SAINT OMER von Alice Diop in den deutschen Kinos ab 9. März 2023

SAINT OMER. Credits ©Grandfilm. Produktion Srab Films, Regie Alice Diop, Verleih Grandfilm. --
SAINT OMER. Credits ©Grandfilm. Produktion Srab Films, Regie Alice Diop, Verleih Grandfilm. —

Rama ist eine junge Professorin und Schriftstellerin in Paris. Mit ihren StudentInnen beschäftigt sie sich mit Marguerite Duras, mit „Hiroshima mon Amour.“ Sie schreibt gerade an ihrem neuen Buch. Ihr Mann Adrien ist Musiker. Rama fährt nach Saint Omer, ganz im Norden Frankreichs, ein kleines Städtchen, zu einer Gerichtsverhandlung gegen eine junge Frau, Laurence Coly, geboren in Dakar im Senegal, Studentin. Zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung, so ihre Angaben vor Gericht, lebte sie bei Luc Dumontet, in Saint-Mandé, eine Gemeinde im Pariser Ballungsraum. Die Geschworenen für die Verhandlung werden ausgewählt, dann verliest die vorsitzende Richterin die Anklage: Laurence ist angeklagt, ihre 15 Monate alte Tochter Élise ermordet zu haben. Die Leiche des Kindes war von einem Fischer gefunden worden. Die Untersuchung des Leichnams hatte ergeben, dass das Kind im Wasser ertrunken ist. Die Polizei hielt es zunächst für ein Flüchtlingskind, das bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen wäre. Neun Tage später kam die Polizei auf Laurences Spur, die zunächst behauptete, sie hätte ihr Kind zur Großmutter nach Dakar geschickt, damit sie selbst sich um ihre Dissertation kümmern könne. Doch Aufnahmen auf Überwachungskameras bewiesen, dass diese Aussage falsch war. Laurence legte ihr Geständnis ab. Sie habe ihr Kind getötet, weil das, so wird sie zitiert „Leben so einfacher“ wäre. Die Tat passierte nach einem Streit mit Luc. Laurence hinterließ das Mädchen am Strand, in der Hoffnung, der Leichnam würde vom Wasser davongetragen. Das sei während „halluzinatorischer“ Ereignisse passiert. Ihre senegalesische Familie und die Familie von Luc Dumontet habe sie „verhext“ – wird sie in der Anklageschrift zitiert. Nun, vor Gericht, sagt sie, dass sie nicht weiß, warum sie ihr Kind getötet habe – und dass sie hofft, das im Gerichtsverfahren herauszufinden. Die Einzelheiten der Anklage bestätigt sie, dennoch plädiert sie, nicht schuldig zu sein. Zumindest sei sie nicht sicher, ob sie die wirklich Schuldige in diesem Fall sei. Dann beginnt sie zu erzählen: Die zwei Jahre vor dem Tod ihrer Tochter seien die schlimmsten Jahre ihres Lebens gewesen…

SAINT OMER. Credits ©Grandfilm. Produktion Srab Films, Regie Alice Diop, Verleih Grandfilm. —

Aber zunächst erzählt sie von ihrem Leben, wie sie im Senegal aufwuchs, eigentlich in guten Verhältnissen, in einer recht gewöhnlichen Kindheit, als Einzelkind, sie war gesprächig, ein lustiges Kind, erzählt sie. Sie las viel, manchmal zog sie sich etwas zurück, sie hatte nicht sehr viele Freunde. Ihre Mutter war besessen davon, dass Laurence eine gute Ausbildung erhalten sollte – dennoch war es ein sehr distanziertes, gefühlloses Verhältnis. Ihren Vater, der von der Familie getrennt lebte, sah sie einmal im Monat, er sei streng gewesen, aber sehr kultiviert und gefühlvoll, sehr kunstinteressiert, was ihn mit seiner Tochter verbindet. Laurence war, erzählt sie, eine gute Schülerin, sie wollte Jura studieren, ging schließlich nach Frankreich, auch um dem Druck ihrer Eltern zu gehen, der auf ihr als Einzelkind lastete. Ihr Aufenthalt in Paris war schwierig, eine Zeitlang kehrte sie auch nach Dakar zurück, aber auch dort war es inzwischen schwierig für sie, weil man sie inzwischen als Fremde ansah. In Paris verdiente sie zwischendurch Geld als Babysitterin, bei einer Familie, sie sie sehr schätzte, weil sie gebildet war, weil sie mit den Kindern großartig umgehen konnte. Sie wechselte von Jura zu Philosophie, was ihr Vater im Senegal ablehnte, und seine Unterstützung einstellte. Bald konnte sie ihre Miete nicht mehr bezahlen. Das war der Zeitpunkt, als sie schließlich bei Luc Dumontet einzog, mit dem sie sich gut verstand, obwohl er mehr als 30 Jahre älter war als sie – ein älterer weißer Mann, der noch verheiratet war, ein Kind hatte – und mit dem sie schließlich eine Liebesbeziehung anfing. Luc war ehemals ein erfolgreicher Geschäftsmann, stieg dann aber aus und wurde Bildhauer. Doch dann begann ihre Beziehung schwierig zu werden, gerade zu jener Zeit, als sie von ihm schwanger wurde…

SAINT OMER. Credits ©Grandfilm. Produktion Srab Films, Regie Alice Diop, Verleih Grandfilm. —

Zu Beginn des Gerichtsverfahrens scheint alles klar zu sein. Schnell könnte ein Urteil fallen angesichts dieser unvorstellbaren Tat. Doch im Verlauf des Verfahrens wird immer mehr klar, dass eben nichts eindeutig ist. Vielleicht gibt es Mitschuldige, moralisch Mitschuldige? Welche Rolle spielt der Vater des Kindes, welche die Familie der Mutter? Welche die Gesellschaft, welche die gesellschaftlichen Rollen, in denen Laurence, in denen Luc verfangen sind? Welche Rolle spielen die kulturellen Hintergründe und Unterschiede? Welche Rolle spielen Einsamkeit? Ausgrenzung? Ist Laurence krank?

Wir schauen uns die Geschichte vom Tod Élise durch die Augen von Rama an, die eben eine Reportage, einen Roman über die tragischen Ereignisse schreiben möchte. Rama fühlt aber mit, kann die Situation von Laurence nachvollziehen. Und sie taucht immer tiefer in Laurences Geschichte ein, sie fühlt sich verbunden zu ihre, Ängste kommen in ihr auf, dass sie auch ein kleines bisschen so ist, wie Laurence. Zum allergrößten Teil des Filmes sind wir mit Rama als ZuschauerInnen im Gerichtssaal dabei. Dennoch sind wir weit davon entfernt, einem klassischen, herkömmlichen Gerichtsdrama beizuwohnen. Wir werden nicht ZeugInnen dramatischer Auseinandersetzungen und Kreuzverhören zwischen Anwälten und Staatsanwälten. Wir hören vor allem einer verzweifelten Frau zu, die von ihrem Leben und von ihrem Schicksal erzählt, von ihrer emotionalen Lage, von ihrer Situation als Auswanderin, als Studentin. Wir hören den Vater des Kindes, der sich nie für Élise verantwortlich fühlte, sich heute aber als moralisch schuldig bekennt. Und Rama trifft sich schließlich auch mit Laurences Mutter, die aus dem Senegal angereist ist, um den Prozess zu verfolgen. Sie macht vielsagende Bemerkungen: Dass ihr Laurence im Gerichtsverfahren nicht höflich genug erschien. Sie ist erfreut, in den Tageszeitungen zu lesen, dass man Laurences gute Erziehung und Bildung bemerkt hat.

SAINT OMER. Credits ©Grandfilm. Produktion Srab Films, Regie Alice Diop, Verleih Grandfilm. —

SAINT OMER ist der erste Spielfilm der französischen Drehbuchautorin und Regisseurin Alice Diop. Diop studierte an der Sorbonne, Geschichte und visuelle Soziologie, danach drehte sie zunächst Dokumentarfilme, die auf etlichen Festivals liefen und mit Preisen ausgezeichnet wurden – zum Beispiel LES SÉNÉGALAISES ET LA SÉNÉGAULOISE (2007), LA MORT DE DANTON (2011), LA PERMANENCE (2016) und TOWARDS TENDERNESS (2016), der 2017 mit dem César als bester Kurzfilm ausgezeichnet wurde. WE (2021) wurde als beste Dokumentation und als bester Film der Sektion Encounters bei der Berlinale 2021 ausgezeichnet. SAINT OMER lief in Venedig, wurde mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet und ist Kandidat Frankreichs für den Auslands-Oscar im Jahr 2023.

In einem Interview erzählt Diop, wie ihr tiefes Interesse an dem Thema entstanden ist: „Für Saint Omer kommt die Besessenheit von einem Foto, das 2015 in Le Monde veröffentlicht wurde. Es ist ein Schwarz-Weiß-Bild, aufgenommen von einer Überwachungskamera: eine schwarze Frau schiebt am Gare du Nord einen Kinderwagen mit einem eingewickelten Mischlingsbaby. Ich sah das Foto an und dachte: ‚Sie ist Senegalesin!‘ Zwei Tage zuvor war in Berck-sur-Mer ein Baby gefunden worden, von den Wellen angespült, um sechs Uhr morgens. Niemand wusste, wer dieses Kind war, Journalist*innen und Ermittler*innen vermuteten, dass es sich um ein Migrantenboot handelte, das vom Kurs abgekommen war.“ Weiter erzählt Diop: „Die Erzählung besteht darin diese Haut, diese Körper festzuhalten, an einem Ort, an dem sie noch kaum sichtbar sind. Das ist das Zeitgenössische an diesem Film: aus dem Off ins Zentrum des Bildes, aber mit einer ästhetischen Kraft. Die Ästhetik des Films ist für mich politisch. Diese Körper sind nicht oft gefilmt worden, diese Frauen. Ich möchte ihnen das Kino als einen Raum anbieten, in dem man sich ihrem Blick nicht mehr entziehen kann, ohne dass es zu sehr stilisiert wird.“ Und in der Tat stammt die Kraft dieses Filmes zu einem Wesentlichen Teil aus den Gesichtern dieser beiden Protagonistinnen, Laurence (Guslagie Malanda) und Rama (Kayije Kagame). Dafür, dass sie die beiden Hauptfiguren sind, haben sie erstaunlich wenig Dialog. Vieles von dem, was wir über sie, ihre Gefühle, ihre Beweggründe erfahren, lesen wir aus ihren Gesichtern und Emotionen.

SAINT OMER. Credits ©Grandfilm. Produktion Srab Films, Regie Alice Diop, Verleih Grandfilm. —

Beide Hauptdarstellerinnen wenigen Filmen mitgespielt. Umso erstaunlicher ist es, das es beiden gelingt ihre Rollen zum Tragen zu bringen. Beide haben dennoch beeindruckende Lebensläufe: Kayije Kagame, die Rama spielt, wurde 1987 in Genf geboren, sie studierte In Lyon an der École Nationale Supérieure des Arts et Techniques du Théâtre (ENSATT), wo sie von Bob Wilson entdeckt wurde und an der Watermill International Summer Program Residency in Long Island, USA teilnahm. Als Künstlerin schuf sie zahllose Performances, Klangstücke, Filme und Installationen. Derzeit bereitet sie ihren ersten eigenen Kinofilm vor, INTÉRIEUR VIE / INTÉRIEUR NUIT (INNER LIFE / INNER NIGHT), der in Co-Regie mit Hugo Radi verfilmt werden soll. Guslagie Malanda, die Laurence spielt, gab ihr Debüt als Filmschauspielerin in der Hauptrolle von Jean-Paul Civeyracs MY FRIEND VICTORIA im Jahr 2014 an der Seite von Pascal Greggory. Sie hat einen Abschluss als Kunsthistorikerin und arbeitet als unabhängige Kuratorin.

SAINT OMER gehört in der Tat zu den stärksten Filmen dieses noch recht jungen Kinojahres. Das beruht auf einer beeindruckenden Zusammenarbeit aller Beteiligten, von Cast und Crew – die Vision der Regisseurin Alice Diop, die gemeinsam mit Amrita David und Marie Ndiaye auch das beeindruckende Drehbuch zu diesem – Gerichtsdrama – geschrieben hat, obwohl das Wort „Gerichtsdrama“ dem Film überhaupt nicht gerecht wird. Eigentlich ist das ein Genre, das ich überhaupt nicht mag, bis auf eine Handvoll großer Klassiker. Eigentlich verbinde ich dieses Genre mit überdramatisierten Drehbüchern, anstrengenden Rededuellen und klischeehaften Figurenkonstellationen. All dies ist SAINT OMER aber in keinster Weise. Zurück zu Cast und Crew: Nicht vergessen werden darf in jedem Fall auch die Arbeit von Claire Mathon, die für die Kameraarbeit verantwortlich war. SAINT OMER wird so zu einem vielschichtigen, in die Tiefe gehenden psychologischen Drama, dessen Erzählung einem lange in Erinnerung bleiben wird.

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„Dieser Film ist sehr organisch, an vielen Stellen sehr intim,“ sagt Diop, „auch wenn ich viel Energie in die Behauptung des Gegenteils gesteckt habe, nämlich dass Rama nicht ich ist, was zum Teil stimmt, aber wie jede Fiktion liegen ihrer Figur Dinge zugrunde, die zu mir gehören, zu meinen Erfahrungen, zu Emotionen, die ich kenne. Jetzt, da der Film fertig ist, bin ich entspannter mit dem Gedanken, dass der Film mir gehört, und ich denke, dass ich ihn machen musste, sowohl aus persönlichen als auch politischen Gründen. In meinem Bedürfnis, die Geschichte dieser Frauen zu erzählen, war der Wunsch, ihr Schweigen zu dokumentieren, ihre Unsichtbarkeit zu reparieren. Das ist auch eines der politischen Ziele des Films.“


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SAINT OMER

Regie: ALICE DIOP

(Frankreich 2022)

123 Min., DCP-2K, deutsche Synchronfassung und franz. OmU-Fassung

Regie: Alice Diop

Drehbuch: Alice Diop, Amrita David, Marie Ndiaye

Kamera: Claire Mathon

Schnitt: Amrita David

Ton: Dana Farzanehpour, Josefina Rodriguez, Lucile Demarquet, Emmanuel Croset

Casting: Stéphane Batut

Szenenbild: Anna Le Mouel

Kostümbild: Annie Melza Tiburce

Maskenbild: Élodie Namani Cyrille, Marie Goetgheluck

Produktionsmanager: Rym Hachimi, Paul Sergent

Postproduktion: Bénédicte Pollet

Produktion: Srab Films (Toufik Ayadi, Christophe Barral)

koproduziert von Arte France, Pictanovo Hauts-de-France

in Zusammenarbeit mit Centre National du Cinéma et de l’image animée, Fonds Images De La Diversité – L’agence Nationale De La Cohésion Des Territoires, Région Île-De-France, Pictanovo, La Région Hauts-De-France, Cofinova 18, Indéfilms 10, Région Nouvelle Aquitaine, Ciclic-Région Centre-Val De Loire.

Cast:

Kayije Kagame – Rama

Guslagie Malanda – Laurence Coly

Valérie DRÉVILLE – Richterin

Aurélia Petit – Frau Vaudenay (Laurence Colys Anwältin)

Xavier Maly – Luc Dumontet

Robert Cantarella – Staatsanwalt

Salimata Kamate – Diatta

Thomas De Pourquery – Adrien

Adama Diallo Tamba – Ramas Mutter

Mariam Diop, Dado Diop – Ramas Schwestern

GRANDFILM GmbH Filmverleih www.grandfilm.de

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