„STREET LIFE. Die Straße in der Kunst von Kirchner bis Streuli“ im Hirmer-Verlag

Noch bis zum 5. März 2023 zeigt das Ludwigshafener Wilhelm-Hack-Museum die Ausstellung „STREET LIFE. Die Straße in der Kunst von Kirchner bis Streuli“. Wer – wie ich – keine Gelegenheit mehr hat, rechtzeitig nach Ludwigshafen zu kommen, muss und darf auf den Katalog zur Ausstellung zurückgreifen, der beim HIRMER-Verlag erschienen ist.

Zunächst einmal zum Wilhelm-Hack-Museum: Das Museum geht auf den Kölner Kaufmann und Kunstsammler Wilhelm Hack (1899-1985) zurück, der im Jahr 1973 seine Kunstsammlung der Stadt Ludwigshafen vermachte. Im Jahr 1979 wurde das Museum schließlich eröffnet. Miró hatte die Keramikfassade gestaltet, die Sammlung deckt etliche Jahrhunderte Kunstgeschichte ab, mehrere Wechselausstellungen pro Jahr ergänzen das künstlerische Angebot. Eine davon ist eben aktuell die „StreetLife“-Ausstellung, die die Bedeutung der Straße für die Kunst der Klassischen Moderne und der Gegenwart abdeckt. „Als lebhafte Verbindung zwischen öffentlichem und privatem Raum bildet die Straße seit jeher einen höchst heterogenen Ort, an dem unterschiedlichste Lebensbereiche – unter anderem Arbeit, Freizeit, Konsum, Verkehr und Politik –, gesellschaftliche Gruppen und Interessen aufeinandertreffen“, erläutert der Museumstext. Und weiter: „Sie ist Ort der Repräsentation, Selbstinszenierung und Kommunikation, des Widerstands und Protestes. STREET LIFE zeigt auf, wie sich die kulturellen, sozialen, gesellschaftlichen und politischen Diskurse einer Epoche in die künstlerische Auseinandersetzung mit der Straße einschreiben. Die Straße wird zur Bühne, auf der wesentliche Fragestellungen einer Epoche künstlerisch verhandelt werden.“

Kuratiert wurde die Ausstellung von Astrid Ihle, die seit 2017 als Kuratorin am Wilhelm-Hack-Museum tätig ist. Die Verbindung von Straße und Kunst interessiert mich seit jeher, natürlich was die Malerei von Grosz oder Kirchner angeht – allen Kunstgattungen voran aber was die Fotografie angeht, die mit der Straßenfotografie, der „Street Photography“, ja eines ihrer prägenden und bisweilen auch innovativen Genres gefunden hat. Unzählige große Fotografen – Eugène Atget, Henri Cartier-Bresson, Robert Frank, Garry Winogrand, Vivian Maier, Elliott Erwitt, Joel Meyerowitz undundund – schafften es, aus ihren dokumentarischen Arbeiten stilistisch ausgefeilte Serien zu machen, die jeweils ihre eigene, persönliche, erkennbare Handschrift trugen.

In sechs Kapitel teilen Buch und Ausstellung die Thematik ein: Mit „Die Straße als Spiegel der modernen Gesellschaft“ ist das erste Kapitel benannt. „Zu Anfang des 20. Jahrhunderts rückte die Straße als elementarer Bestandteil des modernen Großstadtlebens in den Fokus der künstlerischen Avantgarde“, schreibt Astrid Ihle. Max Ernst, Paul Citroen, Max Beckmann, Ernst Ludwig Kirchner und allen voran George Grosz stehen im Mittelpunkt dieses Abschnitts. Paul Citroens berühmte Zeitungscollage „Metropolis“ aus dem Jahr 1923 ist für mich dabei der Inbegriff von Großstadtkunst. Ihle stellt die deutsche Großstadtmalerei des 20. Jahrhunderts allerdings auch in einen größeren Zusammenhang: „Doch sind die Ursprünge für die Straßenszene der Moderne meines Erachtens in der Kunstgeschichte deutlich früher zu verorten, und das in zwei unterschiedlichen Gattungen: zum einen in der Vedutenmalerei (…) Zum anderen ist der Umgang mit dem Motiv Straße aber sicherlich in der Genremalerei des 16. Jahrhunderts zu finden.“ Verbindungen zu den Bruegels werden gezogen.

Das zweite Kapitel, dessen Text von von Anne Bossok stammt, zeigt die „Akteur:innen“ der Straße. Wir wechseln nun auch die Kunstgattung und gelangen zur Fotografie. Die frühen Klassiker der Straßenfotografie sind zu sehen, Eugène Atget, Brassai, André Kertész und Friedrich Seidenstücker. Menschen werden in Bezug zur Straßenlandschaft gezeigt, Seidenstückers Pfützenspringerin etwa, oder sein Foto vom Columbus-Hochhaus auf das rege Straßenleben des Potsdamer Platzes. Zu den neueren Arbeiten, die zu sehen sind, gehören die Fotografien der amerikanischen Fotojournalistin Martha Cooper, lebensfrohe, intensive Bilder aus New York, aber auch aus Südafrika.

Das dritte Kapitel schließlich untersucht, auch wiederum mit dem Fokus auf der Fotografie, die „Straße als Bühne“ und zwar sowohl als Ort der Kunst als auch als Podium politischer Äußerungen. Für mich ist das eines der spannendsten Kapitel des Buchs. Die hier gezeigten Arbeiten sind für mich weitgehend Neuentdeckungen, etwa Daniel Burens „Photo-souvenirs“, die wilde Plakatierungen in Paris in den 60er Jahren mit den sich davor abspielenden Straßenszenen verbinden. Buren schuf diese Verknüpfungen mit einer Leichtigkeit. Heute ist die Verbindung von Werbegrafiken in der Stadtlandschaft mit sich davor abspielenden Szenen weitgehend zu einem Klischee der gegenwärtigen Straßenfotografie geraten, erzwungene Gags und visuelle Kalauer bestimmen dieses Subgenre der Straßenfotografie weitgehend.

Kapitel 4 untersucht die Straße als Leinwand und als Ort der Schrift- und Texterzeugung: „Graffiti oder die Straße als Text“ – Kapitel 5 schließlich lautet „Die Straße als Zeichen“. Wir begegnen der „suggestiven Wirkung“ der „Zeichensprache des Highways“ – und zwar einerseits in den berühmten Arbeiten Robert Franks („The Americans“, 1959), die auf seiner Amerikareise entstanden sind, und andererseits etwa in den zeitgenössischen Gemälden von Mary Heilmann oder Tatjana Doll, in denen das Straßenleben auf die grafische Darstellung der Verkehrszeichen und Straßenmarkierungen bis ins Abstrakte reduziert ist.

Das letzte Kapitel schließlich wendet sich wieder mehr dem Bezug des Menschen zum Lebensraum Stadt zu: „Die Straße als Habitat“. Der Text stammt wiederum von Anne Bosok. „Angesichts der zunehmenden Umwidmung des urbanen Raumes in monofunktionale Zentren des Konsums und der Vormachtstellung des Autos im Stadtbild entstanden ab Mitte der 1990er-Jahre Protestbewegungen“, schreibt sie. Wir entdecken Arbeiten etwa von Olaf Nicolai, Barbara Probst, Latifa Echakhch oder Nick Cobbing.

„StreetLife“ ist eine grandiose Sammlung und Zusammenstellung von straßenbezogenen Kunstwerken, quer durchs 20. Jahrhundert, bis zur Gegenwart. Das ist spannend, liefert unzählige Entdeckungen, die Texte sind alle hervorragend. Kurzum: Astrid Ihle hat eine außerordentlich spannende und kurzweilige Ausstellung zusammengetragen und einen ausgezeichneten Katalog geschaffen. Das passt bis ins Detail, insbesondere auch was das erfrischende und überzeugende Design des Bandes angeht. Das Buch funktioniert auch wunderbar unabhängig von der Ausstellung und man wünscht sich, dass der HIRMER-Verlag dem Band auch über die Ausstellung hinaus einen Platz im Verlagsangebot einräumt.

STREET LIFE
Die Straße in der Kunst von Kirchner bis Streuli – The Street in Art from Kirchner to Streuli
Hg. Astrid Ihle, René Zechlin
Beiträge von E. Bohnet, D. Campany, A. Ihle, S. Gronert, K. Rottmann, J. Stallabrass, M. Widrich

Text: Deutsch / Englisch
288 Seiten, 250 Abbildungen in Farbe
24 x 29 cm, gebunden
49,90 € [D] | 51,30 € [A] | 60,90 SFR [CH]

ISBN: 978-3-7774-3697-5

https://www.hirmerverlag.de/de/titel-87-2/street_life-2143/

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