Olaf Unverzarts „Walking – Distance“, Kettler Verlag

ENGLISH VERSION BELOW

Über ein kleines, uneitles Fotobuch, das so viel mehr ist als ein simples Straßenfotografien- oder Reisebuch.

Olaf Unverzart – Walking Distance – Kettler Verlag

Im September ist beim westfälischen Kettler Verlag das neue Buch des Münchner Fotografen Olaf Unverzart (Jahrgang 1972) erschienen. Unverzart versammelt in dem unprätentiösen, uneitel gestalteten Buch (die außergewöhnlichen Designideen stammen von der Leipziger Grafikerin Hannah Feldmeier, bitte unbedingt nachsehen, was sie sonst noch so gemacht hat: https://graphik-sammlung.de/ ) – Softcover, einfaches Papier, keine übertriebenen Gestaltungssperenzchen – seine Straßenfotografien aus den Jahren 1992 bis 2022, von fünf Kontinenten. Die einzige gestalterische Extravaganz, die wir vorfinden ist dann doch die, dass alle Bilder des Hochformatbuchs im Querformat sind. Wir blättern also so wie in einem Kalender. Warum nicht. Von Florian Grosser, der in Berkeley Philosophie lehrt, stammen die vier Seiten Text, jeweils englisch und deutsch, die dem Buch lose beigelegt sind.

Unverzarts schwarzweiße Straßenfotos transportieren eine sanften, zarten, manchmal erst auf den zweiten Blick erkennbaren Humor. Eines der ersten Bilder zeigt eine Mutter mit Kind im Bus, am linken Bildrand ragt aus unerklärlichen Gründen – ja was – eine Echsenmaske ins Bild? Ein Reptiloid? Weiter geht’s: Eine blonde Frau im weißen Kleid posiert zwischen, naja, martialischem Kriegsgerät (wo das ist erkenne ich zufällig, da war ich nämlich auch schon). Der Kontrast macht’s hier. Eine visuelle Groteske: Ein kleinwüchsiger, grimmig dreinschauender Mann mit Koffer, an der Hand eines Mannes mit Blindenstock. Nein, der Blinde ist eher an der Hand des Kleinwüchsigen, oder? Ein Mann hält einen fahrradfahrenden Affen an der Kette. Zwei gleichgekleidete Zwillingsmädchen grinsen einer Person in Bart Simpsons-Maske hinterher. Zwei Personen im Gegenlicht, hinter denen sich in einem Fenster von oben Oktopusfangarme herunterschlängeln. Grüße an Yayoi Kusama. Ein Mann mit Hut sitzt grinsend zwischen Kojoten. Dann ein graphischer Joke: Die Stangen des stofflosen Gerüsts eines Kinderbuggys spielen mit den abstrakt auf den Boden geworfenen Schatten der Äste eines Baumes (grafische Linienbilder gibt’s mehrere, die mag ich gerne). Ein Mann mit finsterer Grimasse hat seinen Arm um eine Frau geschlungen, trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Scared? You’d better be“ – und hält einen Schweinekopf in seiner rechten Hand. Zurück also bei der Groteske.

Und so geht es weiter. Die Klaviatur sämtlicher visueller Humorformen wird durchgespielt, wobei höchstselten zum billigen visuellen Kalauer gegriffen wird, wie’s in der Straßenfotografie schnell passiert. Höchstens einmal, aber den lasse ich gerne durchgehen: Auf einem Banner im Hintergrund sieht man einen Spaten, der geschwungen wird, im Vordergrund ist ein großer aufgehäufter Sandhaufen. Die Verknüpfung von Abbildungen auf Werbeplakaten und Bannern mit Dingen, mit Handlung im Vordergrund ist längst ein straßenfotografisches Klischee.

Olaf Unverzart – Walking Distance – Kettler Verlag

Humor und Groteske sind aber nur zwei Faktoren, auf denen Unverzarts Bilder aufbauen, der vielleicht noch entscheidendere Faktor ist das Geheimnis, das Verborgene, Verwirrende, das nicht so leicht Erklärliche. Beispiele: Warum versammeln sich Dutzende kaputter (?) Autos gegeneinander auf einer Straße, so dass es aussieht wie beim Stau-Spiel meines siebenjährigen Sohnes? Was macht der Edward mit den Scherenhänden für Arme eigentlich beruflich? Was macht das Pferd auf der Brücke zwischen Strommasten? Wohin deuten die Gipspfeile auf dem Boden um einen Baum herum? Trägt der Mann mit nacktem Oberkörper sein sonderbares Baby oder seine skurrile Puppe?

Unverzart erhebt das Geheimnis zum Prinzip. Er will uns verwirren, irritieren, und das gelingt ihm auch erfolgreich. In den Jahrzehnten einer fotografischen Karriere kommen da auch eine Menge solcher Rätselspiele zusammen – und die hat Unverzart großartig zusammengestellt. Ich kann seine Tage und Wochen im eigenen Archiv auf der Suche nach passenden Bildern nachvollziehen.

Olaf Unverzart – Walking Distance – Kettler Verlag

Florian Grosser, der den Text geschrieben hat, sieht noch Anknüpfungspunkte am Reisebuch oder bei der ethnografischen Dokumentation – Buchgenres, die Unverzart dann aber ad absurdum führt: „Trotz ihres Oberflächenwertes fehlen in Unverzarts Aufnahmen die üblichen Merkmale von Reisebildern, von ‚Bildern aus aller Welt‘, sind sie doch gerade nicht an den vermeintlich authentischen geografischen und kulturellen Signaturen der bereisten Gegenden interessiert, an den Besonderheiten der Landschaften und Artefakte.“ Es ist ja noch mehr Distanz zum Reisebuch: Wir erfahren ja noch nicht einmal, wo die jeweilige Aufnahme gemacht wurde. Bisweilen kann man den Kontinent erahnen, selten wirklich das Land oder gar der Ort der Aufnahme. Und mitgeteilt wird uns das nie: Weder als Bildunterschrift noch als Rätselauflösung am Schluss. In den Rätselheften meines Sohnes steht manchmal hinten die Auflösung irgendwelcher Bilderrätsel oder Rätselaufgaben. Manchmal auf dem Kopf, damit man nicht spickt und man’s nicht sofort lesen kann. Dazu aber gleich nochmal mehr.

„Lose Enden“ nennt der Textautor Grosser diese Rätsel, „die sich weiterspinnen und in alle möglichen schaurigen, absurden oder tragischen Geschichten einweben lassen. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass eine dritte Fläche, diejenige zwischen den Bildern, frei und unbespielt bleibt, als warte sie darauf, beschrieben zu werden.“

Olaf Unverzart – Walking Distance – Kettler Verlag

Grosser weist noch auf ein anderes Element in den Bildern hin: der Fokus auf Verkehrswege und Transportmittel, Fahrräder, Autos, Busse etc., sowie auf Reisende, Passagiere. „Als Betrachter werden wir auf die Infrastruktur aufmerksam gemacht, die die Gestaltwechsel der Konstellationen überhaupt erst ermöglicht. Auch wenn die Apparaturen und Medien, die in Unverzarts Arbeiten im Vordergrund stehen, Bewegungen weltweit immer weiter beschleunigen, finden sich in seinen Bildern auch beiläufige Verweise auf deren Entstehungsgeschichte (…)“, schreibt Grosser.

Mit welchen Emotionen und Gedanken hinterlässt mich Unverzart mit dem Buch? Humor, Groteske, Bildauswahl, alles großartig. Aber was ist mit den Bilderrätseln, die er mir stellt? Da gibt’s doch keine Lösungen, auch nicht klein und auf dem Kopf! Das ist ja irgendwie auch unbefriedigend! Doch dann, doch dann, klappe ich die Buchklappe am Ende des Buches auf, fast hätte ich das übersehen. Und dann geht mir ein Licht auf: Ich, der Rezipient von Unverzarts Buch, bin Teil des Konzepts. Ich bin in ein Rätsel- und Wahrnehmungsspiel eingebunden, werde in die Irre geführt, werde verwirrt, bekomme auf Fragen, die ich habe, nicht gleich konfektionierte Antworten. WALKING DISTANCE (auf den Buchtitel bin ich noch gar nicht weiter eingegangen) ist ein nur vage als Straßenfotografie-, Reise- und Dokumentarbuch kaschiertes meisterliches Kommunikationsspiel mit dem Betrachter.

Olaf Unverzart – Walking Distance – Kettler Verlag

Auch Grosser hat das erkannt: „Als Betrachter finden wir uns damit einmal mehr in eine wesentliche Kommunikation eingebunden, die wir nicht zuletzt mit uns selbst zu führen haben: Sie kreist um die Frage, zu welchem Grad wir noch bereit und fähig sind, mit Bildern dieser Art mitzugehen, uns auf ihren Takt und Rhythmus einzulassen, ihrem Anspruch auf einen anderen Blick, auf genaue Lektüre und auf eine narrative Antwort gerecht zu werden.“

Und jetzt füllt sich mein Buch-Erleben dann doch mit großer Befriedigung und großem Erkenntniszuwachs, wenn ich Unverzarts kleines, aber raffiniertes Werk jetzt noch einmal von vorne bis hinten durchsehe und die Bilder mit jenen Titeln, Kommentaren und Jahreszahlen, die ich ja dann doch noch entdeckt habe, zusammenbringe und mir so dann doch bei Einordnung und Interpretation geholfen wird.

WALKING DISTANCE von Olaf Unverzart
Autor:in: Florian Grosser (Text: deutsch und englisch)
Buchdesign: Hannah Feldmeier
Hrsg.: Olaf Unverzart
Softcover, 144 Seiten
18,2 x 25,5 cm
https://www.verlag-kettler.de/de/buecher/olaf-unverzart/
ISBN 978-3-98741-006-2
39,00 €

Weiteres über Olaf Unverzart:

http://www.unverzart.de/ und bei Instagram @unverzart

Olaf Unverzart – Walking Distance – Kettler Verlag

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ENGLISH VERSION

About a small, unpretentious photo book that is so much more than a simple street photography or travel book.

In September, the Westphalian Kettler Verlag published the new book by the Munich photographer Olaf Unverzart (born in 1972). Unverzart assembled in the unpretentious, unpretentious book (the unusual design ideas come from the Leipzig graphic artist Hannah Feldmeier, please be sure to check what else she has done: https://graphik-sammlung.de/ ) – soft cover, simple paper, no exaggerated design barriers – his street photographs from the years 1992 to 2022, from five continents. The only creative extravagance that we find is that all the pictures in the portrait book are in landscape format. So we leaf through it like in a calendar. Why not. Florian Grosser, who teaches philosophy in Berkeley, wrote the four pages of text, each in English and German, which are loosely enclosed in the book.

Unverzart’s black-and-white street photos convey a gentle, delicate sense of humor that is sometimes only recognizable at second glance. One of the first pictures shows a mother with a child in the bus, on the left edge of the picture, for inexplicable reasons – yes what – a lizard mask protrudes into the picture? A reptilian? Let’s continue: A blonde woman in a white dress poses between, well, martial war equipment (I happen to recognize where that is, because I’ve been there before). The contrast makes it here. A visual grotesque: a short, grim-looking man with a suitcase, holding the hand of a man with a white cane. No, the blind is more likely to hold the hand of the short, isn’t it? A man chained a monkey riding a bicycle. Two identically dressed twin girls grin after a person in a Bart Simpsons mask. Two people against the light, behind whom octopus tentacles wriggle down in a window from above. Greetings to Yayoi Kusama. A man in a hat sits grinning among coyotes. Then a graphic joke: the rods of the fabricless frame of a children’s buggy play with the abstract shadows cast on the ground by the branches of a tree (there are several graphic line images, I like them). A man scowling has his arm wrapped around a woman, wearing a T-shirt that read ‚Scared? You’d better be“ – and holds a pig’s head in his right hand. So back to the grotesque.

And so it continues. The keyboard of all forms of visual humor is played through, with the cheap visual jokes being used very rarely, as is often the case in street photography. At most once, but I’m happy to let it pass: On a banner in the background you can see a spade being swung, in the foreground there is a large pile of sand. Linking images on advertising posters and banners to things with an action in the foreground has long been a street photography cliché.

Olaf Unverzart – Walking Distance – Kettler Verlag

But humor and the grotesque are just two of the factors on which Unverzart’s pictures are built; perhaps the even more decisive factor is the secret, the hidden, the confusing, the not so easily explained. Examples: Why are dozens of broken(?) cars piling up against each other on a street, so it looks like my seven year old son’s traffic jam game? What does Edward Scissorhands for the Poor actually do for a living? What is the horse doing on the bridge between power poles? Where are the plaster arrows pointing on the ground around a tree? Is the shirtless man carrying his odd baby or his whimsical doll?

Unverzart raises the secret to a principle. He wants to confuse and irritate us, and he succeeds in doing so. In the decades of a photographic career, a lot of such puzzles come together – and Unverzart has put them together brilliantly. I can trace his days and weeks in my own archive in search of suitable images.

Florian Grosser, who wrote the text, still sees points of contact in the travel book or in the ethnographic documentation – book genres that Unverzart then reduces to absurdity: “Despite their surface value, Unverzart’s photographs lack the usual characteristics of travel photos, of ‘pictures from all over the world ‚They aren’t interested in the supposedly authentic geographical and cultural signatures of the areas they travel to, in the special features of the landscapes and artefacts.‘ It’s even more distant from the travelogue: we don’t even find out where the respective picture was taken became. Sometimes you can guess the continent, rarely really the country or even the location of the photo. And we are never told: neither as a caption nor as a solution to the puzzle at the end. In my son’s puzzle books, there is sometimes the solution to some picture puzzles or riddle tasks at the end. Sometimes upside down so you don’t cheat and you can’t read it right away. But more on that in a moment.

The text author Grosser calls these riddles “loose ends”, “which can be developed further and woven into all kinds of scary, absurd or tragic stories. Perhaps that is also the reason why a third area, the one between the pictures, remains free and unrecorded, as if waiting to be written on.

Grosser also points out another element in the pictures: the focus on traffic routes and means of transport, bicycles, cars, buses, etc., as well as on travellers, passengers. “As viewers, we are made aware of the infrastructure that makes the shape changes of the constellations possible in the first place. Even if the devices and media that are in the foreground in Unverzart’s work continue to accelerate movements worldwide, there are also casual references to their genesis in his pictures (…)“, writes Grosser.

With what emotions and thoughts does Unverzart leave me with the book? Humor, grotesque, image selection, all great. But what about the picture puzzles he asks me? There are no solutions, not even small and upside down! That’s kind of unsatisfying! But then, but then, I open the flap at the end of the book, I almost missed it. And then it dawned on me: I, the recipient of Unverzart’s book, am part of the concept. I’m involved in a game of riddles and perception, I’m misled, I get confused, I don’t get ready-made answers to questions I have. WALKING DISTANCE (I haven’t even gone into the title of the book yet) is a masterly game of communication with the viewer, only vaguely disguised as a street photography, travel and documentary book.

Grosser also recognized this: “As viewers, we find ourselves once again involved in an essential communication that we not least have to conduct with ourselves: it revolves around the question of the degree to which we are still willing and able to use images to go along with this way, to get involved with its beat and rhythm, to live up to its claim for a different perspective, for precise reading and for a narrative answer.”

And now my book experience is filled with great satisfaction and a great deal of new knowledge when I look through Unverzart’s small but ingenious work from start to finish and the pictures with the titles, comments and dates that I still do have discovered, bring them together and then I am helped with classification and interpretation.

WALKING DISTANCE by Olaf Unverzart
Author: Florian Grosser (Text: German and English)
Book design: Hannah Feldmeier
Ed.: Olaf Unverzart
Softcover, 144 pages
18,2 x 25,5 cm
https://www.verlag-kettler.de/de/buecher/olaf-unverzart/
ISBN 978-3-98741-006-2
39,00 €

More about Olaf Unverzart:

http://www.unverzart.de/ and at Instagram @unverzart

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