Der Bildband „Ernst Scheidegger. Fotograf“ bei Scheidegger & Spiess

Ernst Scheidegger ist Kunst- und Fotografieinteressierten vor allem als Verleger des Kunstbuchverlags bekannt, den er zunächst 1962 gründete – und der wiederum im Jahr 1997 gemeinsam mit Heiner Spiess wiedergegründet wurde und seither den Namen „Scheidegger & Spiess“ trägt. Außer als Verleger war Ernst Scheidegger in seinem Leben aber auch in unzähligen anderen Funktionen tätig: als Schaufensterdekorateur, als Soldat, als Maler, als Galerist, als Kameramann, als Hochschuldozent, als Bildredakteur, als Filmregisseur – und eben als Fotograf.

Aber kurz noch einmal zurück zum Anfang: Ernst Scheidegger wurde im Jahr 1923 in Rorschach im Kanton St. Gallen geboren – direkt am Bodensee. Er begann ganz unspektakulär eine Lehre als Schaufensterdekorateur beim Kaufhaus Jelmoli in Zürich, war 1943 als Soldat in Graubünden stationiert, begegnete schließlich Alberto Giacometti und betätigte sich 1944 selbst als Maler, bald auch als Fotograf. Ende der 40er Jahre war er dann Assistent unter anderem bei Werner Bischof. Im Folgenden gestaltete er unzählige Kunstausstellungen, reiste als Fotojournalist in etliche Länder, u.a. nach Holland, in die Tschechoslowakei, in den Nahen Osten, nach Indien und nach Südostasien. Alleine in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen ungefähr 200 Bildreportagen von ihm. 1971 bis 1992 war er Galerist, 1980 bis 1984 freier Filmregisseur beim Schweizer Fernsehen. 2016 starb Scheidegger in Zürich.

Zu Ernst Scheideggers 100. Geburtstag erschien nun – bei Scheidegger & Spiess – der Katalog zu seinem fotografischen Schaffen, das derzeit auch im Kunsthaus Zürich ausgestellt ist, ab Februar 2024 in Lugano im MASI, dem Museo d’Arte della Svizzera italiana. Die Texte im Buch sind von Tobia Bezzola, dem Direktor des MASI, von Philippe Büttner, Sammlungskonservator am Kunsthaus Zürich, von Alessa Widmer, Kunst- und Fotografiehistorikerin, sowie von Helen Grob, die 33 Jahre lang die Lebensgefährtin von Ernst Scheidegger war, bis zu dessen Tod.

Tobia Bezzola schildert in seinem Aufsatz „Vom fotografischen Frühwerk zu den Künstlerporträts“ von zwei tragischen Ereignissen im Jahr 1954, die dazu führten, dass Scheidegger seine Karriere als Fotoreporter u.a. für MAGNUM beendete: der Tod seines Freundes und Mentors Werner Bischof bei einem Autounfall in Peru und nur neun Tage später der Tod Robert Capas in Vietnam. Für den Job in Vietnam war ursprünglich Scheidegger akkreditiert gewesen. Scheidegger beendete daraufhin seine Tätigkeit für MAGNUM und wurde Professor an der Hochschule für Gestaltung in Ulm. Sein fotografisches Frühwerk nahm damit ein jähes Ende.

Das Buch zeigt einige der frühen fotografischen Arbeiten, vor allem aus den 40ern und den 50ern, darunter einige von der klassischen Straßenfotografie beeinflusste Arbeiten (zum Beispiel „Metzgerei in Süditalien“ aus dem Jahr 1948, oder „Place du Maroc, Paris“ um 1950, „Mann lugt in Zirkuszelt“ um 1949 – die Zirkusbilder sind voller schriller Komik und Bewegung). Aus der Reihe der Frühwerke sticht seine Verzascatal-Serie heraus. Es sind stille, graphische Landschaftsporträts und beeindruckende, erzählende Porträts, vor allem Kinderporträts.

Unter dem Titel „Der bildschöpferische Seher“ analysiert Alessa Widmer schließlich das fotografische Werk Ernst Scheideggers und seine künstlerische Entwicklung von den frühen Arbeiten, den Jahrmarktfotografien und Reportagen, bis hin zu seinen Künstlerporträts. Diese, die Künstlerporträts, begleiten Weggefährten Scheideggers in deren Ateliers, bei der Arbeit. Es sind tiefe, beeindruckende Blicke hinter die Kulissen der kreativen Tätigkeiten dieser Künstler – Georges Vantongerloo, Max Bill, Germaine Richier, Ernst Morgenthaler, Jean Tinguely, Hans Arp, Sophie Taeuber-Arp, Joan Miró, Salvador Dalí, Le Corbusier, Man Ray, Oskar Kokoschka, Marc Chagall, Max Ernst, Henry Moore und viele, viele mehr.

Philippe Büttner rückt schließlich jenen Künstler ins Zentrum, den Scheidegger fotografisch sehr lange und intensiv fotografisch begleitete: Alberto Giacometti. „C’est comme un reportage“, fasst Giacometti die Arbeiten Scheideggers über ihn zusammen, die dieser als kleines Büchlein zu veröffentlichen beabsichtigte. Der Künstler unterstützte ihn bei diesem Vorhaben.

Helen Grobs Text „Von Fischen und Freunden“ ist naturgemäß der persönlichste Teil dieses wunderbaren Buchs. Die langjährige Lebensgefährtin Scheideggers berichtet von gemeinsamen Angelausflügen im Zürichsee und woanders, vom Pilzesammeln im Klotener Wald, und von anderen Träumen, Plänen und Beschäftigungen Scheideggers: „Eine Mühle im Emmental wollte Ernst. (…) Eigentlich sehnte sich Ernst immer nach einer Höhle, in die er sich mit seiner Boxerhündin zurückziehen konnte.“

„Ernst Scheidegger. Fotograf“ wirft einen wunderbaren, mitreißenden Blick in das Werk dieses Künstlers, der mir, mein Fehler, bisher nur als Verleger bekannt war – für mich eine der großen Entdeckungen dieses Fotobuchjahres. Die Texte sind so vielfältig wie beeindruckend, besonders Helen Grobs Schilderungen bleiben natürlich in Erinnerung. Die Bildauswahl von Tobia Bezzola, Olivia Baeriswyl, Clemens Widmer und Thomas Kramer ist überzeugend gelungen. Bleibt noch das klassisch-schöne Buchdesign von Clemens Widmer zu loben.

ERNST SCHEIDEGGER. FOTOGRAF.
Herausgegeben von Stiftung Ernst Scheidegger Archiv
2023
Gebunden
248 Seiten, 12 farbige und 168 s/w-Abbildungen
23 x 30 cm
ISBN 978-3-03942-173-2

https://www.scheidegger-spiess.ch/produkt/ernst-scheidegger/1428

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