Eine Graphic Novel über die Geschichte der Raumfahrt. Hurra! Sofort stellen sich mir Fragen: Wird die Vorgeschichte der Raumfahrt ausreichend bedacht? Wird zum Beispiel Hermann Oberth vorkommen? Wird sich das Buch vor allem auf den Wettlauf zwischen der USA und der UdSSR konzentrieren? Wird es ausreichend um unbemannte Raumfahrt gehen? Und vor allem: Wird es genügend überraschende Geschichten geben, die auch den Nerds genügend Futter geben?

Als Siebenjähriger habe ich angefangen, alle Zeitungsausschnitte, die mit Raumfahrt zu tun hatten auszuschneiden und in einem Ordner aufzukleben. Voyager, Skylab, Space Shuttle, Ariane, Hubble, ISS undundund. Ich kann mich an den Absturz von Skylab erinnern, an den ersten Start eines Space Shuttles, an die Tragödien der Challenger und der Columbia, an den ersten westdeutschen Astronauten Ulf Merbold.
Arnaud Delalande und Éric Lambert haben nun diese Graphic Novel über die Geschichte der Raumfahrt geschrieben, bzw. gezeichnet, Delalande ist für die Story verantwortlich, Lambert für die Zeichnungen. Delalande stammt aus Herblay, einer Kleinstadt nordwestlich von Paris, hat neben einigen historischen Romanen, etwa Das Vermächtnis von Mont Saint Michel oder Die Dante-Verschwörung bereits mehrere Graphic Novels verfasst, zum Beispiel Der Fall Alan Turing, Der Tiger der sieben Meer oder Der König der Korsaren. Éric Lambert stammt aus Paris und hat bis heute ungefähr 30 Comics gezeichnet, unter anderem Merlin, Le Dernier Cathare und Flor de Luna.

Aufbruch ins Weltall beginnt ganz am Anfang, vor 13,77 Milliarden, mit dem Ursprung von allem, dem Urknall. Die Sterne, Planeten, Galaxien bilden sich, schließlich auch das Leben auf der Erde. Delalande holt erfreulich weit aus mit seiner Weltraumstory. „Ich heiße Vic 766“, beginnt die Geschichte mit einem narrativen Rahmen, einer fiktionalen Klammer. „Künstliche Intelligenz der Klasse 07-B. Ich freue mich, euch auf der langen Reise, die vor uns liegt, begleiten zu dürfen. Macht es euch bequem und hört aufmerksam zu, wenn ich euch nun eine unglaublich komplexe Entwicklungsgeschichte erzähle.“ Und wir folgen Delalandes rasant erzählter Geschichte und Lamberts schwarzweißen Illustrationen, die bisweilen mit Fotografien verknüpft sind, vom Sternenhimmel, von Stonehenge, von Satellitenaufnahmen von der Erde. Wir wandern durch die Höhlen von Lascaux, durch die Geschichte der Erforschung des Himmels, durch die Zeit der Babylonier, lernen über die mesopotamische Astronomie und die Grundlagen des heliozentrischen Weltbildes. Kleiner Zwischenschritt zur Bibel, in der man „Ausführungen über die Position der Erde innerhalb des Universums, und auch über das Wesen der Sterne und der Planeten“ finde. Ach ja, bei Wikipedia steht, Delalandes Romane hätten „einen historischen, meist religiösen Hintergrund“. Ich weiß nicht, ob diese Wikipedia-Bemerkung nicht etwas in die Irre führt.
Jedenfalls nach diesem Parforceritt durch die Wissenschaftsgeschichte der Weltraumerforschung landen wir auf Seite 17 endlich im 20. Jahrhundert, bei Einstein, Georges Méliès, Jules Verne und Fritz Lang – und damit geht Delalande auf die Verbindung von Raumfahrt und Science-Fiction ein, in dieser frühen Phase ja in der Tat nicht unwichtig (später gibt es auch noch einen großartigen Tim und Struppi-Bezug). Und dann springt das Buch nach Usedom, Peenemünde, A4/V2 und zu Wernher von Braun – und da spricht jetzt der Nerd aus mir: Da hätte doch locker noch eine Seite mit der Vorgeschichte hineingepasst. Hermann Oberth kommt in der Tat nicht vor; da wären vielleicht die größten Möglichkeiten gewesen, Überraschendes auszugraben, den Verein für Raumschiffahrt, oder Max Valier vielleicht. Wäre mir lieber gewesen, als fünf Seiten Entstehung der Weltalls bis Entstehung des Lebens, zumal ja auch der Zusammenhang zwischen der Astronomiegeschichte und der Raumfahrtgeschichte gar nicht so richtig ausgespielt wird. Aber egal!

Die V2-Story finde ich richtig gut, da spielen Delalande und Lambert das Narrative und das Visuelle der Graphic Novel großartig aus. Das ist auch eine Teilgeschichte der Raumfahrt, die noch nicht allzu häufig erzählt wurde. Und: Das ist auch eine Story, die im Spielfilm erstaunlich wenig ausgespielt worden ist, warum eigentlich nicht? Es gibt „Der Raketenmann“ von Stefan Brauburger aus dem Jahr 2009, ein ZDF-Fernsehfilm, habe ich aber nie gesehen, mehr habe ich auf Anhieb nicht gefunden.
Der Wettlauf zwischen den USA und der UdSSR im Kalten Krieg ist wirklich erfreulich spannend und klischeefrei erzählt: „Dieses Biepen wird uns wahnsinnig machen … Zum Teufel noch Mal! Wie konnten wir nur zulassen, dass uns die Russen zuvorkommen!“ Und jetzt punktet das Buch so richtig bei mir: Es gibt einen, wenn auch nur ein Bild langen, Ausflug in jenen Teil der Raumfahrtgeschichte, der nicht die USA und nicht sie UdSSR betrifft, in dem Fall geht es um Frankreich, die Véronique-Rakete, die Katze Félicette und die Startrampe von Hammaguir in Algerien – auch weiter hinten im Buch gibt es noch einmal einen kurzen Ausflug in die französische Raumfahrtgeschichte. Das ist wohl den französischen Autoren geschuldet, aber es ist in jedem Fall sehr erfreulich, hätte gerne noch etwas ausführlicher sein dürfen (siehe übrigens das beste Buch über die Geschichte der Raumfahrt: Eugen Reichl und Dietmar Röttler: Raketen. Die internationale Enzyklopädie, aus dem Motorbuch Verlag).
Sputnik, Laika, die Gründung der NASA, das Auswahlprogramm der NASA-Astronauten, dann Yuri Gagarin, Alan Shepard. Das ist frisch und flott erzählt, sehr spannend, mit ein paar schönen Details (Alan Shepard muss pinkeln) – am schönsten eigentlich immer dann, wenn Delalande ins Erzählen kommt und die Storyteile ausarbeitet – und Lambert seine visuellen Ideen einbringen kann. Es folgen die Jahre ab 1961, dramatische, spannend auserzählte Stories auf beiden Seiten, USA und UdSSR, eine dramatischer als die andere. Und nach einem weiteren Ausflug ins Genre des Science Fiction-Films, insbesondere zu „2001: Odysee im Weltraum“ sind wir dann – ungefähr in der Mitte des Buches – bei Apollo 11 angelangt, was spannend und sehr ausführlich geschildert wird, mit nicht allzu vielen erzählerischen Überraschungen.
Aber machen wir auch hier einen großen Sprung – innerhalb dieser Buchbesprechung und landen wir bei der Gründung der esa Mitte der Siebziger Jahre. Interessant ist, dass ich von der frühen esa-Geschichte fast nichts weiß, insofern ist das wirklich spannend, aber interessant ist auch, dass es Delalande hier nicht so richtig gelingt, die Story zu personalisieren, einfach weil es keine herausragenden Protagonisten der esa gab. In Verbindung mit der europäischen Weltraumfahrt erzählt das Buch dann auch einiges über die unbemannte Weltraumfahrt – wie ich finde aber viel zu kurz, Voyager 1 bekommt ein Bild, die Marsrovermissionen werden in ein, zwei Bilder knapp zusammengefasst, das ist viel zu wenig über die umbenannten Missionen, zumal es da ja auch wirklich Spektakuläres zu berichten gibt.
Spektakuläres über die bemannte Raumfahrt zu berichten gibt es dann natürlich wiederum im Abschnitt über die Space Shuttle-Missionen – und zwar einerseits über die großen Erfolge (Hubble, ISS) und andererseits die beiden großen Shuttle-Tragödien. Interessant ist, dass es dann noch ein paar Seiten über die deutschen Astronauten gibt, eine Anpassung an die deutsche Leserschaft, auf die man schlecht verzichten konnte, einen Eindruck ergeben die Bilder in dieser Besprechung. Nach einem knappen Überblick über die gegenwärtigen Entwicklungen der Raumfahrt gibt es noch einen kurzen, wagemutigen Blick in die Zukunft.

Der Knesebeck-Verlag setzt mit „Aufbruch ins All“ seine Reihe hochwertiger Graphic Novels fort, zu denen schon Werke wie „Der große Gatsby“ von Pete Katz, „Die Verwandlung“ nach Franz Kafka, „1984“ von Jean-Christophe Derrien und Rémi Torregrossa, „Kant“ von Jörg Hülsmann, „Verwandelt“ von Alexander Pavlenko und Thomas Dahms sowie „Sophie Scholl“ von Heiner Lünstedt und Ingrid Sabisch gehörten. Nochmal ein Blick auf die Fragen, die ich mir am Anfang gestellt habe: Naja, ein paar Dinge hätte ich mir schon mit anderen Schwerpunkten gewünscht, mehr Erzählungen über die unbemannte Raumfahrt, mehr über die Vorgeschichte, dennoch: Arnaud Delalande und Éric Lambert gelingt ein spektakuläres, beeindruckendes Graphic Novel-Werk über die vielen Dekaden der Weltraumforschung. Mein Sohn, bald 10, der die Leidenschaft für Raumfahrt von mir übernommen hat, hat auch schon einige Blicke in das Buch unternommen. Vielleicht ist es ja für ihn noch spannender als für mich, auch wenn ich ihm, glaube ich, noch viel über die Hintergründe des Kalten Kriegs etc. erläutern muss. Jedenfalls: Es ist ein fabelhaftes Buch voller Geschichten und Erzählungen aus der Geschichte der Erforschung des Alls, ein Buch, das sowohl mein Sohn als auch ich noch oft wieder in die Hand nehmen werden.
https://www.knesebeck-verlag.de/aufbruch_ins_weltall/t-1/1324

Arnaud Delalande, Éric Lambert: Aufbruch ins Weltall. Eine kurze Geschichte der Raumfahrt
20.5 x 28.5 cm, gebunden, 192 Seiten
28€
Übersetzt von: Anja Kootz
ISBN 978-3-95728-879-0