ATLANTIDE

ATLANTIDE, dir Yuri Ancarani. Rapid Eye Movies. —

dir. Yuri Ancarani
Kinostart/Release date D 8. September 2022

ENGLISH VERSION BELOW

„Das Boot ist mein Zuhause.“ Daniele

Sant’Erasmo, eine der Inseln am Rande der venezianischen Lagune, in einer sonderbaren Parallelwelt, weit abseits der Touristenströme, weit abseits des Venedigs, das wir alle kennen. Ein unbeschwerter Sommertag. Einige Jugendliche baden in der Lagune, außerhalb Venedigs. Wunderschön gestaltete Bilder, die Fenster der Badestation, von der die Kinder ins Wasser springen, rahmen die Bilder ein, geben ihnen eine Form, führen den Blick. Begleitet werden die Bilder von elektronischen Klängen, die die Lebensfreude der Jugendlichen widerspiegeln. Dann der eingeblendete Filmtitel, in leuchtendem Rot. ATLANTIDE. Atlantis. Ein vielversprechender, mythischer Filmtitel. Szenenwechsel.

Der Großvater erklärt dem etwas lustlosen Daniele die Feldarbeit, wie er die letztjährigen Pflanzen ausmacht. Ein junger Mann im Motorboot rast vorbei. Die Boote seien lebensgefährlich meint der Großvater, außerdem dürfte es nur 7 Stundenkilometer fahren. Mann sieht Daniele aber an, dass er eigentlich lieber mit dem jungen Mann im Motorboot mitfahren würde. Man ahnt erstmals, was die Motorboote, die Barchini, für die jungen Männer sind: Statussymbole. Nächste Szene.

Daniele repariert den Motor seines Motorbootes. Eine Freundin – seine Freundin, ganz in Rot, mit „GentleWomen“-Shirt, schaut ihm zu. Ancarani wechselt dann rhythmisch zwischen Szenen, die die jungen, heranwachsenden Menschen außerhalb Venedigs zeigen, beim Baden, beim Schrauben an den Motorbooten, beim Verliebtsein; die Kamera ist nah dran, wenn Daniele mit seinem Motorboot durch die Lagune fährt, beobachtet sein konzentriertes Gesicht, begleitet von hämmernden Tönen elektronischer Musik; dazwischen setzt Ancarani dann immer wieder Szenen der Feldarbeit. Alles, was bei Jugendlichen in „normalen“ Dörfern oder Städten abläuft, findet hier auf Booten und auf dem Wasser statt. Bisweilen hatte ich (weit hergeholte) „Waterworld“-Assoziationen.

ATLANTIDE, dir Yuri Ancarani. Rapid Eye Movies. —

Daniele hat aber immer noch Probleme mit dem Motor seines Bootes, es verliert Benzin, das in der Dämmerung schimmernd auf dem Wasser schwimmt und beinahe schöne abstrakte Formen erzeugt. Für die Jungs sind die Geschwindigkeitsrekorde mit den Motorbooten wichtig. Sie werden auf einem Holzpfahl verewigt: Initialen plus Höchstgeschwindigkeit. Die Motoren werden aufgemotzt, getunt. Aber mit seinem maroden Motor hat Daniele keine Chance. Aber auf die Geschwindigkeit käme es ihm gar nicht an, sagt er.

Und irgendwann erzählt Daniele dann auch seiner Freundin: „Ich habe einen Namen und will respektiert werden,“ sagt er. „Wenn du mich respektierst, respektiere ich dich auch. … Die falschen Leute führen auf den falschen Weg“, erklärt er ihr. Sie sieht ein, dass sie manchmal auf die falschen Leute hört. „Und du hast die schlechte Angewohnheit, viel zu träumen“, erklärt er ihr auch. Daniele weiß offenbar genau, was er vom Leben zu halten hat. Ein kleiner Philosoph. „Lass das Träumen sein“, rät er ihr.

Zur Realität von Venedig gehören auch die Ozeanriesen mit ihren Touristenmassen. Als Fremdkörper versperren sie bisweilen den sonst möglichen Blick in die Ferne. Wie vorbeifahrende Häuser sehen sie aus, füllen das Bild komplett, wie ein großes, bewegliches Wimmelbild; im Vordergrund angeschnitten junge feiernde Touristen. Tag und Nacht.

ATLANTIDE, dir Yuri Ancarani. Rapid Eye Movies. —

Und irgendwann hat Daniele die Probleme mit seinem Motor satt. Mit dem Motorrad und seinem improvisierten Bootsanhänger fährt er das Boot nach Hause und macht sich ans Reparieren. Und dann kann er endlich wieder unbeschwert rasen. Prompt ist ihm die Guardia di Finanza auf den Fersen. Er scheint nämlich dunkle Geschäfte vorzuhaben…

Dies ist der Punkt, an dem der Film von einer vollständig dokumentarischen Anmutung einmal zumindest für kurze Zeit ins Genrefach springt: Verfolgungsjagd, dunkle Geschäfte, Krimi, Action – wahrscheinlich nur in Danieles Träumen. Es sind Lebensentwürfe irgendwo zwischen Rausch, Ausgelassenheit und Genussfreude einerseits und Ziellosigkeit, Selbstverschwendung und Haltlosigkeit andererseits. Ancarani zeigt die Jugendlichen der Lagune an Bruchstellen ihrer jungen Biografien – ohne moralische Bewertung, ohne Einordnung.

„Atlantide“ ist ein sperriger Film, ein mythisches (Atlantis), ästhetisches (für die Kamera sind gleich drei Menschen zuständig gewesen: Yuri Ancarani, Thomas Pilani, Mauro Chiarello) poetisches, meditatives, vibrierendes (Elektrobeat, Hip-Hop, Sinfone; für die Musik waren Francesco Fantini und Lorenzo Senni zuständig), morbides, soziales, dokumentarisches, bisweilen abstraktes Werk mit durchblitzenden Versatzstücken des Erzählkinos. Und gegen Ende wird es seltsam psychedelisch. Die verfremdeten, mit sinfonischen Klängen unterlegten Bilder der Lagune, um 90 Grad gekippt, werden zum „2001 – A Space Odyssey“-Zitat.

ATLANTIDE, dir Yuri Ancarani. Rapid Eye Movies. —

Interessant, aber verständlich ist, dass Ancaranis Regiearbeiten gar nicht mal nur an Filmfestivals zu sehen sind, sondern in Museen und bei Kunstbiennalen: Er war im Guggenheim vertreten, in der Kunsthalle Basel, im Hammer Museum in Los Angeles. „Atlantide“ ist wie ein eklektischer Gedanken- und Gefühlsstrom, assoziativ entstanden, aus der Situation heraus, zunächst mit dokumentarischen Mitteln, indem die jungen Menschen einfach begleitet wurden mit der Kamera – schließlich zugespitzt, überhöht und schließlich in Richtung seines dramatischen, surrealen Höhepunkts verfremdet. „ATLANTIDE ist ein Film, der ohne Drehbuch begann“, erläutert Yuri Ancarani seine Arbeitsweise. „Die Geschichte hat sich über vier Jahre entwickelt, in denen ich diese jungen Menschen beobachtet habe und die Dialoge sind ihrem wirklichen Leben entnommen. Diese Arbeitsmethode gab mir die Möglichkeit, die Grenzen der traditionellen Filmherstellung zu überschreiten, bei der zuerst geschrieben und dann gedreht wird.“

Ancarani zog für zwei Sommer lang auf die Insel Sant’Erasmo, lernte die Jugendlichen kennen, freundete sich mit ihnen an, begann dokumentarische Szenen mit ihnen zu drehen. „Dieser Film hat kein Drehbuch, seine Geschichte ist einfach und authentisch, sie hat sich in drei Jahren Drehzeit entwickelt, während ich Tag für Tag in das Leben der Jugendlichen eintauchte. Ich hörte ihre Musik, lebte mit ihnen und wie sie und konnte in realem Tempo ihre Liebesgeschichten, Zweifel und Schmerzen miterleben,“ erzählt er.

„Atlantide“ entwickelt durch seine Bilder, seine Musik, seine Bootsfahrten einen Sog, der immer stärker wird und einen nicht mehr loslässt. Die Gegensätze zwischen dokumentarischen und artifiziellen Szenen könnten größer nicht sein, sind aber faszinierend. Ich habe mich gerne auf diesen filmischen Flickenteppich eingelassen und wurde mitgerissen. Ein außergewöhnliches, rauschhaftes Filmerlebnis.

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ENGLISH VERSION

ATLANTIDE, dir Yuri Ancarani. Rapid Eye Movies. —

„The boat is my home.“ Daniele

Sant’Erasmo, one of the islands on the edge of the Venetian Lagoon, in a strange parallel world, far from the tourist crowds, far from the Venice we all know. A carefree summer day. Some young people bathe in the lagoon outside Venice. Beautifully designed pictures, the windows of the bathing station from which the children jump into the water, frame the pictures, give them shape and guide the gaze. The images are accompanied by electronic sounds that reflect the young people’s joie de vivre. Then the title of the film appears, in bright red. ATLANTIDE. Atlantis. A promising, mythical film title. Change of scenery.

The grandfather explains the somewhat listless Daniele about the field work, how he identifies last year’s plants. A young man in a motorboat races by. The boats are life-threatening, says the grandfather, and it should only go 7 kilometers per hour. But you can see from Daniele that he would actually rather go with the young man in the motorboat. For the first time you get an idea of ​​what the motorboats, the barchini, are for the young men: status symbols. next scene.

Daniele is repairing the engine of his motorboat. A girlfriend – his girlfriend, all in red, with a „GentleWomen“ shirt, is watching him. Ancarani then alternates rhythmically between scenes showing young people growing up outside of Venice, bathing, working on motorboats, falling in love; the camera is close when Daniele drives his motorboat through the lagoon, watching his concentrated face, accompanied by pounding tones of electronic music; in between, Ancarani repeatedly sets scenes of field work. Everything that young people do in “normal” villages or towns takes place here on boats and on the water. At times I had (far-fetched) „Waterworld“ associations.

ATLANTIDE, dir Yuri Ancarani. Rapid Eye Movies. —

But Daniele still has problems with the motor of his boat, it is losing fuel, which shimmers on the water in the twilight and creates almost beautiful abstract shapes. The speed records with the motorboats are important for the boys. They are immortalized on a wooden pole: initials plus maximum speed. The engines are pimped, tuned. But with his ailing engine, Daniele has no chance. But he doesn’t care about speed at all, he says.

And at some point, Daniele also tells his girlfriend: „I have a name and want to be respected,“ he says. „If you respect me, I’ll respect you too. … The wrong people lead on the wrong path,” he tells her. She realizes that sometimes she listens to the wrong people. „And you have a bad habit of dreaming a lot,“ he also tells her. Daniele obviously knows exactly what to think of life. A little philosopher. „Don’t dream,“ he advises her.

The reality of Venice also includes the ocean liners with their crowds of tourists. As foreign bodies, they sometimes block the otherwise possible view into the distance. They look like passing houses, completely filling the picture, like a large, moving hidden object; in the foreground young celebrating tourists. Day and night.

ATLANTIDE, dir Yuri Ancarani. Rapid Eye Movies. —

And at some point, Daniele gets fed up with the problems with his engine. With the motorcycle and his improvised boat trailer, he drives the boat home and starts repairing it. And then he can finally race carefree again. The Guardia di Finanza is immediately on his heels. He seems to be up to some shady business…

This is the point where the film jumps from being entirely documentary into genre for at least a short while: chase, dark dealings, crime, action – probably only in Daniele’s dreams. They are life plans somewhere between intoxication, exuberance and enjoyment on the one hand and aimlessness, self-wasting and lack of stability on the other. Ancarani shows the young people of the lagoon at the breaking points of their young biographies – without moral evaluation, without classification.

„Atlantide“ is a cumbersome film, mythical (Atlantis), aesthetic (three people were responsible for the camera: Yuri Ancarani, Thomas Pilani, Mauro Chiarello), poetic, meditative, vibrating (electrobeat, hip-hop, symphonies; for Francesco Fantini and Lorenzo Senni were responsible for the music), morbid, social, documentary, at times abstract work with flashing set pieces of narrative cinema. And towards the end it gets weirdly psychedelic. The alienated images of the lagoon, underlaid with symphonic sounds, tilted by 90 degrees, become a „2001 – A Space Odyssey“ quote.

It is interesting, but understandable, that Ancarani’s directing work is not only seen at film festivals, but in museums and at art biennials: he was represented in the Guggenheim, in the Kunsthalle Basel, in the Hammer Museum in LosAngeles. „Atlantide“ is like an eclectic stream of thoughts and feelings, associatively, arising from the situation, initially with documentary means, in which the young people were simply accompanied with the camera – finally pointed, exaggerated and finally alienated in the direction of its dramatic, surreal climax. „ATLANTIDE is a film that started without a script,“ says Yuri Ancarani, explaining his working method. „The story unfolded over four years of observing these young people and the dialogue is drawn from their real lives. This working method gave me the opportunity to push the boundaries of traditional filmmaking, where you write before you shoot.”

Ancarani moved to the island of Sant’Erasmo for two summers, met the young people, became friends with them, and began filming documentary scenes with them. “This film has no script, its story is simple and authentic, it has evolved over three years of shooting, immersing me day by day in the lives of young people. I heard their music, lived with them and like them, and witnessed their love stories, doubts and pain in real time,” he says.

Through its images, its music and its boat trips, “Atlantide” develops a pull that keeps getting stronger and doesn’t let you go. The contrasts between documentary and artificial scenes could not be greater, but they are fascinating. I gladly got involved in this cinematic patchwork and was carried away. An extraordinary, intoxicating film experience.

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2021 Italien, Frankreich, USA, Qatar – 104 Minuten

– Italienisch mit deutschen UT – 1:2.39 – 5.1

CREW

Regie und Drehbuch: Yuri Ancarani

Produktion: Marco Alessi, Marta Tagliavia

Musik: Francesco Fantini, Lorenzo Senni

Kamera: Yuri Ancarani, Thomas Pilani, Mauro Chiarello

Schnitt: Yuri Ancarani

Schnitt Assistenz: Yves Beloniak

Ton: Mirco Mencacci

Produktion: Dugong Films, Luxbox, Doha Film Institute

Produzent: Marco Alessi

Original Soundtrack: Sick Luke, Lorenzo Senni, Fancesco Fatini

CAST

Daniele Barison

Bianka Berényi

Maila Dabalà

Alberto Tedesco

Jacopo Torcellan

WELTPREMIERE: 78. Internationalen Filmfestspiele von Venedig 2021, „Official Selection“.

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