JOHATSU – INTO THIN AIR beim DOK.FEST München

Deutschland, Japan 2024 – Regie: Andreas Hartmann, Arata Mori – Originalfassung: Japanisch – Untertitel: Deutsch, Englisch – Länge: 86 min.

https://www.dokfest-muenchen.de/films/johatsu-into-thin-air

Tokio, Japan. Irgendein regnerischer Abend, 19 Uhr. Zwei Frauen sitzen im Auto und beobachten ein Haus. „Er“ sollte gleich rauskommen, meint die eine. Privatdetektivinnen? Die eine, Saita, scheint die Chefin zu sein. Da kommt „er“, der „Kunde“ plötzlich angerannt, weißes T-Shirt, Coronamaske, ein Beutel mit Sachen mit sich, das ist alles, was er dabeihat. Sein Gesicht ist für den Dokumentarfilm verpixelt worden. Er ist Herr Oda, auf ihn haben die beiden Frauen gewartet. Er steigt in den Wagen, sie fahren sofort los. Er könne nicht wieder zurück – jetzt sei er in Sicherheit, meint sie eine. Ständig schaut er sich um, ob sie verfolgt werden. Ob seine Freundin geahnt habe, dass er fliehen wollte. Und dann erzählt er seine Geschichte: Dass seine Freundin am Anfang nur etwas eifersüchtig gewesen sei. Nach dem Suizid ihrer besten Freundin sei sie psychisch instabil geworden. Dann hat sie ihn zu Hause eingesperrt. Und nun ist ihm die Flucht gelungen.

Eine krasse Szene, eine skurrile Szene. Wie aus einem Thriller. Ein Mann, der von seiner Freundin eingesperrt wurde. Das klingt so verrückt. So beginnt aber nicht ein Thriller, sondern der Dokumentarfilm „JOHATSU – Die sich in Luft auflösen“ (JOHATSU – INTO THIN AIR)  des Regieduos Andreas Hartmann und Arata Mori. Johatsu – 蒸発 –  bedeutet „verdunsten”.  Von den ungefähr 80.000 Menschen, die pro Jahr in Japan vermisst gemeldet werden, tauchen einige absichtlich unter, und zwar mit der Hilfe von sogenannten „Night Moving Companies“, Firmen für „Nachtumzüge“, also Firmen, die das Organisatorische und die Infrastruktur um das Verschwinden liefern – auch Saita hat solch eine Firma. Sie helfen bei der Flucht, verdecken die Spuren, besorgen neue Aufenthaltsorte, einen neuen Job und neue Identitäten. Manche der Flüchtenden wollen sich, wie Herr Oda, aus schwierigen Beziehungen entziehen, manche sind Opfer von Mobbing oder Gewalt, manche sind in kriminelle Machenschaften verwickelt, manche können einfach dem gesellschaftlichen Druck und den Erwartungen nicht mehr standhalten. Diese „Nachtfluchtunternehmen“ entstanden zuerst in den 1990er  Jahren, als die Wirtschaft Japans am Boden lag und viele ihre Schulden nicht mehr zurückzahlen konnten. Sie sind eigentlich legal, aber Manches von dem, was sie tun, fällt in eine Grauzone.

Als nächstes begleiten wir einen Privatdetektiv auf der Suche nach einem 26-jährigen vermissten Mann, Kazuki, der aus einer Firmenwohnung verschwunden ist. „Es ist besser zu sterben, als in Schande zu leben“, erläutert der Detektiv, sei häufig die verzweifelte, pflichtbewusste Einstellung von Menschen, denen bei Arbeit ein Fehler unterlaufen ist. So könnte es auch mit dem jungen Mann gegangen sein, der nun mit Fahndungszetteln in der Nähe seines letzten bekannten Aufenthaltsortes gesucht wird. Aber manche beginnen einfach ein neues Leben an einem anderen Ort. Von einem Arbeitskollegen hat Kazukis Mutter erfahren, dass ihr Sohn verschwunden war, ganz plötzlich, ob er sich bei ihr gemeldet habe. Doch seither ist einige Zeit vergangen. Die Mutter hatte versucht, selbständig nach ihm zu forschen, bei der Bank, beim Mobilfunkanbieter, aber die sind zum Schweigen verpflichtet. Sie ist verzweifelt darüber, dass ihr niemand helfen kann.

Ein weiterer Fall: Ein Mann, der aus einer armen Familie stammt und als Telefonist für die Mafia arbeitete, hatte sich Geld geliehen, das er nicht zurückzahlen konnte. Seine Familie wurde bedroht, er floh, ging nie wieder nach Hause. Heute verdient er ein bisschen Geld, indem er Müll einsammelt. Er ist obdachlos, sucht sich täglich neue Übernachtungsmöglichkeiten und lebt ohne Pläne in den Tag hinein – und er ist süchtig nach Glücksspielen.

Arata Mori und Andreas Hartmann gehen Fällen nach, die zum Teil unglaublich sind und die tief in der japanischen Kultur verwurzelt sind. Es gibt einen Mann, der aus Angst vor Schande seine Frau und seine kleinen Kinder verlässt und diese nie wieder sieht. Menschen, die sich in sonderbare berufliche Abhängigkeiten begeben haben. Menschen, die sich auf lange Zeit in irgendwelchen leeren Zimmern von „Liebeshotels“ verstecken. Der Gang zur Polizei scheint bei all diesen Fällen keine gangbare oder hilfreiche Option gewesen zu sein. Manche leben an ihren neuen Unterkunftsorten beinahe wie in einem Gefängnis und fühlen sich doch freier als in ihrer früheren Abhängigkeit. Bei manchen ist auch das familiäre Umfeld überhaupt nicht hilfreich, eine Frau nennt ihre Eltern „toxisch“.

Andreas Hartmann hat an der Filmhochschule Konrad Wolf Potsdam-Babelsberg und an der Universität der Künste Berlin studiert. Er lebt in Berlin und arbeitet als Filmemacher, Fotograf und Radioproduzent, hat in Neukölln eine Filmproduktionsfirma, Ossa Film. Arata Mori studierte Kunst in London und lebt heute sowohl in Tokyo als auch in Berlin. Seine Regiearbeiten sind vielfältig, vom Dokumentarfilm über den Kunst- bis hin zum Experimentalfilm. Hartmann und Mori ist mit „Johatsu“ ein beeindruckender und berührender Dokumentarfilm gelungen. Der Film blickt tief in eine Kultur voller Scham und überhöhtem Pflichtbewusstsein. Er erzählt von Dingen, die uns unbekannt sind, in die wir sonst keinen Einblick hätten – oft die Voraussetzung für einen gelungenen Dokumentarfilm.  Die beiden Filmemacher haben interessante Figuren entdeckt und begleiten sie eng, decken ihre Verletzungen, ihre Ängste auf. Die Anfangsszene mit der Flucht des Herrn Oda ist atemberaubend und faszinierend, erstaunlich, dass es den Filmemachern gelungen ist, diese Szene einzufangen. „Andreas drehte und ich saß im Auto und kommunizierte mit der Nachtwache und ihrer Assistentin“, erzählt Mori. „Für uns kam es natürlich unerwartet. Wir wollten nicht wissen, was noch passieren würde.“

Im Jahr 2014 lebte Hartmann für eine Künstlerresidenz in Japan, was für ihn der Anfang der Arbeit für seinen Dokumentarfilm „A free man“ war, den er im Jahr 2017 veröffentlichte. „A free man“ erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der sich aus freien Stücken entschloss, obdachlos zu werden. Mit „Johatsu“ führte er gemeinsam mit Arata Mori diese Geschichten am Rande der Gesellschaft fort. Die Protagonist*innen des Films fanden sie im Internet über die Webseiten dieser „Nachtfluchtunternehmen“.

Nach der Premiere auf dem Dokumentarfilmfestival in Thessaloniki wird „Johatsu“ nun beim DOK.fest München und Ende Mai beim Nippon Connection Filmfestival in Frankfurt zu sehen sein.

Filmografie (Auswahl)

Andreas Hartmann
A FREE MAN, DE/JP 2017, 75 Min.
MY BUDDHA IS PUNK, DE 2015, 68 Min.
DAYS OF RAIN, DE/VN 2010, 72 Min.

Arata Mori
A MILLION, DE/JP 2021, 65 Min.
CAMINO NEGRO, UK 2012, 15 Min.

Nominiert für den VIKTOR Main Competition DOK.international

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