Über Jessica Wynnes Buch „Bitte nicht wegwischen.“

Einige Monate meines beruflichen Lebens verbrachte ich als quereinsteigender Grundschullehrer an einer Brennpunktschule im Bezirk Wedding in Berlin. Schon bald erkannte ich allerdings, dass meine Vorstellungen vom Lehrerleben von der Realität – zumindest von der Weddinger Realität – weit abwichen. Um die innere Emigration oder den Burnout zu vermeiden, beendete ich das Projekt schließlich nach neun Monaten. Was mir aber in bleibender Erinnerung blieb, war die Tatsache, dass die Schule komplett mit digitalen Tafeln ausgestattet war. Das ist einerseits eine Errungenschaft, weil man die unmotivierte oder gar randalierende Schülerschaft relativ schnell mit Youtubevideos zur Ruhe bringen konnte. Bisweilen geriet das allerdings zur Stummfilmveranstaltung, wenn wieder einmal die Lautsprecherboxen ausgefallen waren. Dann konnte man nur auf den technischen Sachverstand der GrundschülerInnen oder auf von ihnen mitgebrachte portable Lautsprecherboxen hoffen. In manchen Klassenzimmern scheiterte die kreative digitale Tafelarbeit allerdings auch daran, dass die Vorhänge aus Brandschutzgründen entfernt waren und zumindest im Sommer das Sonnenlicht den Youtubegenuss zu einem fahlen Schimmer verkommen ließ. Trotz allem befruchtete die digitale Tafel die Gestaltung des Unterrichts – außer: im Mathematikunterricht. Was hätte ich gerne Kurven, Geraden, Kreise, Rechnungen, Brüche, geometrische Formen und was weiß ich mit weißer, blauer, grüner, gelber usw. an der Tafel entworfen, kreativ, mit freiem Kreideschwung. An der digitalen Tafel wirkte das mathematische Tafelbild allerdings immer ganz schön unkreativ.

Jessica Wynne ist Fotografin, unterrichtet Fotografie am Fashion Institute of Technology in New York, und sie ist Lehrertochter. Ihre Eltern unterrichteten in einem Internat Kunst und Geschichte. Sie wohnten auf dem Schulgelände, die Klassenzimmer waren Jessicas Spielplatz. Später, als Fotografin, lernte sie ein MathematikerInnenpaar kennen, Amie Wilkinson und Benson Farb, beide theoretische MathematikerInnen an der University of Chicago. Wynne begann sich für die Notizen der beiden zu interessieren. Sie erinnert sich aber auch an ihre Zeit in Indien als Sechzenjährige in einem Internat, als sie das erste Mal mit einer Kamera gearbeitet hatte. Dreißig Jahre später kam sie an diese Schule zurück und besuchte mit FotografiestudentInnen eine Grundschule, in der sie die geheimnisvoll beschrifteten Schultafeln fotografierte: „Als ich zu Hause meine Aufnahmen der Reise durchschaue, kehre ich immer wieder zu den Bildern der Kreidetafeln zurück. Sie symbolisieren so viel für mich: das Zusammenspiel von ästhetischer Schönheit und praktischem Nutzen; das Fremde und das Vertraute; Verständnis und Geheimnis. Die Texte auf den Tafeln in Jaipur erinnern mich an die mathematischen Symbole in Benson Farbs Notizbuch.“ Und so macht sich Wynne in New York an die Arbeit und fotografiert mathematische Tafelbilder ab. Keine Whiteboards, nur altmodische Tafeln. Sie fotografiert das ab, was die WissenschaftlerInnen gerne auf der Tafel abgebildet haben möchten. Manchmal ist es auch einfach das, was diese zuletzt sowieso an die Tafel geschrieben haben.

Das Entscheidende ist, dass Wynne diese Tafelbilder überhaupt gar nicht versteht, aber in ihnen eine grafische, abstrakte Schönheit erkennt, die ein Geheimnis verbirgt. Wynne reist durch die Welt und fotografiert, wo es geht, die Tafelbilder von MathematikprofessorInnen. „Auch wenn ich noch nicht immer all das verstehe, was Mathematiker:innen tun, so verbinde ich mit ihrer Arbeit, wer sie sind. Sie leben in ihrer eigenen Vorstellungswelt, folgen ihrer Intuition, verlieren sich in Gedanken, erschaffen mit Körperlichkeit und erkunden das unbekannte“, schreibt Jessica Wynne.

Nun ist Jessica Wynnes Bildband über diese mathematischen Tafelbilder erschienen: „Bitte nicht wegwischen. Die Schönheit mathematischer Tafelbilder“ heißt es, ist frisch im Februar in der deutschen Übersetzung beim Münchner Verlag Antje Kunstmann erschienen. Im Bildteil des Buchs sehen wir auf ungefähr 220 Seiten jeweils eine Doppelseite pro Tafelbild: Mit einer Kurzbiografie der jeweiligen MathematikerIn und einem Text, der uns Laien das Tafelbild und den jeweiligen mathematischen Hintergrund erläutert.

Auch wenn ich den Matheunterricht in der Schule gerne mochte, insbesondere jenen im Matheleistungskurs bei Herrn Göbel am Gymnasium, das ich in meiner Geburtsstadt Lörrach besuchte, fehlen mir doch weitgehend die Worte, das zu beschreiben, was ich auf den Tafelbildern sehe. Aber kurzum: Die Tafelbilder üben eine tiefe Faszination auf mich aus.

Ich picke mal eines heraus: Amie Wilkinson, oben bereits erwähnt, Professorin in Chicago mit Schwerpunkt auf – ich zitiere – „Ergodentheorie und stetig differenzierbare (‚glatte‘) Dynamiken“. Keine Ahnung, was das ist. Im Text erläutert Wilkinson: „Auf dieser Tafel befindet sich die zentrale Beweisführung eines Papers, das ich zusammen mit Keith Burns (…) über einen Mechanismus der chaotischen Dynamik verfasst habe. Das Bild zeigt eine Sequenz von Formen, (…) wobei wir mit einer Kugel beginnen und bei etwas enden, das Julienne genannt wird, da es dem gleichnamigen dünn geschnittenen Gemüse ähnelt.“ Aha! Immerhin, ziemlich witzig. Und das Bild ist dann schön bunt, geometrische Formen mit sonderbar wabrigen Umrissen. Aber dabei bleibt es nicht. Ich muss meinem inneren Zwang folgen und noch weiter beschreiben, was ich so sehe: Der Holzrand der schwarzen Tafel, mit Kreidenablage am unteren Rand, eine große Schachtel voll bunter Kreide. Und um die Tafel herum: rechts eine Tür, darüber eine Uhr, halb zwölf, links oben ein Fluchtwegepfeil.

Nehmen wir im Kontrast dazu ein Tafelbild, das gar nicht aus illustrativen Elementen besteht, sondern nur aus Formeln: Isabelle Gallagher ist Matheprofessorin an der Université de Paris. Das Tafelbild ist relativ chaotisch und ungeordnet mit allerlei Formeln beschrieben, gar nicht mal so voll. Gallagher schreibt: „Diese Tafel ist ein typisches Beispiel für die Arbeit einer guten Woche.“ Es seien „Abschätzungen eines Doktoranden“ darauf zu finden. Diverse Formeln, Wurzeln, Summenzeichen, zwei, drei französische Wörter.

Nehmen wir noch das vielleicht künstlerischste aller Tafelbilder: Nancy Hingston, ihres Zeichens Professorin am College of New Jersey – und seit 1994 in Princeton am Women and Math Programm beteiligt. Auf ihre Tafel sind vier Formen gemalt. Eine Form hat zwei Löcher, eine sechs Löcher. Und dann sind da noch zwei komische sich selbst durchdringende Formen, oder wie man das beschreiben soll, wovon die eine wohl auch zwei Löcher hat und die andere auch sechs Löcher. Mal sehen,  ob ich das so halbwegs verstanden habe: „Ein:e Mathematiker:in in einer fernen Galaxie oder einem anderen Universum würde die Botschaft auf dieser Tafel verstehen.“ Und ja, es geht genau darum, dass zwei der Formen die 2 repräsentieren, und zwei die 6. Nebenbemerkung: Das erste Mal, dass ich sehe, dass Außerirdische gegendert werden! Insbesondere die komplizierte 6-Figur hat was außerordentlich Ästhetisches.

Es gibt noch eine weitere „Gattung“ an Tafelbildern: Jene mit sehr reduziertem Inhalt, zum Beispiel Philip Ordings Kugel mit Äquator und Polen. Und noch konsequenter das finale Tafelbild, von Mitchell Faulk, Postdoc in Nashville, Tennessee. Ich will es gar nicht spoilern. Es geht um die Eigenschaften von Kreidetafeln und um die Unvollkommenheit.

Und dann begegnen wir dem Grund für den Buchtitel. Offenbar besteht immer wieder die Notwendigkeit über Arbeitstage oder Unterrichtseinheiten hinweg an ein und demselben Tafelbild weiterzuarbeiten. Dann ist es wohl erforderlich, KollegInnen darauf hinzuweisen, dass das Tafelbild bitte nicht beseitigt werden möge. „Ne pas effacer“ oder „Do not erase“ steht auf extra für solche Zwecke hergestellten Täfelchen.

„Bitte nicht wegwischen“ ist ein wundervolles Buch, das eine solch unerwartete Schönheit in sich trägt, und in das man sich so sehr vertiefen kann, das einen auf so ungewöhnliche Weise in die Welt eines Berufsstandes hineinführt – und zwar ohne dass wir auch nur eine einzige dieser WissenschaftlerInnen sehen. Mir zeigt das mehr über die Welt und über die Denke von WissenschaftlerInnen, als das gesamte kleine Subgenre des MathematikerInnen-Spielfilms: „A Beautiful Mind“ von Ron Howard, „Pi“ von Darren Aronofsky, „Gifted“ von Marc Webb. Mit Sicherheit ist dieses wunderbare, geheimnisvolle Bilderbuch für jeden ein komplett anderes Buch, je nach dem in welch nahem oder fernem Verhältnis man zur Welt der Mathematik steht. „Bitte nicht wegwischen“ ist ein grandioses Buch auf der Grundlage einer außergewöhnlichen – aber eigentlich so einfachen – Buchidee.

Jessica Wynne: Bitte nicht wegwischen. Die Schönheit mathematischer Tafelbilder

Buch 40,00 € (D)

ISBN: 978-3-95614-516-2

228 Seiten

erschienen im Februar 2023

Übersetzt von Jörn Pinnow

https://www.kunstmann.de/buch/jessica_wynne-bitte_nicht_wegwischen-9783956145162/t-2/

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