ENGLISH VERSION BELOW
Als ich begann, mein Boxbuch „Punch – A visual story“ vorzubereiten, nahm ich einige Bücher zur Hand, um mich in das Thema zu vertiefen, etwa Joyce Carol Oates wunderbares Buch „On Boxing“ (1987) oder Larry Finks beeindruckender Schwarzweißbildband „Boxing“ aus dem Jahr 1998. Oder ein paar der über Muhammed Ali erschienenen Bücher – etwa „Champ“ von Hoepker, eines der Hoepker-Bilder hängt über meinem Schreibtisch. Aber erst als ich Anfang dieses Jahres mein Buch in Lissabon vorstellte, machte mich jemand auf ein sagenumwobenes Buch aufmerksam: „Neutral Corner“ heißt es, ein gemeinsames Werk des spanischen Fotografen Ramón Masats und des spanischen Schriftstellers Ignacio Aldecoa.
Masats, 1931 in Barcelona geboren, die Langeweile beim Militärdienst trieb ihn wohl in die Fotografie, so erfährt man im spanischen Wikipedia-Artikel – einen deutschen oder englischen Eintrag gibt es nicht. 1957 zog er nach Madrid, 1962 erschein bei „Editorial Lumen“ in Barcelona das benannte Boxbuch, 1963 erschien „Los Sanfermines“ über das berühmte Festival samt Stierrennen in Pamplona. Er begegnete Carlos Saura, wandte sich jahrelang dem Film zu und der Fotografie ab, dreht etliche Dokumentarfilme, Reportagen und auch einen Spielfilm, „Topical Spanish“, anderthalb Minuten der schrillen Komödie kann man bei Youtube einsehen. Über 90 ist er inzwischen, 2021 stellte er sein Werk im Centro de Arte Alcobendas bei Madrid aus.
Ignacio Aldecoa, der den Text zu „Neutral Corner“ schrieb, wurde 1925 in Vitoria-Gasteiz im Baskenland geboren, studierte in Salamanca und Madrid Literatur und Philosophie, einige seiner Romane erschienen auch auf Deutsch und in anderen Sprachen, etwa „El fulgor y la sangre“ („Glanz und Blut“). Der Mareverlag veröffentlichte 2007 seinen preisgekrönten Roman „Gran Sol“ aus dem Jahr 1958. Einige seiner Romane wurden verfilmt. Aldecoa starb 1969 bereits mit 44 Jahren in Madrid, die spanische Wikipedia beschreibt ihn als „un vitalista, incansable fumador y bebedor“, der seinen Lebenswandel mit Rauchen und Trinken nach Magengeschwür und Herzstillstand wohl mit dem Leben bezahlte.
„Neutral Corner“ war 1996 noch einmal neu aufgelegt worden, in einer kommentierten Ausgabe mit neuem Cover, das aber nicht das wiedergibt, was das Original ausmacht. Das Original hingegen gibt’s vereinzelt auf Bücherplattformen für Sammler zu kaufen, zum Teil tief im dreistelligen Eurobereich, wie so oft bei älteren Fotobänden. In Berliner öffentlichen Bibliotheken ist das Werk nirgendwo vertreten – allerdings lässt es sich per Fernleihe bestellen, zum Beispiel aus der Universitätsbibliothek Passau, wo es erstaunlicherweise vorhanden ist, allerdings in einer zerfledderten, auseinanderfallenden Ausgabe. Aber egal. Es ist ein kleines, beinahe quadratisches, wundervoll düsteres Werk, mit rauem, grauem Papier, mit wenigen Dutzend Bildern und einem tollen spanischen Text über das Boxen, den ich dank Halbwissen in spanischer Sprache einerseits und Google Translator andererseits halbwegs nachvollziehen und verstehen konnte.
Masats Schwarzweißfotografien sind so düster und in harten Kontrasten gehalten, dass einige der Bilder aus dem Boxring sich in beinahe abstrakte Hell-Dunkel-Schattierungen auflösen. Man erkennt aus dem Schwarz heraus nur noch angedeutete Muskelpartien der Kämpfer. Aber insgesamt verfolgen Masat und Aldecoa eben jene Idee von Boxkämpfen, die Joyce Carol Oates später formulierte: „Each boxing match is a story – a unique and highly condensed drama without words.“ Wir erleben die Vorberereitungen, sich vor dem Kampf konzentrierende Boxer, die Kämpfer beim Training und schließlich im Ring, voller Schmerzen, Erschöpfung und Leiden, mit „Cuts“ im Gesicht, und schließlich am Boden. K.O. Das K.O.-Bild ist schließlich auch das letzte Bild des Buches, vier Helfer kauern um den flachgestreckten Kämpfer, der nicht wieder aufzustehen scheint, wohl ein ernster Fall. Dieses finale Bild wird auch nicht durch ein Siegerfoto des Gegeners am Schluss wieder aufgeweicht, relativiert. Vom Sieger ist nichts zu sehen, der wurde wohl in die titelgebende neutrale Ecke geschickt. Das Bild prägt sich ein, es ist seltsam von schräg oben herab fotografiert, man kann gar nicht richtig verorten, wo der Fotograf stand. Und wie der Faustschlag des Gegners im Kopf des Verlierers nachhallt, so hallt auch dieses Bild noch einmal nach: Es wird nach der doppelseitigen Abbildung auf der darauffolgenden Seite noch einmal passfotogroß gezeigt.
Überhaupt ist der fotografische Teil dieses Buches erstaunlich und ungewöhnlich gestaltet: Die passfotogroße Wiederaufnahme eines Bildes zieht sich durchs Buch, an einigen Stellen spielt das Layout mit Bildnegativen. Ein, soweit ich das beurteilen kann, innovatives Buchdesignkonzept für einen Bildband aus den frühen Sechzigern. Konsequenterweise und überhaupt nicht selbstverständlich, sind am Ende des Buches auch die beiden Designer genannt: Luis Clotet und Oscar Tusquets.
Die in vierzehn Kapitel unterteilten Texte Aldecoas begleiten und umspielen die Bilder Masats, beide Anteile sind aber mindestens gleichwertig. Es ist ein Bild- und Lesebuch, nichts von beidem hätte Vorrang vor dem anderen. Aldecoa beginnt all seine Kapitel mit meist knappen, prägnanten Überschriften: La ley del péndulo, The King, Break !!!, Un minuto de paz, El Estratega, Narciso etc. Jeweils begleitet sind die Überschriften von passenden klassischen Zitaten: „Tiempo de abrazar y tiempo de alejarse de abrazar“ – Eclesiastes. Oder: „El hombre que ha alcanzado la excelencia con sus punos.” – Pindaro.
Auch Aldecoas Texte kulminieren schließlich im vorletzten, dreizehnten Kapitel „Epitafio de un boxeador“: „Die Toten müssen respektiert werden, aber es war ein gutes Epitaph“, heißt es am Schluss des Kapitels über die Grabinschrift des toten Boxers.
„Neutral Corner“ ist ein kleines, beeindruckendes Meisterwerk der Boxliteratur, ein Kleinod und ebenso ein zutiefst interessanter Einblick in die Kunst der Herstellung von Bildbänden in den frühen sechziger Jahren.
Ich lasse es jedenfalls bald an die Unibibliothek Passau zurückgehen, so dass es die nächsten per Fernleihe ausleihen können. Es sei denn die Bibliothek hat noch ein kleines Budget dafür übrig, das Buch wieder herzustellen und neu zu binden.
ENGLISH VERSION
About the boxing book „Neutral Corner”
As I began to prepare my boxing book Punch – A visual story, I picked up a few books to delve into the subject, such as Joyce Carol Oate’s wonderful book On Boxing (1987) or Larry Fink’s stunning black and white illustrated book Boxing “ from 1998. Or a few of the books published about Muhammed Ali – such as „Champ“ by Hoepker, one of the Hoepker pictures hangs above my desk. But it wasn’t until I was presenting my book in Lisbon earlier this year that someone drew my attention to a legendary book called Neutral Corner, a joint work by Spanish photographer Ramón Masats and Spanish writer Ignacio Aldecoa.
Masats was born in Barcelona in 1931. The boredom of military service probably drove him into photography, according to the Spanish Wikipedia article – there is no German or English entry. In 1957 he moved to Madrid, in 1962 the named box book was published by „Editorial Lumen“ in Barcelona, in 1963 „Los Sanfermines“ was published about the famous festival including the running of the bulls in Pamplona. He met Carlos Saura, turned to film and photography for years, made several documentaries, reports and also a feature film, „Topical Spanish“, one and a half minutes of the shrill comedy can be viewed on YouTube. He is now over 90 and in 2021 he exhibited his work at the Centro de Arte Alcobendas near Madrid.
Ignacio Aldecoa, who wrote the text for „Neutral Corner“, was born in 1925 in Vitoria-Gasteiz in the Basque Country, studied literature and philosophy in Salamanca and Madrid, some of his novels have also been published in German and other languages, such as „El fulgor y la sangre“ („shine and blood“). Mareverlag published his award-winning 1958 novel Gran Sol in 2007. Some of his novels have been filmed. Aldecoa died in Madrid in 1969 at the age of 44. The Spanish Wikipedia describes him as „un vitalista, incansable fumador y bebedor“, who probably paid for his lifestyle of smoking and drinking after a stomach ulcer and cardiac arrest with his life.
„Neutral Corner“ was reissued again in 1996, in an annotated edition with a new cover that doesn’t reflect what the original was all about. The original, on the other hand, can be bought occasionally on book platforms for collectors, sometimes in the three-digit euro range, as is often the case with older photo volumes. The work is not represented anywhere in Berlin’s public libraries – although it can be ordered via interlibrary loan, for example from the University Library in Passau, where it is surprisingly available, albeit in a tattered, falling apart edition. But whatever. It is a small, almost square, wonderfully sombre work, with rough, gray paper, a few dozen pictures and a great Spanish text about boxing, which I was able to understand and understand to some extent thanks to my limited knowledge of Spanish on the one hand and Google Translator on the other.
Masat’s black and white photographs are so somber and so starkly contrasted that some of the images from the boxing ring dissolve into almost abstract shades of light and dark. Out of the black you can only see the muscle parts of the fighters. But overall, Masat and Aldecoa pursue the same idea of boxing matches that Joyce Carol Oates later formulated: „Each boxing match is a story – a unique and highly condensed drama without words.“ We experience the preparations, boxers concentrating before the fight, the Fighters in training and finally in the ring, in pain, exhaustion and suffering, with cuts in the face, and finally on the ground. KO After all, the knockout picture is also the last picture in the book, four helpers crouch around the flattened fighter, who doesn’t seem to get up again, probably a serious case. This final image is not softened or put into perspective by a winning photo of the opponent at the end. There is no sign of the winner, who was probably sent to the title-giving neutral corner. The picture is memorable, it is photographed oddly from above at an angle, you can’t really locate where the photographer was standing. And just as the opponent’s punch reverberates in the loser’s head, this image reverberates again: After the double-sided illustration, it is shown again on the following page in the size of a passport photo.
In general, the photographic part of this book is astonishing and unusually designed: the passport photo-sized repetition of a picture runs through the book, in some places the layout plays with picture negatives. As far as I can tell, an innovative book design concept for a coffee table book from the early sixties. Consequently, and not at all a matter of course, the two designers are named at the end of the book: Luis Clotet and Oscar Tusquets.
Aldecoa’s texts, which are divided into fourteen chapters, accompany and play around Masat’s pictures, but both parts are at least equal. It is a picture and reading book, neither of which would take precedence over the other. Aldecoa begins all of its chapters with mostly short, concise headings: La ley del péndulo, The King, Break !!!, Un minuto de paz, El Estratega, Narciso etc. The headings are always accompanied by appropriate classic quotes: “Tiempo de abrazar y tiempo de alejarse de abrazar” – Eclesiastes. Or: „El hombre que ha alcanzado la excelencia con sus punos.“ – Pindaro.
Aldecoa’s texts finally culminate in the penultimate, thirteenth chapter „Epitafio de un boxeador“: „The dead must be respected, but it was a good epitaph,“ says the end of the chapter about the dead boxer’s epitaph.
„Neutral Corner“ is a small, impressive masterpiece of boxing literature, a gem and also a deeply interesting insight into the art of producing illustrated books in the early sixties.
In any case, I’ll soon be returning it to the university library in Passau so that the next ones can borrow it via interlibrary loan. Unless the library has a small budget left over to restore and rebind the book.