkungen des Holocaust bis heute erzählt, bis in heutige Biografien hinein, mehr als 75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Der Holocaust hat in allen Generationen des Films tiefe Narben hinterlassen, bei Éva, die im KZ geboren wurde, bei Lena, die eine schwere Kindheit erlebte, bei Jonas, den die Geister der Vergangenheit einholen. EVOLUTION beeindruckt und bleibt in Erinnerung, gerade durch seine außergewöhnliche, auf ganz wenige Figuren beschränkte Erzählweise. Und trotz der Schwere des Themas, gelingt es dem Film dann doch, den Zuschauer am Ende mit einer gewissen Leichtigkeit aus dem Kinosaal zu entlassen…
Empfehlenswert.
Nachdem EVOLUTION bereits in Cannes in der Sektion Cannes Premières und beim Filmfest Hamburg zu sehen war, zeigt nun das Jüdische Filmfestival Berlin-Brandenburg den Film – und ab dem 25. August 2022 wird er bundesweit in den Kinos zu sehen sein.
Termine:
15.6. 19.00 Delphi Lux, im Anschluss Filmgespräch mit Viola Fügen, Ko-Produzentin
Berlin: Delphi Lux
OmdU Delphi Lux Saal 1
16.06.2022 17:00
Potsdam: Thalia – Das Programmkino
OmdU
16.06.2022 19:00
Berlin: Jüdisches Theaterschiff MS Goldberg
OmdU
18.06.2022 19:00
Berlin: Delphi Lux
OmeU Delphi Lux Saal 4
Tickets und Infos: https://jfbb.info/programm/filme/evolution
JFBB Sektion WETTBEWERB SPIELFILM
Regisseur KORNÉL MUNDRUCZÓ
HU/DE 2021
97 MIN
Kornél Mundruczó ist ein ungarischer Regisseur. Mundruczó studierte Film und Fernsehen an der Universität für Theater- und Filmkunst in Ungarn. Er ist der Gründer von PROTON CINEMA. Sein erster Film PLEASANT DAYS (2002) wurde in Locarno mit dem Silbernen Leoparden ausgezeichnet; seine folgenden Filme wurden allesamt im Rahmen der Filmfestspiele von Cannes uraufgeführt. JOHANNA (2005 in der Sektion „Un Certain Regard“), DELTA (2008 im Wettbewerb, Gewinner des FIPRESCI-Preis), TENDER SON (2010 im Wettbewerb), WHITE GOD (2014, Gewinner der Sektion „Un Certain Regard“), JUPITER’S MOON (2017 im Wettbewerb). Mit PIECES OF A WOMAN präsentierte er 2020 seinen ersten englischsprachigen Film, der bei den 77. Internationalen Filmfestspielen von Venedig uraufgeführt und mit dem Young Cinema Award und dem Volpi Cup für die beste Darstellerin ausgezeichnet wurde. Der Erfolg des Films wurde 2021 mit einer Oscar-Nominierung gekrönt.