LITTLE FUGITIVE – der kleine Ausreißer (1953) ab 21. Dezember 2023 wieder im Kino

LITTLE FUGITIVE – der kleine Ausreißer (1953)

Joey und Lenny sind zwei Brüder, sie leben in Brooklyn, ihr Vater ist vor einiger Zeit gestorben. Lenny, der ältere, freut sich unbändig auf den Ausflug zu den Vergnügungsparks in Coney Island am kommenden Tag – doch da erfährt seine Mutter, dass die Großmutter sehr krank ist. Sie muss zu ihr reisen und damit fällt Lennys Ausflug aus, denn er muss zu Hause bleiben, um auf den kleinen Joey aufzupassen. Lenny ist stinkesauer, und so plant er gemeinsam mit seinen Freunden einen hinterhältigen Streich. Joey bekommt ein Gewehr zur Verfügung und die Jungs täuschen dann vor, dass er auf seinen Bruder geschossen hätte. Joey glaubt, er hätte Lenny erschossen. Panisch rennt er davon, schnappt sich das Geld, das ihnen ihre Mutter dagelassen hat und „flieht“ nach Coney Island, wo er sich in den Vergnügungsparks und am Strand verdingt – und darüber auch bald sein „Verbrechen“ erst einmal vergisst. Er fährt mit allerlei Karussells, mit diversen anderen Fahrgeschäften und freundet sich schließlich gar mit einem Ponyvermieter an, denn der kleine Joey liebt Pferde und Cowboys über alles. Doch irgendwann hat er all sein Geld für Reiten und Fahren ausgegeben. Am Strand stößt er auf einen Jungen, der ihn auf eine Idee bringt, womit er denn nun wieder Geld verdienen könnte. Doch dann naht die Nacht – und inzwischen hat Lenny auch entdeckt, dass sein Bruder verschwunden ist.

LITTLE FUGITIVE ist eine wundervolle, bezaubernde, einfach gestrickte Jungsgeschichte aus dem New York der Fünfzigerjahre. Mit einfachen Mitteln gedreht – mit einer Handkamera, der Ton wurde erst später hinzugefügt und mit Laiendarstellern besetzt zeigt er eine herzerwärmende Geschichte über Kindheit und über das selbständig werden in der Kindheit – ein kleiner Coming-of-Age-Film. Visuell sieht man ihm das fotografisch geschulte Auge (dazu gleich mehr) an, etwa die Szenen unter dem Boardwalk in Coney Island vergisst man nicht. In Deutschland kam der Film erst 1960 in die Kinos. Dass er nun wieder das Licht deutscher Leinwände erblickt, ist schlussendlich der Retrospektive der Berlinale zu verdanken, die den Film 2023 in der Reihe Young at Heart – Coming of Age at the Movies“ gezeigt hat, vor allem aber dem Regisseur Wes Anderson, der den Film für die Reihe ausgesucht hat.

Drei Personen stehen in den Credits als RegiseurInnen dieses Films: Ray Ashley, Morris Engel und Ruth Orkin. Ray Ashley (1911-1960) war Schriftsteller aus Brooklyn, Morris Engel (1918-2005) war Fotograf und Kameramann und später Ehemann der berühmtesten der drei, Ruth Orkin (1921-1985), die berühmte Fotografin. Orkin erhielt 1954 sogar den Drehbuch-Oscar für LITTLE FUGITIVE. Sie fotografierte viel für das LIFE-Magazin, bereiste die Welt für Reportagen, ihr Foto einer Amerikanerin in Italien gehört zu den Ikonen der Fotografie. Orkin fotografierte viele berühmte Musiker, erstellte ein viel beachtetes Fotoessay über jüdische Immigranten in den USA und fotografierte die Langzeitserie „A World Through My Window“, indem sie von ihrem Fenster aus hinaus die sich verändernde Stadt New York fotografierte. Zu ihrem 100. Geburtstag veröffentlichte Hatje Cantz den Bildband Ruth Orkin. A Photo Spirit.

Der Film beeinflusste in seiner Erzählweise einerseits Martin Scorsese, andererseits aber auch mit seiner Unmittelbarkeit die Nouvelle Vague, es gibt ein Zitat von Francois Truffaut über ihn: „Unsere Nouvelle Vague wäre ohne den jungen Amerikaner Morris Engel, der uns mit diesem tollen Film einen Weg zur unabhängigen Produktion gezeigt hat, niemals entstanden.“ Und in der Tat meint man in LITTLE FUGITIVE einige Motive und Stilmittel zu erkennen, die Truffaut sechs Jahre später in seinem LES QUATRE CENTS COUPS aufgegriffen hat.

LITTLE FUGITIVE ist also nicht nur ein wunderbarer Film, sondern eben auch ein wichtiges Werk der Nachkriegsfilmgeschichte. Ab 21. Dezember 2023 ist er im Verleih von Rapid Eye Movies in hoffentlich möglichst vielen Kinos zu sehen.

USA 1953 / 77 Minuten / Englisch / Format: 1:1.37 / Schwarz-Weiß / Originalfassung mit deutschen Untertiteln

CAST

Joey RICHY ANDRUSCO
Lennie RICHARD BREWSTER
Mutter WINIFRED CUSHING
Der Mann vom Ponyreiten JAY WILLIAMS

CREW

Regie: Ray Ashley, Morris Engel, Ruth Orkin
Drehbuch: Ray Ashley, Morris Engel, Ruth Orkin
Produzenten: Morris Engel, Ray Ashley
Kamera: Morris Engel
Schnitt: Ruth Orkin, Lester Troob
Musik: Eddy Lawrence Manson
Ton: Lester Troob

Produktion: LITTLE FUGITIVE Productions

PREMIEREN / AUFFÜHRUNGEN

USA: 6. Oktober 1953
Deutschland: 20. Mai 1960 unter dem Titel Der kleine Ausreißer
Berlinale 2023: Aufführung im Rahmen der Retrospektive Young at Heart – Coming of Age at the Movies“

AUSZEICHNUNGEN

Internationale Filmfestspiele von Venedig 1953: Silberner Löwe
Nastro d’Argento 1954: bester ausländischer Film
National Film Preservation Board 1997: Aufnahme ins National Film Registry

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