Holger Biermann: ORIGINAL! Berlin

Holger Biermann, ORIGINAL! Berlin, Berlin, 2004, Bahnhof Zoo

ENGLISH VERSION BELOW

Noch bis zum 16. Oktober 2022 zeigt das stets um das Berliner Fotografieschaffen bemühte Willy-Brandt-Haus in Berlin-Kreuzberg im Foyer im Erdgeschoss Straßenfotografien des Berliner Fotografen Holger Biermann. Gleich vorweg, jahrelange Besucher der Ausstellungen wissen es: Personalausweis nicht vergessen, weil man den eben vorzeigen muss, wenn man die SPD-Bundesparteizentrale betritt.

Aber zu Biermann: Biermann ist seit 20 Jahren mit der Kamera auf den Berliner Straßen unterwegs – er ist einer von „uns“ Straßenfotografen, ich kann gut nachvollziehen, was ihn dabei bewegt. Man erkennt in seinen Bildern Lieblingsorte, an denen er gerne mit der Kamera unterwegs ist: Da wo viel los ist. Mauerpark, Tempelhofer Feld, Kudamm, Alex. Er umgibt sich gerne mit dem festlichen Berliner Tag- und Nachtleben: Feierwütige Nachtwanderer, Partys, Love Parade, Clubs, Kneipen, er geht gerne da hin, wo’s exzessiv wird, Alkohol fließt. „Bei der Straßenfotografie wird einem ja immer etwas geschenkt, aber du weißt nie wann und wo und was“, sagt er. In seinen Bildern sieht man das bisweilen schmutzige, alkoholgeschwängerte Berlin, aber auch feiernde Kinder, sich küssende Menschen, wankende Gestalten.

Interessant an Biermanns Fotografenbiografie ist, dass er sich zufällig am 11. September 2001 in New York befand (wo er 2001-2003 war), die Anschläge mit der Kamera festhielt und darüber dann bei der Fotografie geblieben ist. Der Berliner Fotohistoriker Enno Kaufhold schreibt über seine Fotografien: „Im Kern ist Holger Biermann auf der Suche nach aktivem, wie auch immer geartetem Leben, wobei es für ihn keine Vorgabe eines speziellen Themas oder bestimmter Personen gibt, nach denen er sucht. Allem begegnet er vorurteilsfrei. Bildwürdige Situationen vorausahnend, greift er aus dem großstädtischen Kontinuum unterschiedlichster Gegebenheiten die für ihn interessanten Momente heraus, wobei ihm die formale Gestaltung nicht weniger wichtig ist wie der Moment. Eben diesen einzigartigen Moment festzuschreiben, in dem sich alle bildwichtigen Komponenten vereinen, macht allein die Fotografie möglich. Genau das ist für ihn der Reiz, an diesem Medium festzuhalten. Und da Holger Biermann seine Kamera ohne Ausnahme und zwar bis zum unmittelbaren Blickkontakt sichtbar einsetzt, entstehen seine Bilder stets auf Augenhöhe und machen diese so menschlich.“ Und wie meistens trifft Kaufhold auch hier wieder den Nagel auf den Kopf.

Holger Biermann, Original! Berlin, Berlin, 2006, Tempelhofer Feld

Bisweilen greift Biermann einzelne Berliner Persönlichkeiten heraus, die spannend genug sind, vom Betrachter erforscht zu werden, bisweilen liefert er aber auch „Gruppenfotos“ auf denen der Blick umherwandert, und man die Beziehungen der abgebildeten Menschen versucht, auszuloten. Ich find’s toll, dass Biermann die schönen, anmutigen, bezaubernden Fotos, die einem als Straßenfotograf bisweilen auch gelingen, weitgehend rauslässt und so vielleicht den Kern dessen, was unser Berliner Großstadtleben ausmacht, trifft.

Biermann zeigt im Willy-Brandt-Haus ungefähr 60 Fotografien, Schwarzweiß und Farbe (danke fürs Mischen, ich bin ebenso kein Purist, der sagt, man dürfe Farbe und s/w in Ausstellungen und Publikationen nicht mischen). Ich mag die Ausstellung sehr, mag das Schmutzige, das Unsortierte, das Raue. Ich bin sehr dankbar, dass die Ausstellung nicht auf ein ganz enges Thema hinkuratiert ist; ich weiß, viele Ausstellungsmacher fordern das eng begrenzte Thema, aber so arbeiten Straßenfotografen nicht. Ich gehe nicht hin und beschließe, eine Straßenfotoserie über gentrifizierte Straßenpunks in West-Neuenschönhausen zu machen. Ick lauf durch die Straße und fotografiere, was ick spannend finde. Und dann versuche ich, dass ich das in eine Serie, in eine Ausstellung, in ein Zine, in ein Buch packen, den Bildern eine Ordnung und Sortierung geben kann und damit den Betrachtern etwas erzählen kann. Und genau das gelingt Biermann außerordentlich. Übrigens interessiert glaube ich auch die Mehrheit der Fotografie-interessierten Öffentlichkeit sich nicht für perfekt auskuratierte Bildpräsentationen. Also: Bitte noch bis 16. Oktober bitte ins Willy-Brandt-Haus gehen.

Holger Biermann
ORIGINAL! Berlin
Noch bis 16. Oktober 2022
www.fkwbh.de/ausstellung/original-berlin
WILLY-BRANDT-HAUS
Stresemannstr. 28
10963 Berlin

(U-Bhf. Hallesches Tor)
Öffnungszeiten
Dienstag – Sonntag, 12 – 18 Uhr
(letzter Einlass 17.30 Uhr)

Holger Biermann, ORIGINAL! Berlin, Berlin, 2007, Warschauer Straße

ENGLISH VERSION

Until October 16, 2022, the Willy-Brandt-Haus in Berlin-Kreuzberg, which always strives to promote Berlin photography, is showing street photographs by the Berlin photographer Holger Biermann in the foyer on the ground floor. First of all, visitors to the exhibitions for years know it: don’t forget your ID card, because you have to show it when you enter the SPD federal party headquarters.

But to Biermann: Biermann has been out and about with his camera on the streets of Berlin for 20 years – he is one of „us“ street photographers, I can well understand what moves him. In his pictures you can see his favorite places where he likes to take his camera: where there is a lot going on. Mauerpark, Tempelhofer Feld, Kudamm, Alex. He likes to surround himself with the festive Berlin day and night life: party-happy night walkers, parties, Love Parade, clubs, pubs, he likes to go where it gets excessive, where alcohol flows. „There’s always a free gift in street photography, but you never know when and where and what,“ he says. In his pictures one sees the sometimes dirty, alcohol-filled Berlin, but also children celebrating, people kissing, swaying figures.

What is interesting about Biermann’s photographer’s biography is that he happened to be in New York on September 11, 2001 (where he was from 2001-2003), captured the attacks on camera and then stuck to photography. The Berlin photo historian Enno Kaufhold writes about his photographs: “At its core, Holger Biermann is looking for an active life of whatever kind, whereby there is no specification of a special topic or specific people he is looking for. He meets everything without prejudice. Anticipating situations worthy of a picture, he picks out the moments that interest him from the metropolitan continuum of the most diverse circumstances, whereby the formal design is no less important to him than the moment. Capturing this unique moment, in which all the components important to the image come together, is something that photography alone makes possible. For him, that is precisely the appeal of sticking to this medium. And since Holger Biermann uses his camera without exception and visibly up to direct eye contact, his pictures are always taken at eye level and make them so human.” And as usual, Kaufhold nails it again.

Holger Biermann, ORIGINAL! Berlin, Berlin, 2003, Karnevalsfeier, Ständige Vertretung

Sometimes Biermann singles out individual Berlin personalities that are exciting enough to be explored by the viewer, but sometimes he also provides “group photos” in which the gaze wanders and one tries to fathom the relationships of the people depicted. I think it’s great that Biermann largely leaves out the beautiful, graceful, enchanting photos that street photographers sometimes succeed in, and thus perhaps gets to the core of what makes our Berlin city life so special.

Biermann is showing about 60 photographs in the Willy-Brandt-Haus, black and white and color (thanks for mixing, I’m also not a purist who says you shouldn’t mix color and b/w in exhibitions and publications). I like the exhibition very much, I like the dirty, the unsorted, the rough. I’m very grateful that the exhibition isn’t curated around a very narrow theme; I know many exhibition organizers ask for the narrowly defined subject, but that’s not how street photographers work. I don’t go and decide to do a street photo series about gentrified street punks in West Neuenschoenhausen. I walk down the street and take pictures of what I find exciting. And then I try to put it in a series, in an exhibition, in a zine, in a book, that I can give the pictures an order and sorting and thus tell the viewer something. And that’s exactly what Biermann does exceptionally well. Incidentally, I don’t think the majority of the public interested in photography is interested in perfectly curated image presentations. So please go to the Willy-Brandt-Haus until October 16th.

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