Das MAKK, das Museum Für Angewandte Kunst in Köln zeigt seit Ende August bis zum 28. Januar 2024 das Werk des Fotografen Horst H. Baumann unter dem Titel „Apropos Visionär. Der Fotograf Horst H. Baumann“. Der opulente Katalog dazu ist bei Steidl erschienen.
Als nimmermüde, hyperaktiv, neugierig, experimentierfreudig, wandelbar und technikaffin charakterisiert der Herausgeber Hans-Michael Koetzle den Fotografen Horst H. Baumann. Und: als Ikonoklast, als Bilderstürmer. Baumann wurde 1934 in Aachen geboren, lebte später in Düsseldorf, war noch keine 20 als er die ersten Fotos veröffentlicht hatte, bald folgten Publikationen in Zeitschriften wie twen, Du, magnum, im Stern oder in internationalen Publikationen wie Town oder Holiday. Zwischen 1955 und 1965 gehörte er zu den namhaftesten und innovativsten deutschen Fotografen, gemeinsam mit Thomas Höpker, Erwin Fieger, Christa Peters und anderen. Von allen war Baumann der Umtriebigste. Er war Autodidakt wie so viele seiner Generation, interessiert sich für soziale Themen, experimentiert mit Schwarzweiß, mit Schärfe und Unschärfe, mit Bewegung, mit gewagten Bildausschnitten und -kompositionen. Kinder, der Jahrmarkt, Karneval – aber auch die Welt der Arbeit gehören zu seinen Motiven. Immer mehr wechselte er auch zur Farbfotografie – für künstlerisch tätige Fotografen jener Zeit eher die Ausnahme: „New Color“.
Mit 30 zeigte ihn das Moma in New York als Teil der Ausstellung „The Photographer’s Eye“, 1977 erklomm er den deutschen Olymp der Kunst und war mit einer Laser-Licht-Skulptur auf der sechsten Documenta vertreten. Mit seinem Motorsportbuch voller außergewöhnlicher Farbfotografien – „Die neuen Matadore“, das 1965 erschienen war, machte er sich spektakulär einen Namen als Fotograf des Rennsports, aber vom Dokumentarischen bewegte er sich immer mehr ins Künstlerische, mit multimedialen Projekten, Laserkunstwerken. Baumann war, so Koetzle, „fotografierender Autor, Bildreporter, Fotodesigner“ – Kalender, Poster, sogar Möbel entwarf er. In der Werbung war er aktiv, entwarf für die photokina, für die Weltausstellung in Osaka im Jahr 1970, für die Ruhr-Expo. Umso überraschender ist es eigentlich aus heutiger Sicht, dass er schließlich, als er 2019 starb, als Fotograf bereits weitgehend vergessen war.
Hans-Michael Koetzle erweckt die Erinnerungen an Naumanns Zeitschriftenreportagen, etwa die Arbeiten in der Jugendzeitschrift „Aufwärts“, aus „Jugend sieht die Zeit“, die Greco-Reportage aus „twen“, er entdeckt seine Arbeiten aus „Du“ und aus „Kristall“ wieder – beeindruckende Funde. Sowohl die Schwarzweißaufnahmen als auch die Farbbilder sind in ihrer Komposition und in ihrer Zusammenstellung so beeindruckend, dass man sich fragt, wie es passieren konnte, dass Baumann nicht auch heute noch zu den bedeutendsten Fotografen der Nachkriegszeit zählt. „Dass er nun als solcher“ – als Fotograf, schreibt Koetzle – „wiederentdeckt wird, ist – ganz ohne Ironie – die verdiente Würdigung eines Kreativen, der letztlich doch mit der Kamera ein singuläres Werk geschaffen hat.“
Große leere Flächen, wenige strukturierende Linien, Brachen – das fotografische Experiment steht noch etwas im Vordergrund der frühen Schwarzweißaufnahmen aus den 50ern, das Instrumentarium des Wirtschaftswunders ist zu entdecken: Kräne, Baustellen, Fördertürme; Koetzle hat spannende Exemplare von Baumanns Fotografien ausgewählt. Allmählich rückt der Mensch als Individuum in den Vordergrund – Kinder zum Beispiel, wie in „Zwei Kinder“ aus dem Jahr 1952, zwei Mädchen ziehen ein Wägelchen mit Kisten durch die Straße, im Hintergrund eine Backsteinwand und eine Gaslaterne. Schon früh arbeitet Baumann mit recht modernen Mitteln der Straßenfotografie – Personen mit eigentlich nicht zusammenhängenden Bildobjekten zu verknüpfen – etwa jenem unbetitelten Bild aus den 50ern, in dem eine Frau am linken Bildrand gerade ihr Fahrrad am Straßenrand abgestellt hat, eine große schwarze Häuserwand nimmt flächig den Mittelteil des Bildes ein, frühe Graffitis sind zu erkennen, ein vielleicht von Kindern gemalter Kopf, aber auch eine erstaunlich künstlerisch wirkende schwarze, bedrohliche Gestalt mit Hut – ins Auge fällt aber vor allem das mosaikartig aufgebrachte vierfache CDU-Werbeplakat. Sehr frisch und modern wirkt das, wie Baumann all diese Elemente verbindet.
An britische Vorbilder des sozialen Realismus der englischen Arbeiterstädte erinnert mich jenes wiederum unbetitelte Bild aus den 1950er Jahren, mit vier Personen und einem Hund. Eine lächelnde ältere Frau, ein Junge mit Hund auf dem Schoß, er als einziger sieht in die Kamera, zwei rauchende Männer in Anzügen. Eine zufällige Figurenkombination, die uns mehr Rätsel aufgibt als erzählt. Und Rätsel, Ungelöstes sind oft die Elemente, die die Wirkung von Straßenfotografien ausmacht.
Zwischen großartigen Fotografien von Kindern, zum Beispiel auf der Kirmes, taucht dann völlig überraschend ein Bild mehrerer Personen von hinten aufgenommen auf, wir sehen nur Teile der Menschen und betrachten fasziniert ein zufällig entstandenes Linienspiel auf dem zerknitterten Rock einer Frau. Wir sehen noch das Muster des Leders ihrer Handtasche und die Spitze ihres Regenschirmes. Auch dies ist wieder unglaublich modern – die Herausarbeitung von Zufallskunst, von kleinen subtilen Entdeckungen im Alltag.
Einen beinahe witzigen Vorgeschmack auf seine späteren Autorennfotografien liefert „Am Karussell“ aus den 50ern: Kinder schauen fasziniert auf ein Karussell, das aber nur am Bildrand zu erkennen ist – und zwar in Form eines Kindermotorrads, das samt Fahrerin in der Bewegungsunschärfe an uns vorbeirauscht – fotografische Erzähltechniken, die Baumann später wieder aufgreifen wird. Überhaupt zeigen die engen Bildausschnitte seiner Fotos, die angeschnittenen Personen und Objekte, die Verknüpfung unscharfer Vordergründe mit Hintergründen, die Komposition mittels Linien und Flächen Erzählweisen, die sehr modern und wirkungsvoll sind. Baumann erzählt die Bilder nicht zu Ende, überlässt vieles dem Betrachter, bindet ihn damit in die Rezeption seiner Werke ein.
Dasselbe gilt auch für seine Bergbaureportage aus dem Jahr 1954, wo er ganz nah an den Arbeitern ist, die zum Teil unscharf im Vordergrund sind, im Dunkel nur angedeutet, mit überraschenden Schärfesetzungen und Bildausschnitten, expressionistischen Perspektiven. In der Serie „Stahl“ (vor 1960) kommt dann zu alldem etwas überraschend bereits die Farbe hinzu – denn beinahe sind diese Bilder trotz Farbe monochrom: Der gelbe (manchmal noch leicht rötlich) glühende Stahl, die gelben sprühenden Funken sind farbbestimmend, es gibt keinerlei kalte Farben, selbst im Andreaskreuz und Warnampel auf dem Werksgelände sind diese Farben bestimmend.
Wieder zurück beim Schwarzweiß macht Baumann 1961/62 Fotografien der frisch gebauten Berliner Mauer. Auch dies ist außergewöhnlich modern erzählt: mit senkrechten und waagerechten Linien beinahe abstrakt strukturierte Bilder, unterbrochen von graphischen Elementen in Form von Schildern und Schriften, Grenzsoldaten sind an den Rand oder in den unscharfen Hintergrund gerückt.
Es folgen Bilder von Italien-, Frankreich- und Spanienreisen, Baumann interessiert sich für einen kalabrischen Kindergarten, beeindruckend inszeniert, liebevoll fotografiert, man findet aber auch Andeutungen von Gefängnisalltag in diesen Bildern. In Frankreich irgendwo, Dorf oder Kleinstadt, zeigt uns Koetzle dann wieder eines jener Baumann-Fotos, das durch die Verbindung unzusammenhängender Bildobjekte so unglaublich narrativ wir: Im Vordergrund – angeschnitten und in Bewegungsunschärfe, ein Junge mit Franzosenhut, einen Holzwagen hinter sich herziehend, im Hintergrund wird unser Blick zuerst auf einen Motorradfahrer gelenkt, dann auf ein schwarzes Pferd, das in ein Ladengeschäft hineinsieht, und schließlich auf mehrere Fußgänger im Hintergrund. Die Diagonale führt unseren Blick und wir beginnen uns unsere eigene Geschichte zu diesem Bild zu erzählen.
Es lässt sich noch so viel erzählen, Bilder Prominenter, Jane Fonda, Juliette Greco, Ursula Andress, Tanzbilder, Boxbilder, Bilder einer USA-Reise, schließlich die meisterhaften Bilder der Autorennen, die Baumann in einem Buch zusammengefasst hat, „Die neuen Matadore“, das 1965 erschienen ist.
Christoph Wielands Aufsatz „Eine Archäologie fotografischer Karrieren“, die ausführliche Vita Baumanns und die Bibliographie runden das Buch ab. „Apropos Visionär“ gelingt damit die fotografische Neuentdeckung des Jahres und ist für mich eines der wichtigsten und am liebevollsten gestalteten Fotobücher, denen ich in diesem Jahr begegnet bin.
APROPOS VISIONÄR. DER FOTOGRAF HORST H. BAUMANN.
Herausgegeben von Hans-Michael Koetzle
Steidl
336 Seiten, 317 Abbildungen
Fester Einband
23 x 29.4 cm
Deutsch
ISBN 978-3-96999-174-9
1. Auflage 03/2023
€ 48.00 inkl. MwSt.
https://steidl.de/Buecher/Apropos-Visionaer-Der-Fotograf-Horst-H-Baumann-0110244749.html
Zur Ausstellung im Kölner Museum für Angewandte Kunst: