BEFREITE LEINWÄNDE im Synema-Verlag

„Der Hunger nach Bildern war immens: Nach anderen Bildern als denen der Wirklichkeit mit Trümmern, Zukunftsangst und Not, und den entweder als Besatzer oder Befreier empfundenen sowjetischen Soldaten, deren Anwesenheit den Alltag prägte.“ Der Filmhistoriker Frederik Lang, Herausgeber des Buchs „Befreite Leinwände – Kinopolitik und Filmkultur in Berlin 1945/46“, beginnt mit dieser Zustandsbeschreibung jener bisweilen „Stunde Null“ genannten Epoche nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Im Lauf der gut anderthalb Jahre, um die es in dem Buch geht, bilden sich die Sektoren in Berlin und in Deutschland, und diese Aufteilung führt zu einem erstaunlichen Ergebnis, was die Kino- und Filmlandschaft in Berlin angeht. Die Besatzungsmächte, schreibt Lang, wetteiferten geradezu um die jeweilige Qualität des Kinoprogramms und der Filmvielfalt. Die Sowjets, die Franzosen und die Briten belieferten die sehr schnell in großer Zahl wiedereröffnenden Kinos, ältere Filme aus dem Repertoire und neuere Filme, zunächst noch nicht synchronisiert, waren auf den Leinwänden zu sehen.  Aber auch deutsche Produktionen kamen in die Kinos – einerseits als unverfänglich eingestufte Produktionen aus der Nazizeit, und ab Herbst 1946 schließlich die ersten deutschen Nachkriegsproduktionen der DEFA, zuallererst „Die Mörder sind unter uns“, der am 15. Oktober 1946 seine Premiere feierte. Diese Aktivitäten führten zu einer – selbst in Europa – einzigartig großen Filmauswahl, allenfalls noch mit der im ebenfalls in vier Sektoren aufgeteilten Stadt Wien vergleichbar.

In dieser Vielfalt ist das Buch verortet. Es liefert Erkenntnisse über eine Zeit, die für viele wenig bekannt ist – was passierte in der Berliner Film- und Kulturlandschaft in der Zeit nach Kriegsende bis hin zur sich bereits am Horizont andeutenden Konfrontation zwischen der Sowjetunion und den Westalliierten. Der Filmprofessor Wolfgang Mühl-Bennighaus geht in seinem Aufsatz „Befreite oder besetzte Leinwände?“ der Kulturpolitik der Alliierten auf den Grund. Im amerikanischen Sektor etwa waren neben Wochenschauen oder dem KZ-Dokumentarfilm „Die Todesmühlen“ vor allem Hollywoodware der frühen Vierziger zu sehen, etwa „Der junge Tom Edison“ von Norman Taurog oder „Der Weg zum Glück“ von Leo McCarey. Tanzfilme, Komödien, Musikfilme, aber auch Chaplins „Goldrausch“ in der vertonten Version von 1942. Die Tageszeitungen berichteten bereits über das Filmangebot, Filmkritiker gab es aber noch wenige, der berühmteste war Friedrich Luft, der erst für die Allgemeine Zeitung und später für den Tagesspiegel schrieb.

Besonders interessant sind die Aufsätze, die die Rezeption  der einzelnen Spielfilme, die in Berlin gezeigt wurden, untersuchen. Michael Pekler schrieb über John Fords „The Hurricane“, den „Katastrophenfilm nach einer Katastrophe“, wie er es ausdrückt. Patrick Holzapfel untersucht „Iwan Grosny“, der von Wolfgang Staudte für das deutsche Publikum synchronisiert wurde. Philipp Stiasny schreibt über „It started with Eve“, der 1945 die „Neue Scala“ eröffnete, eine große Unterhaltungslocation am Nollendorfplatz, in der auch Kabarett, Tanz und Musik aufgeführt wurde. Besonders spannend ist Albert Meisls Analyse der Nachkriegswiederaufführung von Helmut Käutners „Große Freiheit Nr. 7“ von 1944 – „einer der schönsten Filme seiner Dekade“, meint er. Käutner hatte eine erstaunliche Freiheit beim Dreh des Films, über die Drehumstände ist aber wenig bekannt.

Patrick Holzapfel wiederum spekuliert beinahe poetisch anhand eines glücklicherweise überlieferten Fotos einer Aufführung von Charlie Chaplins „Goldrausch“ im Cosima-Filmtheater im Oktober 1945. Holzapfel beschreibt das Bild: „Diese Menschen, die auf dem Gehsteig stehen. Ihre leeren Augen. (…) Sie stehen so, als könnten sie es kaum erwarten, in die Dunkelheit des Saals zu verschwinden (…)“. Er lässt seine eigenen Kinoerlebnisse einfließen, von seinem Gefühl für das Gemeinschaftserlebnis von Kinobesuchen. Vom Lachen im Kino – und von der weitgehenden Abwesenheit des Lachens in diesem Bild. Ist das überinterpretiert? Vielleicht, das schließt Holzapfel selbst nicht aus, dennoch ist dieser poetische Aufsatz ein wertvoller Versuch, die emotionalen und psychologischen Hintergründe dieser Filmaufführung nachzufühlen.

Was „Befreite Leinwände“ neben den fundierten, spannenden, detailreichen Aufsätzen endgültig für mich zu einem der wichtigsten Filmbücher des Jahres macht, ist seine Bebilderung. Es gibt eine Vielzahl kino- und filmbezogener Bilder, die ich bisher nicht kannte: Neben dem eben benannten Foto von der „Goldrausch“-Aufführung gibt es Bilder von Schlangen vor Kinos mit Aufführungen von Filmen wie „Operette“, „Eine Nacht im Dezember“ oder „Professor Mamlock“. Da findet sich eine Vielzahl typografisch und gestalterisch beeindruckende Filmplakate von Filmen, die damals in Berlin gezeigt wurden: „Befreite Tschechoslowakei“, „Im Kampf ums Glück“, „Die Mörder sind unter uns“, „Bestimmung Tokio“ usw. Es gibt Filmhefte, Premiereneinladungen, Programmzettel, Zeitungsartikel, Anzeigen, Einladungen zu Pressevorführung. Genau diese Dokumente aus dem Film- und Kinoalltag dieser Zeit machen dieses Buch so faszinierend. „Der britische Filmverleih Berlin Information Control Unit und die Direktion des Marmorhauses geben sich die Ehre, Sie zur Uraufführung des Sydney Box-Ortus-Films ‚Der letzte Schleier‘ einzuladen“, steht in einer der abgedruckten Premiereneinladungen. Und wir erfahren noch organisatorische Details: „Die Eintrittskarten erbitten wir im Falle der persönlichen Verhinderung umgehend zurück.“ Wie gerne wäre ich damals bei einer Premiere oder auch nur bei einer Pressevorführung dabeigewesen… Die faszinierendsten Bilder sind für mich dann auch zweifelsohne jene drei Fotos von der Premiere von „Die Mörder sind unter uns“ im Admiralspalast. Die Bilder zeigen die Ankunft von Hildegard Knef und von Wolfgang Staudte.

Den Abschluss des Buches bildet dann Frederik Langs detailreich und liebevoll ausgestaltete Chronik über das Kino in Berlin vom Mai 1945 bis zum Oktober 1946. Lang wertet eine Unmenge an Quellen aus, wir erfahren, welche Filme wann und wo in welchen Kinos liefen, soweit das bekannt ist, wir lesen, wann welche Lichtspieltheater wieder im Betrieb waren, lesen kinorelevante Zitate aus Zeitungsartikeln, aus Leserbriefen und aus Tagebucheinträgen: „Wir sind losgezogen zum Babylon […]. Der Film war großer Käse.“

Mit „Befreite Leinwände“ ist Frederik Lang und seinen MitautorInnen ein großartiges Kinobuch gelungen, das viele Lücken im Wissen um die Berliner Film- und Kinolandschaft jener Zeit schließen kann. Es erscheint parallel zur von Frederik Lang kuratierten Filmreihe „Zwischen Kriegsende und Neuanfang. Die Kinokultur der Alliierten in Berlin 1945/46“, die eben jene Programme zu rekonstruieren sucht – zum Teil sogar in den heute noch existierenden Kinosälen aus jener Zeit. Die Filmreihe ist noch bis zum 6. November 2023 zu sehen:

Spielorte:

Kino Krokodil (im Kulturhof OST e.V.) * Greifenhagener Str. 32 * 10437 Berlin

Zeughauskino * Deutsches Historisches Museum – Pei-Bau * Hinter dem Gießhaus 3 * 10117 Berlin

Bundesplatz-Kino * Bundesplatz 14 * 10715 Berlin

Weitere Details und Tickets:

https://www.dhm.de/zeughauskino/filmreihe/zwischen-kriegsende-und-neuanfang/

Das Buch ist im Buchhandel zu bekommen oder direkt bei SYNEMA per Email unter office@synema.at .

Befreite Leinwände. Kinopolitik und Filmkultur in Berlin 1945/46.

Herausgegeben von Frederik Lang

Mit Beiträgen von Hanja Dämon, Patrick Holzapfel, Heike Klapdor, Frederik Lang, Brigitte Mayr, Albert Meisl, Wolfgang Mühl-Benninghaus, Michael Omasta, Michael Pekler, Tilman Schumacher, Philipp Stiasny, Gary Vanisian, Ulrike Weckel, Anett Werner-Burgmann und Barbara Wurm.

Broschur, 256 Seiten, 100 Fotos in Farbe + s/w
SYNEMA-Publikationen (Wien) 2023
ISBN 978-3-901644-94-8; Preis: 28.-

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