EREN beim DOK.fest in München

Deutschland 2023 – Regie: Maria Binder

„In Halfeti wurden 51 Männer, Frauen und Kinder festgenommen. Sie wurden dem Dezernat der Terrorbekämpfung überstellt. Unsere Klägerin trug nur ihren Schlafanzug. Sie brachten Stromkabel an ihren Brustwarzen an.“ Dann folgt die detailgenaue Schilderung ihrer Folterung und Demütigung durch die Polizei. Die Anwältin Eren Keskin diktiert diese Ausführungen für den Schriftverkehr. Keskin ist seit über 30 Jahren in der Türkei als Anwältin und Aktivistin tätig. Sie setzt sich gegen Folterungen, sexualisierte Gewalt durch Behörden, für Pressefreiheit, Rechte von Frauen und für Vergewaltigungsopfer ein. Sie hat dafür Organisationen gegründet, war Vorsitzende eines türkischen Menschenrechtsvereins. Die türkische Regierung sieht in ihr seit Langem eine Staatsfeindin, unzählige Verfahren wurden gegen sie eingeleitet, um sie einzuschüchtern. Doch sie ließ sich nicht einschüchtern, auch wenn ihr jederzeit die Verhaftung droht. Das System fühle sich jetzt gestört, sagt sie.

Einst war sie die Anwältin Öcalans – daraufhin kam es zu Mordaufrufen gegen sie, monatelang war sie dem Hass der Menschen ausgesetzt. Immer wieder organisiert sie Kundgebungen, gedenkt der Menschen, die Opfer des Systems wurden, oder die heute noch inhaftiert sind. Um sie herum landen immer wieder Bekannte und Freunde von ihr im Gefängnis, sie selbst rechnet jederzeit damit, dass sie auch inhaftiert wird. 143 Verfahren laufen gerade gegen sie, jederzeit könnte es zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe kommen. Inzwischen machen Gerüchte über einen Haftbefehl gegen sie die Runde. Bei ihr zu Hause wird eingebrochen, Unbekannte hinterlassen einen Drohbrief. Sie hat ein Ausreiseverbot, ihre Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt. Selten kommt sie zur Erholung, immer wieder muss sie Schriftstücke, Protestnoten, vorbereiten, die Schilderungen von Opfern anhören. Kaum kommt sie zur Ruhe, Ausgleich findet Eren Keskin bei ihrer Familie, bei Freunden, bei ihrer betagten Mutter – und bei ihrer Katze.

Der Dokumentarfilmemacherin und Menschenrechtsaktivistin Maria Binder gelingt ein mitreißender und gleichzeitig bedrückender Dokumentarfilm über eine beeindruckende, mutige Frau. Eren Keskin gibt nicht auf, sie kämpft täglich einen Kampf gegen einen vermeintlich übermächtigen Riesen, den türkischen Staat. Es gibt jenen berührenden Augenblick zu der Zeit, als die Gerüchte über ihre Verhaftung die Runde machten, als sie sich mit Freundinnen zusammensetzte und für kurz beinahe glücklich, entspannt und ruhig wirkte. Sie lässt sich ein Kleid entwerfen, sie kochen, essen und trinken zusammen. Aber schnell nehmen die heiteren Gespräche wieder düstere Wendungen. Wenige Tage vor der Wahl in der Türkei besitzt dieser Film heute eine brennende Aktualität. Die Thematik des Films wird aber irgendwann noch breiter: Es geht um Xenophonie und es geht um Kurdistan und um den Genozid an Armenier*innen.
Sehenswert.

Autor*in: Maria Binder. Kamera: Meryem Yavuz. Ton: Maria Binder (O-Ton), Dominik Avenwedde (Sound Design & Mischung). Schnitt: Angelika Levi. Musik: Claudia Fierke. Produktion: Film Five GmbH. Produzent*in: Florian Schewe & Maria Binder. Länge: 95 min.

Biografie

Maria Binder ist eine deutsche Dokumentarfilmemacherin und Menschenrechtsaktivistin. Sie entwickelt Inhalte für den Bildungs- und Kulturbereich. Schwerpunkte ihrer dokumentarischen Arbeit sind Menschenrechte, Gender und (Anti-)Rassismus.

Filmografie

TRANS X ISTANBUL, DE 2014, 100 Min.

WHO ARE YOU TO SPEAK?, DE 2006, 64 Min.

HOPE IN MY HEART: THE MAY AYIM STORY, DE 1997, 28 Min.

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