(AB)NORMAL DESIRE von Yoshiyuki KISHI beim NIPPON CONNECTION FILMFESTIVAL in Frankfurt

©2021 Asai Ryo/Shinchosha @2023 (Ab)normal Desire Committee

Sasaki wirkt abwesend. Seine Arbeitskollegen laden ihn zum Basketball ein. Aber sie gehen erst gar nicht davon aus, dass er kommen wird, eigentlich war das nur eine Höflichkeitsfloskel. Das gesellschaftliche Leben ist für ihn ein überfordernder Strom an Informationen und Anforderungen. Eigentlich will er nur für sich sein. Und dann bekommt Sasaki einen Anruf von der Polizei: Seine Eltern sind bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.

Natsuki arbeitet in einer Shopping Mall als Verkäuferin. Ihre Kollegin quatscht sie voll mit Beziehungsthemen, Familienplanung etc., wie wichtig das sei, jemanden im Leben zu haben.  Natsuki ist eine alleinstehende junge Frau, sie hat kaum soziale Kontakte, geht alleine Essen und geht alleine wieder nach Hause in ihre kleine Wohnung. Den Äußerlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens kann sie nichts abgewinnen, wenn sie dennoch ständig an ihrem Handy klebt, dann um damit Ruhe zu finden: etwa in ihrer seltsamen Faszination für Youtubevideos von Bächen und strömenden Gewässern.

Yaeko ist eine junge Studentin, die es nicht schafft, ihr Schüchternheit zu überwinden und sich ihren Kommilitonen zu öffnen.

Der 10-jährige Taiki hat einen großen Traum: Wie sein großes Vorbild, eine ebenfalls 10-jährige Youtuberin, möchte er nicht mehr zur Schule gehen. Er möchte vom Leben lernen, von anderen Menschen, von Museumsbesuchen undsoweiter. Sein Vater hat einen wichtigen Job inne, er ist Staatsanwalt, und sieht in den Träumen seines Sohnes natürlich nur Hirngespinste, denn auch er soll eines Tages einen bedeutenden Job einnehmen können, und dazu muss man doch zur Schule. Und zum Geld verdienen. Aber, so Taiki, die Youtuberin verdiene ein Vermögen mit ihrem Kanal. „Normal“ solle er sein, nicht von den für sein Alter üblichen Wegen abkommen. Taikis Mutter sieht das etwas anders: Sie verbringt viel mehr Zeit mit ihrem Sohn und erkennt, dass er auch auf dem Spielplatz und im alltäglichen Leben ganz viele sinnvolle Dinge lernt, auch das soziale Leben. Auch sie arbeitet, aber sie arbeitet sozial relevante Dinge, hat mit Non-Profit-Organisationen zu tun. Und dann kommt der Tag, an dem Taiki einen Freund findet, der dieselbe Idee hat, wie er: ein Leben ohne Schule zu führen. Taiki gelingt es, seine Mutter dazu zu überreden, dass sie auch einen Youtubekanal eröffnen. Und schon haben die beiden 10-jährigen – 32 Abonennten. Verzweifelt versucht Taiki, seinem Vater seine Interessen näher zu bringen, aber der hat keinerlei Verständnis.

(Ab)normal Desire erzählt die Geschichte von Außenseitern, die sich dem „normalen“ Weg, den die japanische Gesellschaft von ihnen erwartet, verweigern. Alle haben ihre eigenen Vorstellungen und Ideen vom Leben, die sie versuchen, gegen die Widerstände in ihrem Umfeld durch- und umzusetzen. Es geht um den gesellschaftlichen Druck, ein soziales Wesen sein zu müssen, die Erwartungen der Gesellschaft erfüllen zu müssen, eine Familie gründen zu müssen, einen großen Freundeskreis haben zu müssen.

Nach WILDERNESS, den der Regisseur Yoshiyuki KISHI, 1964 in der Präfektur Yamagata geboren, vor sechs Jahren beim Nippon Connection Festival präsentiert hatte, zeigt er nun das episodenhafte Gesellschaftsdrama „(Ab)normal Desire“. Kishi blickt auf eine lange Karriere als Dokumentarfilmer, Drehbuchautor und TV-Produzent zurück, sein Spielfilmdebüt hatte er allerdings erst im Jahr 2016 mit den preisgekrönten Film A DOUBLE LIFE. WILDERNESS schließlich wurde mit dem Japan Academy Film Prize, dem Asian Film Award und dem Blue Ribbon Award ausgezeichnet. (AB)NORMAL DESIRE erhielt bereits beim Tokyo International Film Festival 2023 mehrere Preise.

Kishi zeigt zerbrechliche, aber widerständige Figuren, die sich dem gesellschaftlichen Druck, der gesellschaftlichen Norm verweigern. (Ab)normal Desire ist ein beeindruckendes Plädoyer fürs Anderssein, für die Verweigerung der Norm, gegen den Begriff des „normal“ seins. Manche dieser Abweichungen von der Norm sind in der Gesellschaft noch nicht erkannt oder noch nicht anerkannt, Kinder und Erwachsene, deren Gehirne anders funktionieren, als die der „neurotypischen“ Menschen haben es bis heute schwer, Menschen, denen soziale Bindungen schwerfallen, leben mit hoher Wahrscheinlichkeit unglücklich. So wichtig es ist, Benachteiligungen aufgrund der Herkunft, Hautfarbe oder der sexuellen Orientierung von Menschen in die Öffentlichkeit gebracht zu haben, gibt es dennoch „Abweichungen“, die weiterhin nicht erkannt oder akzeptiert werden. Die gesellschaftliche Erwartung der Leistungsfähigkeit von Menschen – wie sie Taikis Vater repräsentiert – ist in unserer Gesellschaft, und wohl erst recht in der japanischen Gesellschaft allgegenwärtig. Und sie sorgt für das Unglück vieler Menschen. „Being a part of society means getting on that bandwagon“, sagt einer der Protagonisten des Films irgendwann. Yoshiyuki Kishi leistet mit diesem Film – und gemeinsam mit seinem großartigen Cast – einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Akzeptanz „untypischer“ Menschen.

Allerdings: Problematisch, unnötig und nicht hilfreich ist die Wendung, die der Film dann am Schluss nimmt…

https://db.nipponconnection.com/de/event/1608/abnormal-desire

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