„Ich hasse es mittlerweile, mein Leben vorm Rechner zu verbringen und irgendwo Bilder auszusortieren, weil ich im Vorfeld zu doof war, mir Gedanken zu machen. Erst wenn für mich der Ablauf und das Ding stimmig ist und rund (…) dann reduziere ich den ganzen Aufwand auf ein Foto. Zack.“ Andreas Reiner sitzt auf einem Baumstumpf inmitten in einem komplett abgeholzten Wald und erläutert seine Fotografenphilosophie. „Und so was isch cool“, sagt er und hat dabei keine Sekunde seinen oberschwäbischen Dialekt verborgen.
Zwei Dutzend nackte Menschen in eben jener Rodung, ein Pianist am Flügel. „Lasset de Kopf hänge!“ weist Reiner seine Modelle an. Und er macht es selbst vor, lässt die Wirkung der Musik andauern und dann drückt er auf den Auslöser. „Fertig“ flüstert er, steht auf und ruft seinen Modellen mit erhobenen Daumen entgegen: „Danke!“ Das war’s.
Muse, Romina, Hochzeitsfotografie, Göttlich, Erster Katholischer Brustwarzenkalender, Oberschwäbischer Bauernkalender, Afghanistan, Covid, Mofahelden, Gesicht zeigen. So lauten die unglaublich vielfältigen Fotoprojekte von Andreas Reiner, die wir am Anfang des Films vorgestellt bekommen. Mutige Projekte, starke Projekte, kreative Projekte. Und als Zeitstrahl sehen wir seine Biografie: 1968 Geburt als Fabrikantensohn, 1983 stirbt sein Vater, den er, der Sohn eh selten sah, weil er als Geschäftsreisender in der Welt umherreiste, 1983-86 Ausbildung zum Zimmermann, 1989 begeht seine Mutter Selbstmord. Psychiatrie, Arbeitslosigkeit, Umschulung zum Fotografen, Mitgliedschaft in einer Motorradgang etc. Schattenkind, Bilder des anderen Lebens, Andreas Reiner – so der vollständige Titel des Dokumentarfilms von Jo Müller.
„Prinzipiell möchte ich meine Arbeiten einfach bei mir daheim zeigen“, sagt er, während er einige seiner Bilder im Stall an die Wand schraubt. Er kann’s so machen wie er will, erläutert er. Er muss sich nicht an Vorgaben halten, wie in irgendwelchen Galerien, sagt er. In seiner Schuppengalerie kommen dann auch weniger die „Proseccoweiber mit ihren Stöckelschuhen“, sagt er. Die Proseccoweiber passen auch nicht zur Fotoserie, auf die wir Reiner nun begleiten: Reiner fotografiert eine Serie von Sargbeigaben, die Verstorbene mit auf die letzte Reise bekommen.
In Reiners Fotografien spiegeln sich die Brüche in seinem Leben wider – der Tod seines Vaters, die versuchten Suizide seiner Mutter, der erfolgreiche Selbstmord, sein Aufenthalt in der Psychiatrie. Er fotografiert Menschen in Umbruchssituationen, geht dahin, wo andere wegschauen – eben zu den Toten, zu Menschen mit Behinderung, zu Frauen, die tote Kinder auf die Welt gebracht haben, zu Außenseitern. Seine Bilder öffnen einem die Augen, decken die eigenen Ängste und Tabus auf – bisweilen sind sie aber auch voller Witz und Reiners Schalk blitzt heraus – zum Beispiel bei seinen „Mofahelden“, die eine Dampflok vor einer „Katastrophe“ bewahren…
Reiner bei der Arbeit zuzusehen ist unglaublich faszinierend. Wie man die Beziehung zu den Fotografierten spürt, mit denen er zum Teil lange, enge Beziehungen pflegte – oder wie er es schafft, in kürzester Zeit eine solche Beziehung aufzubauen. Wie er mit Tricks arbeitet, um den Modellen die Künstlichkeit im Augenblick der Aufnahme auszutreiben. Beeindruckende Porträts entstehen in diesen Momenten, Gesichter, Bilder, die ganze Biografien andeuten.
Jo Müller, der schon seit vielen Jahren als Fernsehjournalist und Regisseur arbeitet, hat bereits eine Vielzahl an Reportagen und Fernsehporträts gedreht: Sein Portrait ROLAND EMMERICH – MEIN LEBEN für ZDF und ARTE erhielt in Cannes sogar den Goldenen Delfin. Ebenso preisgekrönt ist seine Doku-Fiction-Serie über Märchen und Legenden: SAGENHAFTER SÜDWESTEN für den SWR. Aber auch fiktionale Formate hat er geschaffen, etwa den Dreiteiler RAUHNÄCHTE – WILDE JAGD UND STILLE ZEIT für den SWR mit Natalia Avelon und Harald Krassnitzer in den Hauptrollen. Immer wieder war auch Kino sein Thema, z.B. CARL LAEMMLE – LEBEN WIE IM KINO und KINOTRÄUME.
So authentisch Andreas Reiner an seine Modelle, an seine porträtierten Menschen herangeht, so ehrlich und echt porträtiert Jo Müller auch den Fotografen. Das ist so behutsam, persönlich, menschlich, berührend. „Fotos machen kann jeder, solche aber nicht“, sagt eine seiner Porträtierten irgendwann. Und das zu zeigen, gelingt Jo Müller auf wundervolle Art und Weise. Zurecht erhielt Müller auf den Hofer Filmtagen für dieses kleine, berührende Meisterwerk den Dokumentarfilmpreis. Die tollen Geschichten liegen manchmal eben nebenan. Das gilt für Jo Müller ebenso wie für Andreas Reiner.
CREW
Regie: Jo Müller
Kamera: Dirk Schwarz, Adrien Gacon, Marco Evangelista
Ton: Dorian Ostermann, Samuel Filohn
Schnitt: Tim Löschmann, Monika Agler
Mischung: Christian Müller
Grading: Tim Löschmann
Produzenten: Günter Moritz, Monika Agler
Musik: Dirk Maassen
88 Minuten
Hallo aus Galmutshöfen,
zufällig bin ich auf den Blog hier gestoßen.
Was soll ich sagen….
Danke!
Gruß Andy Reiner
Das freut mich sehr, von dir zu lesen! Herzlichen Dank für deine wundervollen Arbeiten! Liebe Grüße aus Berlin!
Jürgen Bürgin
Gut geschrieben 🙂
Zwei wunderbare Typen : Anton und sein Mensch Reiner
Gruß
Martina