Das Leben selbst. – Über das „SUPER 8“-Buch von Michael Brynntrup.

SUPER 8, Michael Brynntrup. Salzgeber Buch. ISBN 978-3959856607

„Der Erstlingsfilm, der Umzug nach Berlin und mein Coming-out – diese drei Veränderungen innerhalb von nur wenigen Monaten waren ein Aufbruch ins eigene Leben. Und die Super-8 dieser Zeit war nicht Kino ‚bigger than life‘, sondern das Leben selbst.“ So beschreibt der Filmemacher und Künstler (und laut Pressetext Film-Rebell, Wortakrobat, Videokünstler, Internet-Pionier, Anarchist, Chronist, Individualist) Michael Brynntrup wichtige Monate seiner Biografie in den Achtzigerjahren.

Aber zunächst einen Schritt zurück. Brynntrup ist Jahrgang 1959, in Münster geboren. 1981/82 dreht er auf einer Italienreise seinen ersten Film, „September, Wut – eine Reise“, den er dann, siehe oben, in Berlin fertigstellt, wo er fürderhin lebt. Die Super 8-Kamera war aber für ihn nicht der erste – bezahlbare – Schritt in Richtung Mainstreamfilmproduktion. Super 8 war ja für eine Menge Regisseure der Gegenwart ein erster kreativer Schritt: „Nolan begann im Alter von sieben Jahren, mit der Super-8-Kamera seines Vaters…“, „Bereits im Alter von 8 Jahren drehte Spielberg mithilfe seiner Super-8-Kamera…“, erfährt man, wenn man nach „Super 8“ googelt. Peter Jackson, aber auch Nanni Moretti, Lars von Trier etc., alle drehten in jungen Jahren Super 8-Filme. Für Brynntrup war und blieb die Super 8-Kamera aber ein Jahrzehntlang das künstlerische Ausdrucksmittel. Seit den 90ern experimentierte Brynntrup dann auch mit digitalen Filmen, die auf CD-Roms und im frühen Internet gezeigt wurden. Insbesondere die Berlinale im Panorama und im Forum zeigten Brynntrups Filme. Aber auch zahlreiche Kurzfilmfestivals – und mehrfach auch das New Yorker MOMA präsentierten seine Arbeiten.

SUPER 8, Michael Brynntrup. Salzgeber Buch. ISBN 978-3959856607

Und vielleicht einen erneuten Schritt zurück: Super 8 wurde bereits 1965 von Kodak am Markt eingeführt, Urlaubende sollten am Strand und in den Bergen in die Kameras winken. Schon bald gab es aber alternative Nutzungen: Es gab politische Strömungen, die Super 8 als bezahlbares Medium nutzten, um „Gegenöffentlichkeit“ zu erzeugen und „Basisarbeit“ zu leisten – es ging um die Umweltbewegung, Hausbesetzungen, Antiatomkraftaktionen etc. Im Jahr 1979 gründeten einige dieser Initiativen den „Gegenlicht-Super 8-Filmverleih“, der regionale Initiativen kanalisierte und unterstützte. Neben den politischen Nutzungen gab es aber eben auch Künstlerinnen und Künstler, die das Medium Super 8 als Ausdrucksmittel nutzten, weil es eben billig war, weil es leicht handhabbar war – und auch wegen der Bildästhetik, den rauen, körnigen Aufnahmen, die mit den Kameras entstanden (Zitat Brynntrup: „spontanes Ausdrucksmittel, funktional benutzt wie ein Notizzettel, oder auch Dilettantismus als Stil“). Einer dieser Künstler war in jener Zeit eben Michael Brynntrup. Videokameras lösten das alles im Verlauf der 80er und 90er allmählich ab.

Nun hat die Verlagssparte des Filmverleihs Salzgeber einen wunder- und liebevoll zusammengestellten Band mit einer überbordenden Fülle an Material zu Michael Brynntrups Super 8-Schaffen veröffentlicht. 400 Seiten dick, mit unzähligen Fotos, Filmstills, Tagebucheinträgen, Anekdoten, Notizen, Zitaten, Artikeln, fiktionalen, lyrischen, poetischen Texten, Zeichnungen, Kunstwerken, Dokumenten, Briefen, Akten, Flyern undsoweiter. Das hat manchmal direkt mit den Super 8-Filmen zu tun, manchmal aber auch nicht, es ist aber so herrlich unterhaltsam, wie eine kleine zu Buch gewordene Wunderkammer. Ich greife willkürlich heraus, der Tagebucheintrag vom 11. August 1980. Brynntrup muss ins Krankenhaus, weil eine OP seiner Zunge ansteht. Er räsoniert darüber, ob er „den Arzt, der mich operiert, darum bitten soll, mir das herausgenommene Stück meiner Zunge in Formaldehyd zu übergeben“. Herrlich. Auf der gegenüberliegenden Seite kein Bild der Zungenteile, aber immerhin eine eingerahmte Fingernägelsammlung des Künstlers: „1980, Assemblage auf Leinwand, 63 x 49 cm“.

SUPER 8, Michael Brynntrup. Salzgeber Buch. ISBN 978-3959856607

Oder aus dem Tagebucheintrag vom 22. April 1981: „Nur Wissenschaftler und alte Frauen benutzen die Sprache noch ungebrochen, meinte Hans, alle anderen seien ideologisch verdächtig. Ich fand aber, daß doch gerade Wissenschaftler, weil sie so kritiklos unter jedem Gesellschaftssystem arbeiten, sich verdächtig machen.“ Von vorne bis hinten lesen, oder drinrumblättern, schmökern, nach vorne und wieder zurück. Noch ein Eintrag, Tagebuch, 1. Mai 1981. „Ich sähe den Wert meiner ‚Kunstwerke‘ vorrangig nicht in einer künstlerischen Formvollendung, sondern darin, hauptsächlich meinen Freunden und Bekannten ein genaueres Bild von mir zu geben. Auch seien diese ‚Kunstwerke‘ zum Großteil ‚Hilferufe‘.“

Und am 15. August 1981 nimmt dann quasi Brynntrups Filmkarriere ihren Anfang: „Habe auch meine Pläne etwas geändert: Werde nun in Perugia die Sprache lernen, dann … reisen. In Münster beginne ich mit einem Film. Vielleicht heißt er ‚Die Reise in I‘. Die einzelnen 15m-Streifen (ca. 3 Min.) sollen ohne ‚cutting‘ aneinandergereiht werden, und was die Reise bewirkt an Erinnerungen […] soll anhand von Fotos eincollagiert werden.“

Im Jahr 1982 beginnt er dann für die taz eine regelmäßige Super-Acht-Kolumne zu schreiben. Im Vorfeld des 1. Internationalen Filmfestivals für Super-8 in Berlin (das heute noch als Interfilm Kurzfilmfestival existiert und vom 15. bis zum 20. November 2022 seine 38. Ausgabe erleben wird) erläutert Brynntrup in der Kolumne die Geschichte, Ästhetik, Praxis und Technik des Filmformats. „Die Stärke der Super-8 liegt in einer radikalen Besinnung auf die ureigenen Möglichkeiten der S-8, die sich aus der speziellen Arbeitsweise und dem speziellen Material ergeben“, schreibt er in der taz. „Die Unbefangenheit, sich mit diesem billigen Medium auszudrücken, sieht man vielen S-8-Filmen auch an; die Einfachheit mancher S-8-Filme wirkt jedoch auf viele, die noch Phantasie besitzen, eher stimulierend […]“. Spannend sind auch jene taz-Artikel, die einen Teil der Berlinale-Geschichte in Erinnerung rufen, die eben in jenen Zeiten im Forum und im Panorama auch Super-8-Filme gezeigt hat (Zitat: „Sicher ist es für die Berlinale-Veranstalter kein Vergnügen, sich mit dem Stiefkind Super-8 die Nacht um die Ohren zu schlagen, aber es ist für ein Berlinale!-Publikum auch keine Freude, sich mit manchen Filmen ins Gesicht treten zu lassen.“) Überhaupt ist es spannend zu lesen, auf welchen Festivals sich Brynntrup in den Achtzigern herumgetrieben hat, wie er die Stimmung einfängt, und was damals auf diesen Festivals so zu erleben war. Und immer wieder stolpert man über interessante Einblicke etwa in die Berliner Off- und Off-Off-Kinogeschichte der Achtziger Jahre.

SUPER 8, Michael Brynntrup. Salzgeber Buch. ISBN 978-3959856607

Schließlich folgt im großen Fleißteil des Buches die Dokumentation von Brynntrups Super-8-Filmografie, auch dieser Teil ist erneut wundervoll akribisch zusammengetragen, mit Plakatmotiven, Filmstills, Zitaten, Cast und Crew, ausführlichen Inhaltsangaben, Entstehungsgeschichte, Medienzitaten usw. Was ich ja liebe ist die Detailverliebtheit bei den Angaben, etwa beim Erstlings-Super 8-Film „SEPTEMBER, WUT – eine Reise“, eben jener oben erwähnte Italienfilm: „Premiere / première 16.09.1982, Berlin, Interfilm 1 Festival, Eiszeit Blumenthalstraße (1. Fassung = „Die Reise in I“)“. Darauf folgt alles erdenkliche Bild- und Textmaterial zum Film, eine richtige Rezeptionsgeschichte zum Film, Zitate aus epd Film, dem tip, Büchern, die den Film erwähnen, Transkriptionen aus Fernsehinterviews („Die ganz einfache Frage: wie du zum Filmemachen gekommen bist. Gab es ein Initialerlebnis, oder war das eine langsame Entwicklung?“), etc.

Michael Brynntrup – und dem Salzgeber-Buchverlag – gelingt also so Vieles mit diesem großartigen, bisweilen auch humorvollen und selbstironischen (um noch zwei Attribute zu nennen) Buch: Neben der eigenen, also Brynntrups, Super-8-Geschichte erzählt das Buch darüber hinaus viel über einen kaum erfassten Zweig der Filmgeschichte, gibt aber auch einen tiefen, faszinierenden Einblick in einen Teil der (vor allem) Berliner Kulturgeschichte, auch der queeren Berliner Kulturgeschichte und in eine Zeit, die ich in Berlin eben noch nicht erlebt habe, die auch, glaube ich, in Vergessenheit zu geraten droht – aber doch auch bis heute ihre Spuren hinterlassen hat – und sei es im bis heute existierenden Interfilm Festival.

Auf die Frage, ob das Buch eine Botschaft habe, sagt Brynntrup in einem Interview: „Wenn es das Freiheitliche und die Leichtigkeit vermittelt, die die Super-8-Zeit prägten, und vielleicht dazu ermutigt, auch mal Grenzen zu überschreiten, würde mich das freuen. Man darf auch mal radikal sein, auch mit sich selbst. Ich denke, meine Filme, und vielleicht auch das Buch, führen an Grenzen, und bestenfalls darüber hinaus.“

SUPER 8
Michael Brynntrup
Salzgeber Buch
400 Seiten
Format: 17,5 cm x 2,7 cm x 24,4 cm
ISBN 978-3959856607
Erscheinungsdatum: 17. Oktober 2022
Sprache: Deutsch / Englisch
Hardcover
44,00 €

https://salzgeber.de/de/buch/brynntrup-super-8/

DVDs aus Michael Brynntrups Oeuvre sind auf seiner Homepage erhältlich: http://www.brynntrup.de/

SUPER 8, Michael Brynntrup. Salzgeber Buch. ISBN 978-3959856607 (c) Marcel Steger

Filmographie (Auswahl)

1981-82: September, Wut, eine Reise
1983: Todesstreifen – ein deutscher Film
1983: Der Rhein – ein deutsches Märchen
1984: Orpheus – der Tragödie erster Teil
1986: Veronika (vera ikon)
1986: Testamento Memori
1986: Jesus – Der Film
1988: Tabu I-IV
1989: Narziss und Echo
1990: Die Statik der Eselsbrücken

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