Berliner Kinos zeigen im Oktober und November die Filme aus den befreiten KZs und Filme, die 1945/46 in Berliner Kinos liefen

Schon wenige Wochen nach Kriegsende sah das deutsche Kinopublikum die erschreckenden Bilder, die alliierte Kameraleute bei der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager gemacht hatten. Ziel war es, die Massenverbrechen so genau wie möglich zu dokumentieren. In Berlin lief ab August 1945 der Film Maidanek, im September die Dokumentation Auschwitz und ab März 1946 Die Todesmühlen.

Die von Frederik Lang kuratierte Filmschau „Zwischen Kriegsende und Neuanfang. Die Kinokultur der Alliierten in Berlin 1945/46“ rekonstruiert historische, aus Wochenschau, Kulturfilm und Hauptfilm bestehende Programme, die in dieser Zeit des Übergangs zu sehen waren und führt die unterschiedlichen, film- und kulturpolitischen Ansätze der vier Besatzungsmächte vor Augen. Ebenso erinnert sie daran, dass die Kinos der Nachkriegszeit zugleich Orte der Unterhaltung, der Zuflucht und des Lernens waren und dem Publikum als bitter nötiges Fenster in die Welt dienten.

ZEUGHAUSKINO – Samstag 28. Oktober 2023 19.00 Uhr Bilder aus den befreiten Konzentrationslagern
Maidanek – Friedhof Europas (SU/PL 1944), 15‘ · 35mm, DF
Auschwitz (SU 1945), 21‘ · 35mm, DF
Die Todesmühlen (US/D (West) 1945), 22‘ · 35mm, DF

Bei der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager dokumentierten alliierte Kamera-Einheiten die Massenverbrechen so genau wie möglich. „Bilder, so die Hoffnung, könnten der Welt besser als Worte Eindrücke vom ansonsten kaum Vorstellbaren vermitteln“, stellt Ulrike Weckel dazu fest. Im Unterschied zum restlichen Deutschland konnte die Berliner Bevölkerung im ersten Jahr nach dem Krieg gleich drei aus diesen Aufnahmen montierte Filme sehen: In der ersten Augustwoche 1945 lief im Marmorhaus zweimal täglich der sowjetisch-polnische Film Maidanek. Mitte September startete der sowjetische Filmverleih Sojusintorgkino in 30 Berliner Kinos Auschwitz. In der letzten Märzwoche 1946 brachte schließlich die amerikanische Militärregierung in allen 51 Kinos ihres Sektors den Film Die Todesmühlen zur Aufführung, der anders als seine auf einzelne Orte fokussierten Vorgänger Aufnahmen aus verschiedenen Lagern – die teils auch in Maidanek und Auschwitz zu sehen sind – zu einer Narration verbindet. (fl)

Einführung und Gespräch: Ulrike Weckel, Professorin für Fachjournalistik Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Autorin des Buches Beschämende Bilder. Deutsche Reaktionen auf alliierte Dokumentarfilme über befreite Konzentrationslager (2012).

DIE FILMREIHE
Zwischen Kriegsende und Neuanfang.
Die Kinokultur der Alliierten in Berlin 1945/46

Weitere Vorstellungen der Filmreihe finden nicht nur im Zeughauskino, sondern auch an „Originalschauplätzen“ im Kino Krokodil und im Bundesplatz-Kino statt, die bereits 1945/46 unter den Namen Nord-Lichtspiele und Lichtspiele am Kaiserplatz ihr Publikum unterhielten.

KINO KROKODIL – Sonntag 29. Oktober 2023 17:30 Uhr
Lustige Burschen
Regie: Grigorij Aleksandrow
Sowjetunion 1934, 96 min, 35mm, russische Originalfassung mit deutschen UT
VORPROGRAMM:
Der Augenzeuge Nr. 6 D (Ost) 1946, 16‘, 35mm

Seuchengefahr D (Ost) 1946, 13‘, 35mm

Geradezu überrascht zeigen sich die Berliner Presse wie auch das Publikum von Grigorij Aleksandrows überschäumender Musikkomödie um einen naiven Hirten auf der Krim. Friedrich Luft schreibt dazu am 28. Dezember 1945 im Tagesspiegel: „Den lieben Unfug so turbulent betrieben zu sehen, hatte man in einem Russenfilm wohl zuallerletzt erwartet. Aber siehe, das verstehen sie auch.“ Und sein Kollege in der Neuen Zeit ergänzt: „Das Publikum folgte willig diesem modernen Märchen, lachte und lachte, um dann leichter und gelöster über die verregneten Straßen wieder dem Alltag entgegenzustreben.“ Seuchengefahr (R: Hans Cürlis), eine der frühesten deutschen Nachkriegsproduktionen, warnt vor den tödlichen Gefahren von Infektionskrankheiten in hygienisch schwierigen Bedingungen der Nachkriegszeit.

ZEUGHAUSKINO – Montag 30. Oktober 2023 19.00 Uhr
Les visiteurs du soir / Satansboten
(FR 1942), R: Marcel Carné, D: Jacques Prévert, Pierre Laroche, K: Roger Hubert, D: Arletty, Alain Cuny, Marie Déa, Jules Berry, 120‘ · 35mm, OmU
VORPROGRAMM:
Welt im Film Nr. 66 (D (West) 1946), 13‘ · 35mm, OF

In Form einer mittelalterlichen Allegorie inszenierte Marcel Carné während der deutschen Besetzung Frankreichs eine Liebesgeschichte über einen Pakt mit dem Teufel. Doch „Carnés Teufel verweist weniger auf den fremden, verhassten deutschen Besatzer als auf den verführerischen, gefährlichen französischen Kollaborateur“ (Heike Klapdor). Les visiteurs du soir war in Frankreich einer der erfolgreichsten Filme jener Jahre und wurde auch von der Berliner Presse sehnsüchtig erwartet. Aber „es ist so eine Sache mit den Werken, die einmal Manifestation des inneren Widerstandes gegen Unterdrückung und Tyrannei gewesen sind. Was einst die Herzen höher schlagen ließ, als die Lippen verschlossen bleiben mußten, ist als Erlebnis anders in die Erinnerung eingegangen, als wir es heute auf uns wirken lassen können“ (Berliner Zeitung, 21.8.1946). Uneingeschränkt wird in der Presse hingegen die künstlerische Umsetzung gelobt.

Die Welt im Film zeigt unter anderem wie der kanadische Ministerpräsident die Ruinen der Reichskanzlei besichtigt, den Flossenbürg-Prozess und den Wiederaufbau des kriegszerstörten Klosters Monte Cassino. (fl)

ZEUGHAUSKINO – Dienstag 31. Oktober 2023 19.00 Uhr
Eine musikalische Geschichte
(SU 1940), deutsche Synchronfassung von 1945, 83‘ · 35mm

VORPROGRAMM:
Der Augenzeuge Nr. 2 (D (Ost) 1946), 16‘ · 35mm, OF
Fleckfieber droht! (D (West) 1946), R: Hans Cürlis, 9‘ · 35mm, OF

Unter den ersten russischsprachigen Filmen, die im Sommer 1945 in den Berliner Kinos gezeigt werden, befindet sich auch die musikalische Komödie Musykalnaja istorija, die von einem verliebten Taxifahrer (Sergej Lemenschew) handelt, der zum gefeierten Tenor aufsteigt. Der aus Wien stammende Exil-Regisseur Herbert Rappaport (einst Assistent von G.W. Pabst) orientierte sich stilistisch an Hollywood- und Ufa-Produktionen. Wie viele andere Filme, die beim Berliner Publikum bereits in der Originalfassung gut angekommen waren, wurde auch Musykalnaja istorija deutsch synchronisiert und schließlich unter dem Titel Eine musikalische Geschichte zu Weihnachten 1945 in die Kinos gebracht. Monatelang lief er mit Erfolg: „Die Filmhandlung ist eine Art Weihnachtsbaum, der erst durch die schmückenden und genüßlichen Dinge, die an ihm hängen, Reiz gewinnt. Es wird herrlich musiziert. Der Tenor Lemenschew, einer der Besten der Moskauer Oper, nimmt die Gelegenheit wahr, zu singen, wenn er sich rasiert, wenn er sein Auto lenkt, wenn er mit seiner Liebsten Kahn fährt und – natürlich – in der großen Oper, wo der ehemalige Chauffeur sein sensationelles Debüt feiert“ (Florian Kienzl, Der Kurier, 27.12.1945).

Fleckfieber droht!, eine der frühesten deutschen Nachkriegsproduktionen, warnt vor den tödlichen Gefahren des Fleckfiebers. Der Augenzeuge zeigt unter anderem die Arbeit im Haupternährungsamt Berlin, Eindrücke aus Samarkand in der usbekischen Sowjetrepublik sowie das Februar-Programm der Neuen Scala im amerikanischen Sektor. (fl)

Mit einer Einführung von Barbara Wurm, Slawistin, Autorin, Kuratorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Promotion zum sowjetischen Kulturfilm der 1920er-Jahre. Publikationen u.a. zu Gerbert Rappaport und Dziga Vertov. Seit 2023 Leiterin des Berlinale-Forums.

ZEUGHAUSKINO – Samstag 4. November 2023 20.00 Uhr
The Wicked Lady / Die Frau ohne Herz
(GB 1945), R: Leslie Arliss, B: Doreen Montgomery, K: Jack Cox, D: Margaret Lockwood, James Mason, Patricia Roc, 104‘ · 35mm, OF
VORPROGRAMM:
Welt im Film Nr. 71 (D (West) 1946), 12‘ · 35mm, OF
Dob, der Stallhase (D (West) 1945), R: Serge Sesin, 5‘ · 35mm, OF

Aus Langeweile wird eine spiel- und abenteuerlustige Schlossherrin zur Straßenräuberin und Geliebten eines Banditen. Insbesondere als verruchte Lady „traf Margaret Lockwood den Nerv der ’neuen Frau‘, die aus den Disziplinen eines langen Krieges hervorging“, formuliert etwa die Filmpublizistin Margaret O’Connor: „Sie lieferte ihrem weiblichen Publikum ein fantastisches role model für die unmittelbare Nachkriegszeit.“ Mit dem turbulenten Kostüm- und Liebesfilm The Wicked Lady – in Großbritannien der erfolgreichste Film des Jahres 1946 – feiern die britischen Kulturoffiziere in Berlin am 11. Oktober 1946 nach Renovierungsarbeiten in der Filmbühne-Wien „die Wiedereröffnung ihres neu ausgestatteten Theaters mit einer Festvorstellung“, heißt es am 15. Oktober im Neuen Deutschland. „Zunächst lief die Wochenschau Welt im Film Nr. 71 mit dem „Urteil von Nürnberg“. Die Leinwand zeigte mahnend noch einmal die angeklagten Hauptkriegsverbrecher, denen ein ganzes Volk in den Abgrund gefolgt war.“

Im Vorprogramm läuft mit Dob, der Stallhase der erste nach Kriegsende entstandene deutsche Animationsfilm, eine Allegorie auf die NS-Zeit. (fl)

Mit einer Einführung von Michael Omasta, Filmredakteur der Wiener Wochenzeitung Falter und redaktionelle Mitarbeit bei der die Filmreihe begleitenden Publikation Befreite Leinwände. Kinopolitik und Filmkultur in Berlin 1945/46.

BUNDESPLATZ-KINO – Sonntag 5.11.2023 15:30 Uhr
The Gold Rush
(US 1925/1942), R/B/M: Charles Chaplin, K: Roland Totheroh, D: Charles Chaplin, Georgia Hale, Mack Swain, 73‘, englischsprachige Tonfassung von 1942 DCP
VORPROGRAMM
Welt im Film Nr. 33 (D (West) 1945, 20‘ · 35mm, OF
Der verliebte Kater (US 1944), Animation, 7‘ · Digital

Als in Alaska Gold gefunden wird, macht sich auch der Tramp auf den Weg. Dort muss er sich nicht nur mit Schnee und Eis, sondern auch mit Halunken, Glücksrittern und zähem Schuhwerk herumschlagen. Die amerikanischen Kulturoffiziere notieren am 21. September 1945 in ihrem Wochenbericht: „Die acht Filmtheater machen nach wie vor ein optimales Geschäft, mit den längsten Schlangen bei Goldrausch. Die Leute stellen sich bereits mittags an, um in die 17-Uhr-Vorstellung des Chaplin-Films zu kommen.“ Für viele ist es ein Wiedersehen mit einem lange vermissten Star, der seinen Stummfilmklassiker Goldrush 1942 in einer überarbeiteten Tonfassung mit Kommentar und Musik neu herausgebracht hatte: „Als nach dem Ersten Weltkrieg die ersten Filme des damals schon weltberühmten Charlie Chaplin zu uns kamen, hatten wir eine umwerfende künstlerische Entdeckung nachzuholen. Wenn Chaplin jetzt, abermals nach einer mörderischen Zäsur, aufs neue für Deutschland entdeckt werden muß, so ist die Beglückung noch größer“ (Berliner Zeitung, 15.9.1945). (fl)

Mit einer Einführung von Frederik Lang, Filmhistoriker, Mitglied von Cine-Graph Babelsberg und Redakteur der Zeitschrift Filmblatt . Autor von Hartmut Bitomsky. Die Arbeit eines Kritikers mit Worten und Bildern (SYNEMA Wien 2020). (Co-)Kurator zahlreicher Retrospektiven und Mitherausgeber von Begleit-Publikationen, wie zuletzt eben Befreite Leinwände zur Reihe „Zwischen Kriegsende und Neuanfang“.

ZEUGHAUSKINO – Montag 6. November 2023 19.00 Uhr
The Seventh Veil / Der letzte Schleier
(GB 1945), R: Compton Bennett, B: Muriel Box, Sydney Box, K: Reginald Wyer, D: James Mason, Ann Todd, Herbert Lom, Albert Lieven 94‘ · 35mm, OF

VORPROGRAMM:
Welt im Film Nr. 54 (D (West) 1946), 13‘ · 35mm, OF
V1 (GB 1944), 8‘ · Digital HD, OF

Endlich ein Hit! Mit der melodramatischen Geschichte einer berühmten Konzertpianistin, die von Angst gepeinigt wird und erst durch eine psychoanalytische Behandlung zurück ins Leben findet, feiert der britische Filmverleih seinen größten Erfolg. 200.000 Besucher sehen den Film allein im Marmorhaus. Für Friedrich Luft ist es „ein sehr gelungenes Beispiel da-für, wie man mit Freuds Hilfe ein ganzes Seelenleben auch bildlich freilegen kann“ (Tagesspiegel, 6.6.1946). James Mason, hier „der dämonische, humpelnde, starr liebende Kontrapunkt“, wird damit zum ersten internationalen Filmstar im Nachkriegsberlin, zusammen mit seinen Auftritten in The Man in Grey, Fanny by Gaslight und The Wicked Lady. Und die Weltpresse (15.11.1946) lobt „die außerordentliche Atmosphäre, die der Regisseur Compton Benett mit dieser klinischen Studie zweier bizarrer Figuren geschaffen hat, der Künstlerin und des Mannes, der sie als Sonderling zu ihren Höhen emporführt. Ann Todd spielt diese Francesca mit wahrer Musikalität auf dem langen Weg vom Kind über das Mädchen bis zur Frau. Kein Filmstar, sondern eine beseelte, mit ihren Mitteln sparsame Schauspielerin, die aus einer etwas starren, kalten Rolle den menschlichen Funken schlägt.“

Der bereits während des Krieges entstandene Vorfilm V1 zeigt die Folgen der deutschen Luftangriffe auf Großbritannien mit V1-Raketen, die Welt im Film unter anderem die Gemeindewahlen in 40 Städten des amerikanischen Sektors, die Wiederaufnahme des zivilen Flugverkehrs zwischen New York und Berlin sowie eine Schiffstaufe durch die britische Prinzessin Elisabeth. (fl)

Mit einer Einführung von Brigitte Mayr, wissenschaftliche Leiterin von SYNEMA – Gesellschaft für Film und Medien (Wien) und redaktionelle Mitarbeit bei der die Filmreihe begleitenden Publikation Befreite Leinwände. Kinopolitik und Filmkultur in Berlin 1945/46.

Spielorte:

Kino Krokodil (im Kulturhof OST e.V.) * Greifenhagener Str. 32 * 10437 Berlin
Zeughauskino * Deutsches Historisches Museum – Pei-Bau * Hinter dem Gießhaus 3 * 10117 Berlin
Bundesplatz-Kino * Bundesplatz 14 * 10715 Berlin

Weitere Details und Tickets:

https://www.dhm.de/zeughauskino/filmreihe/zwischen-kriegsende-und-neuanfang/

und

und

http://www.bundesplatz-kino.de/

DAS BUCH ZUR FILMREIHE

Befreite Leinwände. Kinopolitik und Filmkultur in Berlin 1945/46.
Herausgegeben von Frederik Lang

Mit Beiträgen von Hanja Dämon, Patrick Holzapfel, Heike Klapdor, Frederik Lang, Brigitte Mayr, Albert Meisl, Wolfgang Mühl-Benninghaus, Michael Omasta, Michael Pekler, Tilman Schumacher, Philipp Stiasny, Gary Vanisian, Ulrike Weckel, Anett Werner-Burgmann und Barbara Wurm

Broschur, 256 Seiten, 100 Fotos in Farbe + s/w
SYNEMA-Publikationen (Wien) 2023
ISBN 978-3-901644-94-8; Preis: 28.-

Erhältlich im niedergelassenen Buchhandel oder Bestellungen auch direkt bei: office[at]synema.at

[PRESSETEXT]

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